THERAPIEEMPFEHLUNGEN DER ARZNEIMITTELKOMMISSION DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT 1. AUFLAGE 2002 ARZNEIMITTELKOMMISSION DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT



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Transkript:

Arzneiverordnung in der Praxis THERAPIEEMPFEHLUNGEN DER ARZNEIMITTELKOMMISSION DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT 1. AUFLAGE 2002 ARZNEIMITTELKOMMISSION DER DEUTSCHEN ÄRZTESCHAFT

Evidenz in der Medizin Die Wirksamkeit eines Arzneimittels bzw. einer therapeutischen Maßnahme kann nur dann als nachgewiesen gelten, wenn hierzu Belege, d. h. eine ausreichende»evidenz«, aus validen klinischen Prüfungen vorliegen. In der Wertigkeit haben Nachweise zum Erreichen bedeutender therapeutischer Ziele wie Reduktion von Morbidität und Letalität Vorrang vor Nachweisen der Beeinflussung von Surrogatparametern wie z. B. Senkung von LDL-Cholesterin oder Blutdruck. Der Wirksamkeitsnachweis sollte wichtigste Grundlage für eine therapeutische Entscheidung sein. Die Therapieempfehlungen versuchen daher, insbesondere mit den»kategorien zur Evidenz«transparent zu machen, für welchen Wirkstoff und für welche Indikation eine Wirksamkeit belegt ist. Ergebnisse biometrischer Untersuchungen können aber nur eine Grundlage der ärztlichen Therapieentscheidung sein, bei der eine Vielzahl individueller Gegebenheiten des einzelnen Patienten berücksichtigt werden muss. Hinzu kommt, dass es nicht für alle therapeutischen Maßnahmen Belege zur Wirksamkeit gibt bzw. geben kann. Auch für diese Situation finden sich in den Therapieempfehlungen Hinweise. Letztlich ist der Arzt hier gefordert, auf der Basis bislang vorliegender Kenntnisse und Erfahrungen das für den Patienten Richtige zu tun. Kategorien zur Evidenz Aussage (z. B. zur Wirksamkeit) wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z. B. randomisierte klinische Studie) bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanalysen oder systematische Reviews. Positive Aussage gut belegt. Aussage (z. B. zur Wirksamkeit) wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (z. B. randomisierte klinische Studie). Positive Aussage belegt. Negative Aussage (z. B. zur Wirksamkeit) wird gestützt durch eine oder mehrere adäquate, valide klinische Studien (z. B. randomisierte klinische Studie), durch eine oder mehrere Metaanalysen bzw. systematische Reviews. Negative Aussage gut belegt. Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder schädigende Wirkung belegen. Dies kann begründet sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer, aber widersprüchlicher Studienergebnisse.

INHALT Empfehlungen zur Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 Inhaltlich abgestimmt mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) AVP-Sonderheft Therapieempfehlungen, 1. Auflage, Oktober 2002 VORWORT.................................. 4 GRUNDLAGEN............................... 5 Vorbemerkungen zur Pathologie und Pathophysiologie............. 5 Definition und Klassifikation................................. 6 Diagnostik.............................................. 6 THERAPIE................................... 9 Indikationsstellung zur Therapie.............................. 9 Therapieziel............................................. 9 Nichtmedikamentöse Therapie.............................. 10 Pharmakotherapie....................................... 12 Hinweise zu einzelnen Wirkstoffen/Wirkstoffgruppen.............. 14 LITERATUR................................. 23 ANHANG.................................. 28 Kurzgefasster Leitlinien-Report zur Methodik................... 28

VORWORT 4 Mit mehr als 5 Millionen Diabetikern, davon etwa 90 % mit einem Diabetes mellitus Typ 2, stellt diese Erkrankung eine bedeutende gesundheitspolitische, aber insbesondere hinsichtlich Prävention und Behandlung von Folgeerkrankungen auch eine große individualmedizinische Herausforderung dar. Zur Behandlung des Diabetes mellitus existiert eine kaum noch überschaubare Fülle an Studien mit verschiedenstem methodischem Niveau, Metaanalysen, Literaturübersichten und therapeutischen Empfehlungen. Die vorliegende»therapieempfehlung«nach Nr. 14 der Arzneimittel-Richtlinien versucht daher, wie alle Leitlinien der Arzneimittelkommission, auf der Grundlage der Prüfung insbesondere der Primärliteratur Transparenz zu Wirksamkeit, aber auch Sicherheit der einzelnen Therapieansätze zu schaffen. Nach Auffassung der Arzneimittelkommission sind derartige Daten aus validen klinischen Studien an erster Stelle in therapeutische Entscheidungen einzubeziehen, auch wenn sie aufgrund der bekannten Limitierungen solcher Studien und der gebotenen Beachtung des Individualfalles keinesfalls die alleinige Grundlage für ärztliches Handeln darstellen können. Die vorliegende Therapieempfehlung konzentriert sich dabei auf die Behandlung mit Antidiabetika, während bezüglich der gleichrangig wichtigen Prinzipien zu Prävention oder Therapie von Folgeerkrankungen bzw. Komplikationen auf andere Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission oder anderer Gesellschaften verwiesen sei (1, 2, 3, 4). Diese Therapieempfehlungen repräsentieren den Konsens der jeweiligen Fachmitglieder, der allgemeinmedizinischen Kommissionsmitglieder und des Vorstandes der Arzneimittelkommission und stellen auch eine wesentliche Grundlage für die Erarbeitung der Nationalen Versorgungs-Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 dar (5). Prof. Dr. med. R. Lasek Prof. Dr. med. B. Müller-Oerlinghausen (Vorsitzender) Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 1. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Therapie der arteriellen Hypertonie. Arzneiverordnung in der Praxis 1998 (1. Auflage). Sonderheft. Neue Auflage in Vorbereitung. 2. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Therapie der Fettstoffwechselstörungen. Arzneiverordnung in der Praxis 1999 (2. Auflage). Sonderheft. Neue Auflage in Vorbereitung. 3. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Primär- und Sekundärprävention des ischämischen Insults. Arzneiverordnung in der Praxis 1999. Sonderheft. 4. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Empfehlungen zur Therapie von Tabakabhängigkeit. Arzneiverordnung in der Praxis 2001. Sonderheft. 5. Nationales Programm für Versorgungs-Leitlinien bei der Bundesärztekammer. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin e. V., Fachgesellschaft Diabetes Sachsen (Hrsg.): Nationale Versorgungs-Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2. Kurzfassung. Z Ärztl Fortbild Qualitätssich 2002; 96 (Suppl. II). Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

GRUNDLAGEN Vorbemerkungen zur Pathologie und Pathophysiologie Unter dem Begriff Diabetes mellitus werden chronische Stoffwechselerkrankungen mit dem Leitsymptom Hyperglykämie zusammengefasst. Ursachen sind unzureichende Insulinsekretion, unzureichende Insulinwirksamkeit (Insulinresistenz) oder beide Störungen gemeinsam. Außer dem Glucosestoffwechsel sind auch der Protein-, Lipid- und Elektrolytstoffwechsel und in deren Folge zahlreiche Körperfunktionen betroffen. Dem Diabetes mellitus Typ 2 liegt eine Insulinresistenz in Verbindung mit einer gestörten Insulinsekretion zugrunde. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass bei Krankheitsbeginn die Insulinsekretion nach einem Sekretionsreiz in der Frühphase verspätet und unzureichend eintritt, während der Insulinspiegel des Blutes basal und in der Spätphase normal oder sogar erhöht sein kann (Hyperinsulinämie). Erst im weiteren Krankheitsverlauf kann die Insulinsekretion auch in der Spätphase und basal zum Erliegen kommen. Der Diabetes mellitus Typ 2 beruht nach heutiger Erkenntnis auf einer genetisch bedingten Krankheitsbereitschaft. Zur Entwicklung des klinischen Krankheitsbildes kommt es unter dem Einfluss sog. Manifestations- oder Risikofaktoren, die häufig in Form des metabolischen Syndroms vorliegen (Tabelle 1). Wichtigster Einzelfaktor ist die Adipositas, besonders wenn eine viszerale Fettverteilung vorliegt. Adipositas, Bewegungsarmut und Dyslipoproteinämie führen zur Insulinresistenz. Dadurch kann die primär genetische Insulinresistenz so verstärkt werden, dass bei prädisponierten Personen die Kompensationsfähigkeit der Insulinsekretion überfordert ist. Die essenzielle Hypertonie ist gleichfalls mit Insulinresistenz assoziiert. Sie ist ein Prädiktor des Diabetes mellitus Typ 2, aber kein Manifestationsfaktor. Der Diabetes mellitus Typ 2 beginnt in aller Regel symptomarm. Aufgrund epidemiologischer Studien kann man extrapolieren, dass die Erkrankung in Tabelle 1: Manifestationsfördernde Faktoren des Diabetes mellitus Typ 2 Höheres Lebensalter Metabolisches Syndrom (Hauptsymptome: Stammfettsucht, Insulinresistenz, Hyperinsulinämie, gestörte Glucosetoleranz, Dyslipoproteinämie, Albuminurie *, Hypertonie) Körperliche Inaktivität * Merkmal nur in Definition der WHO 1 Tabelle 2: Altersbezogener durchschnittlicher Verlust an Lebensjahren bei Diabetes mellitus Typ 2. Nach Panzram 1991 2 [1) Marks 1971 3, 2) Goodkin 1975 4, 3) Panzram 1981 5, 4) Wolter 1986 6, 5) Schneider 1991 7 ] Lebensalter der Regel mindestens 6-8 Jahre vor Stellung der klinischen Diagnose manifest geworden war. Der Manifestationsgipfel (max. Inzidenz) liegt vor dem 60. Lebensjahr, die höchste Prävalenz bei 65-70 Jahren. Durch erfolgreiche Behandlung der Manifestationsfaktoren und des damit assoziierten metabolischen Syndroms, besonders durch Umstellung der Ernährung, vermehrte körperliche Aktivität und Reduktion des Körpergewichts, wird die Diabetestherapie erleichtert. Oft gelingt es in den Anfangsstadien, die Erkrankung in die Latenz zurückzudrängen. Das metabolische Syndrom ist wesentlich für das bei Diabetes mellitus Typ 2 besonders hohe kardiovaskuläre bzw. Makroangiopathierisiko verantwortlich. Typ-2-Diabetiker sind aber ebenso wie Typ-1-Diabetiker auch dem Risiko von Mikroangiopathie und Neuropathie ausgesetzt. Die häufig Tabelle 3: Ätiologische Klassifizierung des Diabetes mellitus nach ADA Expert Committee 1998 8 Typ-1-Diabetes mellitus (B-Zellzerstörung, die gewöhnlich zum absoluten Insulinmangel führt) a) immunologisch bedingt b) idiopathisch Typ-2-Diabetes mellitus (kann von vorherrschender Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel bis zu vorherrschender Insulinsekretionsstörung mit Insulinresistenz reichen) Andere spezifische Typen des Diabetes mellitus a) genetische Störungen der ß-Zellfunktion b) genetische Störungen der Insulinwirkung c) Krankheiten des exokrinen Pankreas d) Endokrinopathien e) medikamentös oder chemisch induziert f) infektiös g) seltene Formen des immunologisch bedingten Diabetes mellitus h) andere genetische, manchmal mit Diabetes mellitus assoziierte Syndrome Gestationsdiabetes Verlorene Lebensjahre 1) 2) 3) 4) 5) 40-49 8 10 7-8 6-12 16 50-59 6 6 5-6 4-9 10 60-69 4 5 4 2-6 4 70 - - 3-1,5-3 5 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

GRUNDLAGEN 6 vorbestehende Hypertonie begünstigt die Entwicklung der Mikroangiopathie, besonders in der Niere. Altersbedingt verläuft die Retinopathie bei Typ-2- Patienten häufiger unter dem Bild einer Makulopathie als unter dem Bild einer proliferativen Retinopathie. Die Neuropathie tritt besonders früh und häufig auf. Aufgrund der Morbidität an Vorläufer- und Folgeerkrankungen wird die Lebenserwartung deutlich eingeschränkt (Tabelle 2). Definition und Klassifikation Nach einem Vorschlag der amerikanischen Diabetesgesellschaft und der WHO wird die frühere Klassifizierung des Diabetes mellitus (Definition siehe»vorbemerkungen zur Pathologie und Pathophysiologie«), die sich an klinischen und therapeutischen Merkmalen orientierte, durch eine ausschließlich ätiologisch begründete Klassifizierung ersetzt. Unterschieden werden der Typ-1- Diabetes mellitus (ursprünglich IDDM, insulinabhängiger Diabetes mellitus), der Typ-2-Diabetes mellitus (früher NIDDM, nicht-insulinabhängiger Diabetes mellitus), eine größere Gruppe seltener anderer spezifischer Diabetestypen und der Gestationsdiabetes (Tabelle 3). Man rechnet in Deutschland mit mehr als 5 Mio. Diabetikern, einschließlich der nicht diagnostizierten Personen 7-8 % der Erwachsenenbevölkerung 9, davon etwa 5-8 % mit Typ-1- und etwa 90 % mit Typ-2-Diabetes mellitus. Diese häufigen Diabetestypen unterscheiden sich nicht nur ätiologisch, sondern auch durch ihr klinisches Bild (Tabelle 4). Beim Typ-2-Diabetes mellitus hat sich die zusätzliche Unterscheidung in Patienten mit und ohne Adipositas klinisch bewährt. Diagnostik Die Diagnostik soll 1. das Vorliegen einer Störung des Glucosestoffwechsels abklären und 2. ggf. deren ätiologische Klassifizierung ermöglichen sowie 3. Begleit- und Folgekrankheiten und deren Risikofaktoren erkennen. Zu 1: Diagnostik der Glucosestoffwechselstörung In Anlehnung an die Kriterien der ADA 8 kann ein Diabetes nach der European Policy Group 1999 10 und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) 11 durch drei Kriterien festgestellt werden (Abbildung 1, Tabelle 5). Wenn kein Notfall vorliegt, der sofortiges therapeutisches Handeln erfordert, soll die Diagnose erst gestellt werden, wenn pathologische Befunde an einem Folgetag bestätigt wurden. Es gibt eine Gruppe von Personen, deren Blutzucker zwar nicht die Kriterien eines Diabetes erfüllt, jedoch über dem eindeutig normalen Bereich liegt. Es sind dies: 1. Personen mit pathologischer Glucosetoleranz (Impaired Glucose Tolerance, IGT), die definiert ist als 2-Stunden-Blutplasmaglucose > 140 mg/dl und < 200 mg/dl, sowie 2. Personen mit pathologischer Nüchternglucose (Impaired Fasting Glucose, IFG). Diese ist definiert als Blutplasmaglucose > 110 mg/dl und < 126 mg/dl. Bei diesen Gruppen handelt es sich um Hochrisikopersonen für Diabetes und Makroangiopathie, die sorgfältig beobachtet und denen Maßnahmen zur Beseitigung der manifestationsfördernden Faktoren (Tabelle 1) angeboten werden sollen. Tabelle 4: Merkmale des Typ-1- und Typ-2-Diabetes Merkmal Typ 1 Typ 2 Erblichkeit gering stark Gene HLA assoziiert nicht bekannt Pathogenetische Hauptprinzipien Insulitis mit Insulinmangel Insulinresistenz, gestörte Insulinsekretion Immunphänomene in der Regel vorhanden fehlen Metabolisches Syndrom in der Regel fehlend in der Mehrzahl vorliegend Manifestationsalter etwa zur Hälfte Kinder und mittleres und höheres Erwachsenenalter, Jugendliche in zunehmendem Maße auch bei Kindern und Jugendlichen Sonderform: MODY = maturity-onset diabetes of the young Klinische Manifestation meist innerhalb Tagen bis Wochen schleichend über Jahre Stoffwechsel oft labil, zur Ketose neigend meist stabil mit Dyslipoproteinämie, Ketoseneigung gering Komplikationen akute therapiebedingte Hypoglykämien, selten Ketose, hyperosmolares und diabetisches Koma diabetisches Koma, therapiebedingte Hypoglykämien chronische Mikroangiopathie, Makroangiopathie, Neuropathie, Neuropathie, Makroangiopathie Mikroangiopathie Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

GRUNDLAGEN Abbildung 1: Diagnosealgorithmus für den Diabetes mellitus Typ 2 (IGT = Impaired Glucose Tolerance, IFG = Impaired Fasting Glucose, zur Umrechnung zwischen Blutglucose und Plasmaglucose siehe Tabelle 5) Symptome des Diabetes mellitus vorhanden (Polyurie, Polydipsie, ansonsten unerklärlicher Gewichtsverlust) Nüchtern-Vollblutglucose 6,1 mmol/l ( 110 mg/dl) Nicht-Nüchtern-Vollblutglucose (kapillär) 11,1 mmol/l ( 200 mg/dl) Keine Symptome des Diabetes mellitus vorhanden Nüchtern-Vollblutglucose 6,1 mmol/l ( 110 mg/dl) bei Messung an zwei verschiedenen Tagen Diabetes mellitus oder Nicht-Nüchtern-Vollblutglucose (kapillär) 11,1 mmol/l ( 200 mg/dl) bei Messung an zwei verschiedenen Tagen oder 7 ogtt: Blutglucose (kapillär) 2 Std. nach oraler Belastung mit 75 g Glucose 11,1 mmol/l ( 200 mg/dl) 11,1 mmol/l ( 200 mg/dl) und 7,8 mmol/l ( 140 mg/dl) IGT oder Nüchtern-Vollblutglucose 6,1 mmol/l ( 110 mg/dl) und 7 mmol/l ( 126 mg/dl) IFG Da der Typ-2-Diabetes mellitus häufig jahrelang unentdeckt bleibt, kommt dem Screening auf Diabetes mellitus eine große Bedeutung zu. Die orientierende Bestimmung der Blutglucose ist bei allen Risikopatienten zu empfehlen. Die HbA 1c -Bestimmung ist zur Diagnostik des Diabetes mellitus nicht geeignet. Die Insulin- oder C-Peptidbestimmung ist hierbei überflüssig. Zu 2: Ätiologische Klassifizierung Im ärztlichen Alltag kann man sich an folgende Regeln halten: Der Typ-1-Diabetes kann meist aufgrund der Klinik (klassische Symptome, rascher Manifestationsverlauf, kein metabolisches Syndrom, meist negative Familienanamnese) und aufgrund von Laborbefunden, z. B. Immunmarker wie Inselzellantikörper (ICA), und/oder Glutamatdecarboxylase-Antikörper (GADA) identifiziert werden. Die Bestimmung dieser Immunmarker ist den Fällen vorbehalten, in denen die Klassifikation schwierig, aber wichtig ist. Die Diagnose des Typ-2-Diabetes ist dagegen eine Ausschlussdiagnose (kein Typ-1-Diabetes mellitus, kein anderer spezifischer Diabetes mellitus, kein Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

GRUNDLAGEN Gestationsdiabetes). Sie wird gestützt durch eine positive Familienanamnese und das klinische Bild (metabolisches Syndrom, schleichend verlaufende, symptomarme Manifestation ohne Ketose). Fehlen Zeichen des metabolischen Syndroms, im Besonderen eine Adipositas (Befund oder anamnestische Angabe), so ist differenzialdiagnostisch an einen sich verzögernd manifestierenden Typ-1-Diabetes mellitus (Latenter Autoimmundiabetes im Erwachsenenalter = LADA) zu denken, der laborchemisch durch das Vorliegen von Immunmarkern verifiziert werden kann. Diese Antikörper sind bei 3-14 % der frisch diagnostizierten Diabetiker mit der Verdachtsdiagnose Typ 2 nachweisbar. In diesen Fällen muss die Diagnose korrigiert werden, weil ein Typ-1- Diabetes mellitus vorliegt, auch wenn klinisch die Insulinabhängigkeit noch nicht offensichtlich ist. Tritt ein Diabetes mellitus unter dem Bild eines Typ-2-Diabetes mellitus in jungen Jahren auf, was bisher selten der Fall ist, aber zunehmend häufiger vorkommt, so ist besonders bei familiärem Vorkommen ähnlicher Diabeteserkrankungen auch an einen MODY (maturity onset diabetes of the young) zu denken, bei dem Subgruppen bekannt sind, die durch den Nachweis charakteristischer Gendefekte identifiziert werden können. Zu 3: Begleit- und Folgeerkrankungen Der Typ-2-Diabetes mellitus ist mit Begleit- und Folgeerkrankungen besonders belastet. Das liegt am meist fortgeschrittenen Lebensalter der Patienten, der häufig sehr späten Diagnosestellung (d. h. einer langen prädiagnostischen Krankheitsphase), häufig ungenügender Stoffwechseleinstellung, ungesunder Lebensweise und vor allem der Assoziation mit dem metabolischen Syndrom. Das metabolische Syndrom bündelt gemeinsam mit Rauchen und Stress die wichtigsten Risikofaktoren der Arteriosklerose. Da sich Risikofaktoren potenzieren, ist deren Wirksamkeit bei Diabetes mellitus deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Ihre Diagnostik gehört daher zum Basisprogramm bei Verdacht auf Typ-2- Diabetes mellitus (Tabelle 6). Tabelle 5: Labordiagnostische Äquivalente für Plasma und Blut nach der European Diabetes Policy Group (1999) 10 IGT = Impaired Glucose Tolerance, IFG = Impaired Fasting Glucose 8 Plasmaglucose* Vollblutglucose Venös* Kapillar Venös Kapillar mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl Nüchtern»Diabetes«7,0 > 125 7,0 > 125 > 6,0 110 > 6,0 110»IFG«> 6,0 110 > 6,0 110 > 5,5 100 > 5,5 100 ogtt 2-h»Diabetes«> 11,0 200 12,2 220 10,0 180 > 11,0 200»IGT«7,8 140 8,9 160 6,7 120 7,8 140 * bevorzugte Messung ogtt (oraler Glucose-Toleranz-Test): 75 g Glucose in 300 ml Wasser über 3-5 Minuten Tabelle 6: Basisdiagnostik bei Verdacht auf Typ-2-Diabetes mellitus Anamnese: Übergewicht, hoher Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Durst, häufiges Wasserlassen, ungewollte Gewichtsabnahme, Entzündungen der Haut, Müdigkeit, Schwäche, körperliche Aktivität, Rauchen, Depression, Merk- und Konzentrationsfähigkeit, Geburt von Kindern > 4500g Familienanamnese: Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, frühe Sterblichkeit, Amputation Körperliche Untersuchung: Besonders Größe, Gewicht (BMI), Taillen-/Hüftumfang, kardiovaskuläres System, Blutdruck, periphere Arterien, peripheres Nervensystem, Haut Laborwerte: Blutglucose- sowie Urinbefund (Ketonkörper, Mikroalbuminurie), Nierenwerte, Elektrolyte, Triglyceride, Gesamt-, LDL- und HDL- Cholesterin Technische Untersuchungen: Belastungs-EKG Ultraschall-Doppler Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE Indikationsstellung zur Therapie Mit wenigen Ausnahmen ist jeder Diabetes mellitus therapiebedürftig. Der symptomatische Diabetes mellitus ist stets therapiebedürftig. Therapieziel Reduktion des kardiovaskulären Risikos Beseitigung der Übersterblichkeit Verhinderung der akuten und chronischen Komplikationen Behandlung und Besserung von Begleitkrankheiten Beseitigung einer sozialen Diskriminierung postprandialen Hyperglykämie auf die Häufigkeit diabetischer Komplikationen nachweisen konnten 49. Ein wichtiger Risikofaktor der Mikroangiopathie ist erhöhter Blutdruck 50, 51, 52. Es bestehen direkte, signifikante Beziehungen zwischen der Höhe des Blutdrucks und der Inzidenz und Progression von Nephropathie 52, 53 und Retinopathie 51, 52, 54. Die Therapieziele sollen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes individualisiert werden. Sie hängen u. a. ab von der Morbidität, Alter und Lebenserwartung, eingeschränkter Lebensqualität und sozialer Diskriminierung (z. B. Probleme auf dem Arbeitsmarkt, Berufseinschränkungen, erhöhte Lebensversicherungsprämien) der Diabetiker. Die Übersterblichkeit bedingt im Mittel einen Verlust von etwa 1/3 der normalen Lebenserwartung (Tabelle 2). Ursächlich dafür sind bei Typ-2-Diabetes vor allem die chronischen Komplikationen in Form der Makroangiopathie, der Neuropathie und der Mikroangiopathie verantwortlich, während akute Komplikationen (hyperglykämisches Koma und therapiebedingte Hypoglykämien) eine untergeordnete Rolle spielen 12, 13, 14, 15, 16. Die Kenntnis dieser Ursachen (s. u.) ist wichtig für das Therapiekonzept. Ebenso wichtig wie die Behandlung des Kohlenhydratstoffwechsels ist die Therapie der vaskulären Risikofaktoren (metabolisches Syndrom mit Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, Adipositas). Siehe hierzu die entsprechenden Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 17, 18, 19, 20. Viele Menschen mit Diabetes leiden unter der Einschränkung ihrer Lebensqualität. Diese kann u. a. durch körperliche Beschwerden, die psychische Belastung durch die Therapie und Therapieüberwachung und durch das Bewusstsein des Morbiditäts- und Letalitätsrisikos sowie durch soziale Diskriminierung bedingt sein 21. Die Ziele der Therapie des Typ-2- Diabetes mellitus bestehen deshalb in: Beseitigung von Symptomen Verbesserung der Lebensqualität Verbesserung der Stoffwechseleinstellung (Tabelle 7) Prävention der Mikroangiopathie Aus Studien an Typ-1-Diabetikern ist bekannt, dass es durch normnahe Einstellung des Glucosestoffwechsels gelingt, das Auftreten von Mikroangiopathie (Nephropathie und Retinopathie) und Neuropathie (sensomotorische periphere Polyneuropathie, autonome Neuropathie) zu verringern (Primärprävention) oder deren Progression zu verzögern (Sekundärprävention) 22, 23. Da die Pathomechanismen bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes mellitus vermutlich gleich sind und dieser Zusammenhang erwartungsgemäß auch bei Typ-2-Diabetes bestätigt werden konnte 24, 25, 26, 27, scheint es erlaubt zu sein, aus Studien an Typ-1-Patienten auch Rückschlüsse für Typ-2-Diabetes mellitus zu ziehen. Ein Schwellenwert des HbA 1c für das Auftreten eines Risikos konnte nicht 22, 23, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, beobachtet werden 34, 35, 36, 37, 38, 39. Eine Senkung des HbA 1c um 10 % bewirkte in der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) unabhängig von der Art der Therapie eine Senkung des mikrovaskulären Risikos um etwa 25 %. Das niedrigste Mikroangiopathierisiko ist bei HbA 1c < 6 % zu erwarten 26. Neben der globalen Einstellungsqualität wird von verschiedenen Autoren auch die postprandiale Hyperglykämie als unabhängiger Risikofaktor diskutiert 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48. Die American Diabetes Association (ADA) 49 stellt hierzu fest, dass es keine Belege aus validen klinischen Studien gibt, die, außer bei der Schwangerschaft, einen eigenständigen Beitrag der postprandialen Hyperglykämie zur Pathogenese diabetischer Komplikationen beweisen. Auch liegen keine Untersuchungen vor, die einen eigenständigen Vorteil der medikamentösen Beeinflussung der Eine Interventionsstudie zur Hypertonie 51 hat signifikante Effekte der Blutdrucksenkung auf die Summe aller diabetesabhängigen Endpunkte, diabetesbedingten Tod, Schlaganfall, mikrovaskuläre Erkrankungen und Herzversagen gezeigt. Senkung des Blutdrucks senkt auch das Risiko für die Makulopathie 51. Das niedrigste Risiko für Komplikationen ist bei einem systolischen Blutdruck < 120 mmhg zu erwarten 52. Weitere Risikofaktoren für die Nephropathie sind Rauchen 29, 55, 56, 57, erhöhte Eiweißzufuhr 58 und noch nicht identifizierte genetische Faktoren 59, 60, 61. Rauchen ist auch ein Risikofaktor für die Retinopathie 57, 62. Darüber hinaus wurden rheologische und hämodynamische Einflüsse für die Entwicklung der Mikroangiopathie und Neuropathie geltend gemacht 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69. Prävention der Makroangiopathie Wesentlich komplexer sind die Verhältnisse hinsichtlich des Risikos für Makroangiopathie. Eine Beziehung zwischen HbA 1c und makroangiopathischen Komplikationen bzw. Letalität wurde beschrieben 26, 28, 32, 33, 34, 35, 36, 70, aber nicht immer bestätigt 71. Es muss angenommen werden, dass zusätzliche Einflussfaktoren eine wesentliche kausale Rolle spielen 13, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80. Die bei Nichtdiabetikern identifizierten Risikofaktoren der Arteriosklerose können auch bei Diabetikern als Risikofaktoren makroangiopathischer Komplikationen nachgewiesen werden: Alter, Hypertonie, Rauchen, Dyslipoproteinämie (hohe Plasmatriglyceride, niedriges HDL-Cholesterin, hohes LDL- Cholesterin und pathologische Lipoproteine 77, 78, 81, 82 ). Senkung eines erhöhten Blutdrucks senkt das Risiko für 9 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 10 Schlaganfälle und Herzinsuffizienz, nicht aber für den Myokardinfarkt 51 und nicht für Amputationen 51. Kontrollierte prospektive Interventionsstudien zur Prüfung des Kausalzusammenhanges der weiteren Parameter für makroangiopathische Komplikationen bei Typ-2-Diabetes mellitus liegen nicht vor. Retrospektive Analysen von diabetischen Teilkollektiven großer Interventionsstudien zur Dyslipoproteinämie stehen aber in Einklang mit der Annahme, dass ein Kausalzusammenhang besteht 73, 83, 84. Hinzu kommt als wesentlicher Diabetes-typischer pathogenetischer Faktor eine aktivierte Hämostase mit erhöhter Plättchenkoagulabilität, Hyperfibrinogenämie und gesteigerter PAI-1- Aktivität 76, 80, 85, 86, 87, 88, 89. Für die Risikofaktoren der Makroangiopathie sind keine Schwellenwerte bekannt. Studien in der Allgemeinbevölkerung haben gezeigt, dass eine wirksame Therapie der Risikofaktoren zu einer deutlichen Senkung des Makroangiopathierisikos führt. Entsprechende Studien bei Diabetikern liegen nur als retrospektive Teilgruppenanalysen vor. Sie stehen in Einklang mit der Annahme, dass der Nutzen einer Intervention bei Diabetes mellitus meist größer ist als der Nutzen in der Allgemeinbevölkerung. Deshalb besteht allgemeiner Konsens, dass das Therapieziel in einer Normalisierung aller pathologischen, klinischen und biochemischen Risikoparameter und der Praktizierung einer gesunden Lebensweise mit regelmäßiger körperlicher Aktivität und Verzicht auf Rauchen bestehen muss. Das therapeutische Konzept geht davon aus, dass die Vermeidung akuter und chronischer Komplikationen nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Lebensqualität bessert. Das ist allerdings nicht immer der Fall. Die erwünschte normnahe Stoffwechseleinstellung ist bei mit Sulfonylharnstoffderivaten und/oder Insulin behandelten Patienten mit einem erhöhten Risiko von Hypoglykämien verbunden, insbesondere wenn die Basistherapie (Schulung und Training) nicht oder unzureichend erfolgt. Außerdem erzwingt die normnahe Stoffwechseleinstellung in der Mehrzahl der Fälle eine relevante Mitarbeit des Patienten und unter Umständen die Bereitschaft zur Insulintherapie einschließlich der intensivierten Form. Diese wird aber ebenso wie die Änderung des Lebensstils von Personen im höheren Lebensalter oft nicht ohne weiteres akzeptiert. Die Therapieziele (s. Tabelle 7) erfordern deshalb unter somatischen und psychosozialen Aspekten eine individuelle Betrachtung. Diese individuellen Therapieziele können z. B. bei geriatrischen Patienten, bei besonderen sozialen Bedingungen, Begleitkrankheiten mit eingeschränkter Lebenserwartung oder hohem Hypoglykämierisiko von den Regelwerten abweichen. Sie sollten vorab mit dem Patienten vereinbart und im»gesundheitspass Diabetes«schriftlich fixiert werden. Hierbei empfiehlt es sich, zwischen (idealen) Fernzielen und (realistischen) Nahzielen zu unterscheiden. Die Therapie umfasst nichtmedikamentöse basistherapeutische Maßnahmen, die nach Möglichkeit bei allen Patienten eingesetzt werden sollen, und spezielle Therapiemaßnahmen, die sich nach den individuellen Befunden richten. Nichtmedikamentöse Therapie Tabelle 7: Therapeutische Zielgrößen für erwachsene Diabetiker 90 Indikator Einheit Zielwertbereich Blutglucose (kapillär) mg/dl (mmol/l) nüchtern/präprandial 90-120 (5,0-6,7) 1-2 h postprandial 130-160 (7,2-8,9) vor dem Schlafengehen 110-140 (6,1-7,8) HbA 1c % 6,5 Lipide mg/dl (mmol/l) Diabetiker ohne makrovaskuläre Erkrankungen *Chol. ges. < 200 (< 5,0) *LDL-C < 100 (< 2,5) *HDL-C > 35 (> 0,9) *NüTG < 150 (< 1,7) Diabetiker mit makrovaskulären Erkrankungen Chol. ges. < 170 (< 4,4) LDL-C < 100 (< 2,5) HDL-C > 40 (> 1,0) NüTG < 150 (< 1,7) Body-Mass-Index kg/m 2 < 25 Blutdruck mmhg Systolisch Diastolisch 130 80 * Chol. ges. : Gesamt-Cholesterin; *LDL-C: Low-density-lipoprotein-Cholesterin; *HDL-C: High-density-lipoprotein-Cholesterin; *NüTG: Nüchtern-Triglyceride Schulung Da sich der Diabetiker weitgehend selbst behandeln muss und die Therapieempfehlungen des Arztes nur sinnvoll umsetzen kann, wenn er seine Erkrankung und deren Therapie versteht, ist die Schulung des Patienten und ggf. seiner Angehörigen die Grundlage jeder Therapie. Die Schulung soll den Diabetiker auch zur konstruktiven Kooperation motivieren. Der geschulte Diabetiker soll aufgrund seines Wissens und seiner Fertigkeiten die Fähigkeit zu einem partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Verhältnis entwickeln. Neben der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten (Tabelle 8) besteht ein Hauptziel darin, dass der Patient seine Gesundheitsüberzeugungen nicht passiv vom Arzt übernimmt, sondern aktiv selbst entwickelt und auch umsetzen will (patient empowerment). Bei Typ-2- Diabetes kann es schwierig sein, die Schulungsziele zu erreichen. Aufseiten des Therapeuten sind daher besondere Kenntnisse in der Gesprächsführung Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE und Motivationstechnik erforderlich. In der Regel ist der Arzt dafür nicht entsprechend ausgebildet und nicht in der Lage, die dafür erforderliche Zeit und das Engagement selbst aufzubringen. Dann soll er sich zur verantwortlichen Diabetikerbetreuung nur entschließen, wenn ihm Unterstützung durch qualifizierte Helfer, z. B. Diabetesberater DDG oder Diabetesassistenten DDG, zur Verfügung steht oder wenn er bereit ist, die konsiliarische Mitbehandlung durch einen Diabetologen in Anspruch zu nehmen. Selbstkontrolle Ein wichtiges Schulungsziel ist die Fähigkeit des Patienten zur Selbstkontrolle. Diese besteht u. a. in der Überprüfung des Stoffwechsels, des Körpergewichts, der Haut, besonders der Füße und ggf. des Blutdrucks. Die metabolischen Therapieziele erfordern abgesehen von Ausnahmefällen auch beim Typ-2-Diabetes mellitus die Blutglucoseselbstbestimmung, da es mit der Harnzuckerbestimmung nicht gelingt, drohende Hypoglykämien zu erkennen und im Erwachsenenalter häufig selbst ausgeprägte Hyperglykämien nicht zur Glucosurie führen und symptomlos bleiben. Die UKPDS 41 (2000) 91 hat erneut gezeigt, dass die intensive Blutglucoseselbstkontrolle zwar die aktuellen Behandlungskosten signifikant erhöht, aber die Kosten für Komplikationen wesentlich senkt und die Zeit bis zum Auftreten von Komplikationen verlängert. Anhaltspunkte für die Häufigkeit von Stoffwechselkontrollen gibt Tabelle 9. Gesunde Lebensweise Ein anderes wichtiges Ziel ist die Stärkung des Willens zu einer gesunden Lebensweise (Rauchverzicht, diabetesgerechte Ernährung, Bewegung, Einschränkung des Alkoholkonsums). Die Ernährung soll bei Adipositas, die bei etwa 80 % der Diabetiker vorliegt, zu einer langsamen, aber kontinuierlichen Gewichtsabnahme führen. Die Kost soll im Vergleich zur derzeitigen Kost der Allgemeinbevölkerung deutlich fettärmer (~ 30 % der Energie als Fett, davon höchstens 10 % als gesättigte Fettsäuren) und reicher an komplexen Kohlenhydraten sein (~ 50 % der Energie). Diabetiker haben traditionell eine Scheu vor Kohlenhydraten. Diese falsche Einstellung muss korrigiert werden. Nicht die Kohlenhydrate, sondern Fette und Alkohol sind die gefährlichen Kalorienträger und die größten nutritiven Risikofaktoren der Makroangiopathie. Haushaltszucker ist gut eingestellten und geschulten Tabelle 8: Schulungsinhalte bei Typ-2-Diabetes mellitus (Wissensvermittlung und praktische Übungen) Für alle Patienten Was ist Diabetes (Ursachen, Merkmale und Beschwerden, Verlauf, Vorbeugung) Ernährungsbehandlung (diabetesgerechte Ernährung, Nahrungsmittelkunde, wiegen/schätzen, einkaufen, kochen) Körperliche Bewegung/Aktivität (geeignete Aktivitäten, Auswirkungen, Überwachung, Anleitung) Stoffwechselselbstkontrolle (Wichtigkeit der Stoffwechselselbstkontrolle, Durchführung mit praktischen Übungen, Aufzeichnung) Haut- und Fußpflege (Hilfsmittel, praktische Übungen) Chronische Folgekrankheiten (Auswirkungen, Vorbeugung) Verhalten in besonderen Situationen (Reisen, Krankheiten) Soziale Fragen (Führerschein, Versicherungen) Abhängig von Therapie und Begleitproblemen Unterzuckerung (Ursachen, Zeichen, Gegenmaßnahmen) Tablettenbehandlung (Wirkung und richtige Einnahme) Insulinbehandlung (Umgang mit Insulin: konventionelle u. intensivierte Therapie, praktische Übungen) Nichtrauchen (Bedeutung, optional Trainingsprogramm) Bluthochdruck (praktische Übungen zur Blutdruckmessung) Tabelle 9: Regeln für die Selbstkontrolle Stoffwechselwerte Das Stoffwechselmonitoring erfolgt am besten durch Blutglucoseselbstbestimmung (BGS). Diese ist bei Behandlung mit Insulin und betazytotropen (insulinstimulierenden) oralen Antidiabetika unverzichtbar. Sie ist ein lebenswichtiger Schutz gegen Hypoglykämie. Ketonkörpertests im Urin sollen bei Krankheiten und bei Erhöhung der Blutglucose über 20 mmol/l (360 mg/dl) durchgeführt werden. Gut eingestellte, stoffwechselstabile Patienten: Blutglucosebestimmung (BGS) nüchtern, vor den Hauptmahlzeiten, vor dem Schlafengehen: 1-2 x pro Woche. Unzureichend eingestellte, stoffwechsellabile Patienten oder bei Krankheiten: Blutglucosebestimmung (BGS) nüchtern, 1,5-2 Stunden nach dem Essen, vor den Mahlzeiten, vor dem Schlafengehen, bei Verdacht auf Hypoglykämien auch nachts: täglich bis zur guten Stoffwechseleinstellung. Intensivierte Insulintherapie: bis zur Stabilisierung des Stoffwechsels vor jeder Insulindosis, ggf. nach den Mahlzeiten. Immer bei Verdacht auf Hypoglykämie Sonstige Selbstkontrolle Bestimmung des Körpergewichts morgens nüchtern nach dem Wasserlassen, Inspektion der Füße: mindestens 1 x pro Woche Messung des Blutdrucks: bei Normalwerten: 1 x monatlich, bei erhöhten Werten öfter, bei antihypertensiver Therapie ggf. mehrmals täglich bis die Werte im Zielbereich liegen Diabetes-Tagebuch führen, besondere Ereignisse schriftlich festhalten 11 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 12 Diabetikern bis zu einer Menge von 30-50 g täglich möglich, wenn er auf mehrere Mahlzeiten verteilt und in Verbindung mit ballaststoffreichen Gerichten genossen wird. Eiweiß sollte nicht beliebig konsumiert werden. Richtgrößen sind außer bei Reduktionskost ca. 10-15 % der Energiezufuhr, in der Regel jedoch nicht mehr als 1,0 g pro kg Körpergewicht. Das Risiko einer diabetischen Nephropathie steigt bei einem Eiweißkonsum über 20 % der Energiezufuhr deutlich an. Alkohol ist auf unter 15 g für Frauen und unter 30 g für Männer pro Tag zu begrenzen und nur zu den Mahlzeiten zu genießen. Bei Hypertonie soll Kochsalz sparsam (5-6 g/d) verwendet werden (s. Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft zur arteriellen Hypertonie 18 und Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft zum Management der Hypertonie beim Patienten mit Diabetes mellitus 92 ). Insgesamt ist eine ballaststoff- und vitaminreiche, aber fettarme Kost zu empfehlen. Bei der Fettauswahl sollen besonders einfach ungesättigte Fettsäuren bevorzugt werden 93. Die Patienten sind zur Steigerung ihrer körperlichen Aktivität anzuhalten. Besonders wirksam sind Ausdauerübungen wie Laufen, Schwimmen, schnelles Gehen, Radfahren oder Ballspiele im Freien. Auch Gruppengymnastik, bei der eine auch nur subjektive Überforderung vermieden werden soll, und selbst regelmäßiges Treppensteigen über mehrere Etagen sind sinnvoll. Zur gesunden Lebensweise gehört auch der vollständige Verzicht auf Tabakrauchen. Mit diesen Maßnahmen einer gesunden Lebensweise kann bei Hochrisikopatienten mit pathologischer Glucosetoleranz unter therapeutischer Anleitung und Überwachung die Entwicklung eines Diabetes mellitus Typ 2 u. U. effektiver als mit einer pharmakologischen Intervention verhindert bzw. verzögert werden 94, 95, 96. Die Umstellung auf eine gesunde Lebensweise gehört neben der Entwicklung eines eigenen Gesundheitsbewusstseins und der Bereitschaft zur Blutglucoseselbstkontrolle für viele Typ- 2-Diabetiker zu den größten Therapieproblemen. Da es durch Ernährung, Bewegung und Selbstkontrolle bei etwa 25 % der frisch diagnostizierten Typ-2-Diabetiker in den ersten 3 Jahren gelingt, einen HbA 1c -Wert < 7 % zu erreichen 97, ist außer in Notfällen zu fordern, dass die Therapie stets mit Schulung, Umstellung der Lebensweise und Selbstkontrolle beginnt. Erst wenn nach 4-6 Wochen keine Tendenz zur weiteren Besserung zu erkennen ist bzw. nach 3-4 Monaten die vereinbarten Therapieziele nicht erreicht wurden, sind medikamentöse Maßnahmen gerechtfertigt. Pharmakotherapie Wirkstoffauswahl Kontrollierte klinische Studien mit sog. harten Endpunkten (Tod, Infarkt, Niereninsuffizienz, Amputation u. a.) sind das wichtigste Instrument zum Wirksamkeitsnachweis einer Therapie und daher auch wichtigste Grundlage aller Therapieentscheidungen. Langzeitinterventionsstudien, wie früher die UGDP Studie (1976) und heute die United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) und die Kumamoto- Studie 27, die Auskunft über die Wirksamkeit der Therapie mit Antidiabetika, aber auch der Behandlung von Begleiterkrankungen wie der Hypertonie auf kardiovaskuläre Komplikationen geben, besitzen daher eine besondere Bedeutung. Allerdings werden auf der Grundlage kontrollierter klinischer Studien, deren Ergebnisse primär für die Studienbedingungen gelten, therapeutische Empfehlungen für den Regelfall ausgesprochen, die der Arzt in Kenntnis der besonderen Krankheitssituation seines Patienten in eine individuelle Therapie umsetzen muss. Auch ist zu bedenken, dass die unter den besonderen Bedingungen einer Studie erzielbaren Ergebnisse in der ärztlichen Praxis nicht immer erreicht werden können. Die Häufigkeit von unerwünschten Wirkungen und individuelle Faktoren des Patienten, wie eingefahrene Lebensgewohnheiten, mangelndes Gesundheitsbewusstsein und die Unfähigkeit zu einem zielgerichteten Tagesablauf, spielen eine wesentliche Rolle für Wahl und Erfolg einer Therapie. Bei der Wahl der Pharmakotherapie ist aufgrund der UKPDS und anderer Studien von folgenden Ergebnissen auszugehen: Die intensive Therapie mit Glibenclamid, Metformin, Acarbose oder Insulin kann den HbA 1c -Wert bei Typ- 2-Diabetikern im Vergleich zur konventionellen Therapie mit Diät im 1. Jahr der Behandlung um ca. 10 % des Ausgangswertes senken 25, 39, 98. Durch die Therapie mit Glibenclamid und Insulin ließ sich eine Reduktion mikroangiopathischer Komplikationen, nicht jedoch der makroangiopathischen Komplikationen (z. B. Myokardinfarkt, Schlaganfall) nachweisen 25. Bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern können durch die Therapie mit Metformin auch die Inzidenz makroangiopathischer Komplikationen und die Letalität reduziert werden 39. Im Vergleich zur primären Monotherapie mit Sulfonylharnstoffen oder Metformin besitzt die primäre Monotherapie mit Insulin keine Vorteile hinsichtlich der Senkung des HbA 1c oder der Prognose 25. Im Krankheitsverlauf des Typ-2- Diabetes mellitus kommt es unter Ernährungstherapie und unter pharmakologischer Monotherapie nach wenigen Jahren zu einem Nachlassen der Insulinsekretion 99 und zu einem kontinuierlichen Anstieg des HbA 1c -Wertes 25, 39, sodass zur Erreichung der Therapieziele eine Kombinationstherapie erforderlich wird 97. Unter der Therapie mit Sulfonylharnstoffen oder mit Insulin kommt es im Vergleich zur Ernährungstherapie, der Therapie mit Metformin oder der Therapie mit Acarbose zu gehäuften Hypoglykämien und zur Gewichtszunahme. Einschränkend muss erwähnt werden, dass in der UKPDS die Sulfonylharnstofftherapie fast ausschließlich mit Chlorpropamid oder Glibenclamid durchgeführt wurde. Zur Therapie mit Acarbose liegen nur Dreijahresergebnisse vor 98. Im Therapieverlauf war die pharmakologische Monotherapie in der Regel nicht ausreichend. Bei Ausgangswerten des HbA 1c von mehr Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE Abbildung 2: Grundzüge der Behandlung eines Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, modifiziert nach Nationale Versorgungs-Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 105. Vorrangig sollen zur Blutglucosesenkung Medikamente ( ) verwendet werden, deren Wirksamkeit anhand klinisch relevanter Endpunkte in prospektiven randomisierten kontrollierten Langzeitstudien nachgewiesen wurde und die sich als sicher erwiesen haben. Patient mit Diabetes melitus Typ 2 Hyperglykämie Fettstoffwechselstörungen Arterielle Hypertonie Rauchen Adipositas Auf der Grundlage von Tabelle 7 vereinbarte individuelle Therapieziele Nichtmedikamentöse Maßnahmen: Basistherapie: Schulung, Ernährungstherapie, Gewichtsreduktion, Bewegung Zielwert: HbA 1c 6,5 % Intervention ab 7,0 % Nichtmedikamentöse Maßnahmen* Nicht ausreichend bei HbA 1c 7,0 % nach 3 Monaten Nicht ausreichend Pharmakotherapie Pharmakotherapie* 13 bei Übergewicht: Monotherapie mit Metformin, wenn Kontraindikation: SH bei HbA 1c 7,0 % nach 3 Monaten Zweites orales Antidiabetikum bei Normalgewicht: Monotherapie mit Glibenclamid Weitere Optionen: (in alphabetischer Reihenfolge): Alpha-Glucosidase-Hemmer Insulin Glinide andere Sulfonylharnstoffe (SH) bei Metformin-Therapie: (in alphabetischer Reihenfolge) Alpha-Glucosidase-Hemmer oder Glinide oder Glitazone oder Sulfonylharnstoffe** bei SH-Therapie: (in alphabetischer Reihenfolge) Alpha-Glucosidase-Hemmer oder Glitazone Weitere Optionen: Insulintherapie Insulin zur Nacht plus Metformin (SH / Glinide) Präprandial kurzwirkendes Insulin, abends Metformin bei HbA 1c 7,0 % nach 3 Monaten Insulintherapie Zusätzlich Verzögerungs-Insulin zur Nacht Präprandial kurzwirkendes Insulin, abends Metformin oder Sulfonylharnstoffe Intensivierte Insulintherapie (CT, ICT / Insulinpumpe) * Siehe jeweilige Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission ** Die Kombination von Glibenclamid und Metformin wird zur Zeit häufig angewendet. Neuere Studien ergaben Hinweise auf negative Auswirkungen dieser Kombinationstherapie auf die Gesamtmortalität und die diabetesbezogene Mortalität. Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 14 als 20 % über dem Zielwert ist damit zu rechnen, dass auch die primäre Monotherapie unzureichend ist. In diesen Fällen ist die Kombination verschiedener oraler Antidiabetika oder die Kombination von oralen Antidiabetika mit Insulin angezeigt. Über deren Wirksamkeit liegen bisher nur Studien mit Surrogatparametern (z. B. HbA 1c ) vor. Der Effekt der antidiabetischen Therapie auf die diabetische Neuropathie ist bisher erst in einer Studie zur Insulintherapie untersucht worden 27 (s. S. 19). Zusammenfassend lassen sich aus neueren klinischen Studien folgende Empfehlungen ableiten: Bei ähnlicher HbA 1c -senkender Wirksamkeit von oralen Antidiabetika und Insulin können aus Gründen der Akzeptanz und Compliance orale Antidiabetika als primäre Pharmakotherapie vorgezogen werden. Ob bei Insulintherapie die intensivierte Therapie (ICT) der konventionellen Therapie überlegen ist, wird unterschiedlich beurteilt 27, 100, 101, 102, 103, 104. Bei adipösen Diabetikern ist Metformin, soweit keine Gegenanzeigen vorliegen, derzeit die Pharmakotherapie 1. Wahl. Abgesehen von diesen Empfehlungen können einheitliche Therapieempfehlungen nicht für alle Typ-2-Diabetiker ausgesprochen werden. Auch angesichts der unterschiedlichen Angriffspunkte der Medikamente ist es problematisch, vereinfachende Stufenschemata vorzuschlagen. Eine Entscheidungshilfe für das Vorgehen sei aus didaktischen Gründen dennoch vorgeschlagen (Abbildung 2). Der behandelnde Arzt ist in jedem Einzelfall gehalten, in Kenntnis der Besonderheiten der Wirkstoffe/ Wirkstoffgruppen (s. u.) die für den jeweiligen Patienten geeignete Therapie auszusuchen und gemeinsam mit ihm einzuleiten. Hinweise zu einzelnen Wirkstoffen/Wirkstoffgruppen Orale Antidiabetika (OAD) Alpha-Glucosidasehemmer Die Wirkung der Alpha-Glucosidaseinhibitoren Acarbose und Miglitol beruht auf der Hemmung der Kohlenhydrat-spaltenden Enzyme des Magen- Darm-Traktes. Dadurch wird die Kohlenhydratabsorption verzögert 106. Die antihyperglykämische Wirkung ist akut am ehesten an dem verminderten Blutglucoseanstieg nach dem Frühstück abzulesen. Bei Langzeittherapie kommt es durch allmähliche Besserung der Insulinempfindlichkeit auch zu einer Abnahme der Nüchternblutglucosewerte 107. Da die Senkung des HbA 1c ohne Stimulation der Insulinsekretion erfolgt, treten bei Monotherapie keine Hypoglykämien auf und es kommt nicht 98, 106, 108, 109, 110, 111, 112, zur Gewichtszunahme 113, 114, 115. Sollte aufgrund einer zusätzlichen Medikation eine Hypoglykämie auftreten, ist nur Glucose (keine komplexen Kohlenhydrate!) als Antidot wirksam. Alpha-Glucosidaseinhibitoren können mit anderen oralen Antidiabetika und Insulin kombiniert werden und besitzen in der Kombination eine ähnliche HbA 1c -senkende Wirkung wie bei Monotherapie. Bei Langzeittherapie tritt kein Verlust der Wirksamkeit ein. Gut belegt ist die dosisabhängige Senkung der postprandialen Hyperglykämie. Mehrere Untersuchungen zeigen auch, dass Acarbose signifikant den Blutglucosenüchternwert und das HbA 1c reduziert 98, 106. Zur prognostischen Bedeutung der postprandialen Hyperglykämie s. Seite 9. Zum Ausmaß der Wirkung von Acarbose auf Blutglucose und HbA 1c liegen unterschiedliche Angaben vor. In der UKPD-Studie wurde die Wirksamkeit von Acarbose an 1900 Patienten über 3 Jahre geprüft. In dieser großen Studie 98 war die HbA 1c -Senkung bei Intentionto-treat-Analyse mit -0,2 % nicht signifikant, nur bei der Per-protocol- Analyse ergab sich mit -0,61 % eine statistische Signifikanz. Die metaanalytische Auswertung mehrerer zumeist kleinerer und kürzerer Studien (durchschnittliche Fallzahl und Dauer: n = 84, 31 Wochen) 106 erbrachte vergleichsweise größere Effekte, als sie in der großen UKPD-Studie 98 gefunden wurden. Es ergaben sich folgende Werte (Mittelwert und Bereich): HbA 1c : -0,90 % (-0,60 bis -1,3) Nüchtern-Blutglucose: -24 mg/dl (-15 bis -39) Postprandiale Blutglucose: -54 mg/dl (-32 bis -89). Die Beeinflussung klinischer Endpunkte wie z. B. die Reduktion von Gesamt- oder diabetesbedingter Letalität oder diabetesbedingten Komplikationen ist für Acarbose bislang nicht untersucht worden. Häufig treten vor allem bei Therapiebeginn unerwünschte Wirkungen in Form von gastrointestinalen Beschwerden mit Völlegefühl, Flatulenz und Bauchkrämpfen auf. Sie sind reversibel und in der Regel vermeidbar. Die Beschwerden beruhen meist auf zu hohen Anfangsdosierungen bzw. zu schneller Dosissteigerung und lösen häufig Compliance-Probleme aus (58 % Therapieabbrüche in der UKPDS 98 ), die die großen Differenzen der HBA 1c - Senkung erklären. Die Überwachung von Leberparametern zur Erkennung von hepatischen Funktionsstörungen im ersten Jahr der Therapie wird angeraten 116. Die Therapie mit Acarbose sollte stets mit der Dosis von 50 mg begonnen werden. Dosissteigerungen sind nur bei guter Verträglichkeit und nach frühestens 10 Tagen vorzunehmen. Zusammenfassung Für die Wirkung der Acarbose ist nur die Senkung der Surrogatparameter Blutglucose und HbA 1c ausreichend belegt. Wirksamkeitsbelege zur Reduktion klinischer Endpunkte liegen nicht vor. Bei Monotherapie besteht kein Risiko für Hypoglykämien und/oder Gewichtszunahme. Die Wirkung bleibt im Behandlungsverlauf erhalten. Acarbose kann mit Sulfonylharnstoffen, Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE Metformin und Insulin kombiniert werden. Gastrointestinale Nebenwirkungen sind häufig und können zum Absetzen der Medikation durch den Patienten führen. Acarbose kann gegeben werden, wenn die angestrebte Stoffwechseleinstellung, besonders die postprandialen Blutglucosespiegel, durch Diät allein oder in Verbindung mit Metformin, Sulfonylharnstoffen, Gliniden oder Insulin nicht erreicht werden. Über Miglitol liegen ähnliche, aber weniger umfangreiche Erfahrungen vor 117, 118, 119. Metformin Metformin bewirkt eine Senkung der Blutglucose und des HbA 1c, indem es vorwiegend die hepatische Glucoseproduktion hemmt und die periphere Glucoseverwertung verbessert 126. Außerdem wurden günstige Einflüsse von Metformin auf die Dyslipoproteinämie 120, 121, 122, 123 und die aktivierte Hämostase 120 berichtet. Die günstige Wirkung von Metformin auf die Stoffwechselparameter Nüchternblutzucker und HbA 1c bei Diabetes mellitus Typ 2 ist durch zahlreiche Studien belegt 39, 124, 125, 126, 127. Die Senkung des HbA 1c -Wertes erfolgt ohne Steigerung der Insulinsekretion, sodass es bei Monotherapie nicht zu Hypoglykämien und nicht zur Gewichtszunahme kommt, vielmehr in einem Teil der Fälle zur Gewichtsabnahme. Metformin verliert auch bei Langzeittherapie seine Wirksamkeit nicht. Die Senkung des HbA 1c -Wertes betrug in der UKPDS 0,6 % 39. Die UKPDS 34 39 hat bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern unter Metformintherapie die Senkung der Gesamtzahl diabetischer Komplikationen, die Reduktion von Myokardinfarkten sowie eine Senkung der diabetesbedingten und der Gesamtsterblichkeit belegt. Im Gegensatz zur Behandlung mit Sulfonylharnstoffen oder Insulin ist die Gewichtszunahme bei intensiver Behandlung mit Metformin nicht gesteigert 39. Diese Eigenschaften machen Metformin zum Medikament der 1. Wahl für Typ-2- Diabetiker mit Adipositas. Metformin kann mit anderen OAD und mit Insulin kombiniert werden und besitzt in der Kombination eine ähnlich große HbA 1c -senkende Wirkung wie bei Monotherapie. Die zusätzliche Gabe von Metformin bei mit Glibenclamid oder Chlorpropamid behandelten Patienten führte zu einer weiteren Senkung des HbA 1c, jedoch auch zu einem erhöhten Letalitätsrisiko 39. Da es sich hier um eine retrospektive Subgruppenanalyse handelt und die Letalität in der Kontrollgruppe unerwartet niedrig war, ist die Aussagekraft dieses Befundes umstritten. Dementsprechend haben die Amerikanische und die Britische Diabetes Gesellschaft ausdrücklich darauf verzichtet, vor der Kombination von Metformin mit Sulfonylharnstoffen zu warnen. Inzwischen ist der Verdacht auf erhöhte Risiken durch eine weitere Untersuchung gestützt worden 128, die jedoch als Beobachtungsstudie auch nicht über die Beweiskraft verfügt, um eine Behandlungsempfehlung zweifelsfrei 15 Tabelle 10 a: Orale Antidiabetika I. Dosierung; wichtige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI) Wirkstoff/-gruppe Dosierung (mg) Wirkdauer (h) Einzeldosis Einnahmehäufigkeit Maximale Tagesdosis Alpha-Glucosidasehemmer Acarbose 50-100 1-3 300 2-6 Miglitol 50-100 1-3 300 2-6 UAW: Blähungen, Darmgeräusche, Bauchschmerzen, Leberenzymerhöhung, Hepatitis, allergische Hautreaktionen IA: vermehrt Darmbeschwerden und Durchfall durch Zucker bzw. Kohlenhydrate; Abschwächung der Acarbosewirkung durch Colestyramin und Darmadsorbenzien KI: schwerwiegende Darmerkrankungen: chronische Entzündungen, Ulzerationen, Malabsorption, Hernien, Stenosen, Fisteln. Cave: Schwangerschaft Biguanide Metformin 500-1000 1-3 2550(-3000) > 24 UAW: Übelkeit, Erbrechen, metallischer Geschmack, Laktatazidose IA: Verstärkung der antidiabetischen Wirkung durch nichtsteroidale Antiphlogistika, ACE-Hemmer, Clofibrat, Cyclophosphamid Abschwächung der antidiabetischen Wirkung durch Corticosteroide, Sexualhormone, Sympathomimetika, Schilddrüsenhormone, Thiazid- und Schleifendiuretika KI: Zustände mit dem Risiko von metabolischen Azidosen oder Hypoxie: Nierenversagen, Kreatinin > 1,2 mg/dl, Leberversagen, Myokardinfarkt, therapiebedürftige Herzinsuffizienz, diabetische Ketoazidose/Ketose, größere Operationen, Sepsis, Alkoholismus, intravenöse Röntgenkontrastmittel, Schwangerschaft, Vorsicht bei sehr hohem Lebensalter Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 16 begründen zu können. Trotz dieser Unsicherheiten begründet diese Datenlage einen Verdacht, der zur Vorsicht bei der Kombination dieser Wirkstoffgruppen mahnt. Die wichtigste unerwünschte Wirkung von Metformin besteht in der Entwicklung von Laktatazidosen, die selten auftreten, aber in einem hohen Prozentsatz letal verlaufen. Sie treten fast nur bei Missachtung der Kontraindikationen auf (Tabelle 10 a). Diese sind deshalb besonders streng zu beachten. Metformin besitzt zudem häufig reversible gastrointestinale Wirkungen, die durch den Einnahmemodus beeinflussbar sind (Anorexie, Nausea, Diarrhoe). Die Therapie soll mit der niedrigsten Dosis begonnen werden. Metformin soll zu Beginn einer Mahlzeit eingenommen werden. Die maximale Wirkung tritt erst im Laufe einiger Tage ein. Dosissteigerungen sind langsam und nur bei guter Verträglichkeit durchzuführen. Auf Wechselwirkungen ist zu achten (Tabelle 10 a). Zusammenfassung Die Wirksamkeit von Metformin hinsichtlich Stoffwechseleinstellung und Risikoreduktion klinischer Endpunkte (Letalität, Schlaganfall, tödlicher Myokardinfarkt) ist für den Typ-2- Diabetes mellitus mit Adipositas belegt. Daher und aufgrund fehlender Gewichtsanstiege und Hypoglykämien ist Metformin für den adipösen Typ-2- Diabetes mellitus Medikament der 1. Wahl. Metformin kann mit Insulin und anderen oralen Antidiabetika kombiniert werden, zur Kombination mit Sulfonylharnstoffen s. o.. Kontraindikationen sind wegen des Risikos von letalen Laktatazidosen besonders sorgfältig zu beachten. Sulfonylharnstoffderivate (SH) Sulfonylharnstoffe (Tabelle 10 b) stimulieren die Insulinsekretion (»ß-zytotrope Wirkung«) durch Blockade der ATPabhängigen Kaliumkanäle der B-Zellen. Dieser Wirkungsmechanismus birgt das Risiko von Hypoglykämien und führt in der Regel zu einer unerwünschten Gewichtszunahme. Die pharmakokinetischen Daten der einzelnen SH, die z. B. auch durch die Nieren- und Leberfunktion beeinflusst werden können, sind gut bekannt, doch besteht keine klare Beziehung zwischen der Pharmakokinetik und der Wirkungsdauer. Die Angaben der Tabelle 10 b zu diesem Merkmal sind deshalb nur Schätzdaten. Die blutzuckersenkende Wirkung der Sulfonylharnstoffe ist gut belegt. Bei Patienten unter Basistherapie kann durch intensivierte Behandlung mit Glibenclamid eine Senkung des HbA 1c -Wertes um 0,7 % erreicht werden 25, 129. Die UKPDS 33 25 ergab bei intensivierter Behandlung mit Glibenclamid eine etwa 25 %ige Reduktion mikrovaskulärer Diabeteskomplikationen im Vergleich zur konventionellen Therapie. Chlorpropamid besaß in der UKPDS 25 diese Wirkung nicht. Die Verminderung makroangiopathischer Komplikationen durch die intensivierte Behandlung mit Sulfonylharnstoffen war nicht signifikant 25. Tabelle 10 b: Orale Antidiabetika II. Dosierung; wichtige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI) Wirkstoff/-gruppe Dosierung (mg) Wirkdauer (h) Einzeldosis Einnahmehäufigkeit Maximale Tagesdosis Sulfonylharnstoffe (SH) Glibenclamid (mikronisiert) 1,75-7,0 1-2 10,5 12-20 Glibornurid 12,5-25 1-3 75-24 Gliclazid 40-160 1-2 240 12-18 Glimepirid 1-6 1 6 15-24 Gliquidon 15-60 1-3 120 4-6 Glisoxepid 2-8 1-2 16-24 UAW: Hypoglykämie, Gewichtszunahme, selten Übelkeit, Erbrechen, allergische Hautreaktionen, Vaskulitis, Leberfunktionsstörungen, Arthralgie, Blutbildveränderungen, Proteinurie, Seh- und Akkommodationsstörungen IA: Verstärkung der blutzuckersenkenden Wirkung durch: Betablocker, Chloramphenicol, ACE-Hemmer, Phenylbutazon, Salicylate, Tetracycline, Cimetidin, Miconazol, Cyclophosphamid Abschwächung der blutzuckersenkenden Wirkung durch: Corticosteroide, Diuretika, Schilddrüsenhormone, Sympathomimetika, Rifampicin, orale Kontrazeptiva KI: Unverträglichkeit von Sulfonylharnstoffen, Ketoazidose, Typ-1-Diabetes, Schwangerschaft; bei akuter Porphyrie: Gliquidon, bei Miconazolbehandlung: Gliclazid Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE Ein Wirkungsverlust im Behandlungsverlauf kommt vor (Sekundärversagen der SH-Therapie, s. Kapitel»Insulin«). Die Kombination von SH mit Acarbose und Insulin ist möglich. Zur zusätzlichen Gabe von Metformin bei Glibenclamidtherapie s. unter»metformin«. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen sind Hypoglykämien und Gewichtszunahmen, selten sind Hautreaktionen und Magen-Darm- Beschwerden. Die Gewichtszunahme liegt über derjenigen bei konventioneller Therapie 25, 130. Hypoglykämien können sehr protrahiert verlaufen. Die Häufigkeit schwerer Hypoglykämien liegt bei intensivierter SH-Therapie < 1 pro 100 Behandlungsjahren 131. Hypoglykämien sind meist auf Therapiefehler zurückzuführen (Auslassen einer Mahlzeit, fälschliche Überdosierung, Alkoholgenuss u. a.). Sie beginnen oft schleichend und die Symptome können verkannt werden. Generell ist bei langwirkenden Substanzen das Risiko für Hypoglykämien größer als bei kurzwirkenden Substanzen 132. Patienten mit Hypoglykämie durch Langzeitpräparate müssen besonders sorgfältig und langdauernd in Beobachtung gehalten werden. Sulfonylharnstoffe wurden aufgrund der mit Tolbutamid durchgeführten UGDP-Studie mit einer erhöhten kardiovaskulären Letalität in Verbindung gebracht 133, 134. Tierexperimentelle Untersuchungen legten später als möglichen Wirkungsmechanismus eine Blockade ATP-sensitiver kardialer Kaliumkanäle nahe, die zu einer verminderten Kardioprotektion (ischemic preconditioning) bei Hypoxie beitragen kann 135, 136. Zu den kardiovaskulären Wirkungen der Sulfonylharnstoffe liegen einige z. T. jedoch widersprüchliche klinische Untersuchungen vor 137, 138. Aus den bisherigen Studien, insbesondere auch aus den Ergebnissen der großen UKPDS-Studie, kann nicht geschlossen werden, dass bei Glibenclamid-Therapie ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko besteht 25. Ob bei Bestehen einer Ischämie ein kardioprotektiver Effekt durch die SH aufgehoben wird, ist nicht ausreichend untersucht, sodass keine begründete Empfehlung abgegeben werden kann 135. Zusammenfassung Die dosisabhängige Senkung der Blutglucose und des HbA 1c durch SH ist gut belegt. Der Nutzen einer SH-Therapie für den Patienten (Mikroangiopathie, Summe der diabetesbezogenen»endpunkte«, plötzlicher Tod) konnte in der UKPDS am Beispiel Glibenclamid nachgewiesen werden. Langwirkende Präparate können für die Compliance vorteilhaft sein, besitzen aber ein erhöhtes Risiko für Hypoglykämien und Gewichtszunahme. SH erscheinen daher für die Therapie übergewichtiger Typ-2- Patienten als Langzeitmonotherapie ungeeignet. Die Wirksamkeit der SH kann im Behandlungsverlauf nachlassen. Tabelle 10 c: Orale Antidiabetika III. Dosierung; wichtige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI) Wirkstoff/-gruppe Dosierung (mg) Wirkdauer (h) Einzeldosis Einnahmehäufigkeit Maximale Tagesdosis Glinide Repaglinid 0,5-4 2-4 16 3-4 Nateglinid 60-120 2-4 540 3-4 17 UAW: Hypoglykämien, gastrointestinale Symptome, selten Sehstörungen, Anstieg der Leberenzyme, Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut IA: Mit verminderter Wirkung ist zu rechnen bei: Antimykotika, Erythromycin und anderen Antibiotika sowie Substanzen, die das P450-Enzymsystem stimulieren (Glitazone, Rifampicin, Barbiturate und Carbamazepin). Mit gesteigerter Wirkung ist zu rechnen bei Monoaminooxidase-Inhibitoren, nichtselektiven Betablockern, ACE- Hemmern, Octreotid, Alkohol, Anabolika, NSAIDS, Sulfonamiden, Chloramphenicol, Cumarin, Probenecid. Thiazide und andere Diuretika, orale Kontrazeptiva, Danazol, Corticosteroide, Schilddrüsenhormone, Phenothiazine, Nicotinsäure, Sympathomimetika, Calciumantagonisten und Isoniazid können hyperglykämisch wirken, sodass deren Gabe oder Absetzen zu Hyper- bzw. Hypoglykämie führen kann. KI: Diabetische Ketoazidose, Typ-1-Diabetes mellitus, bekannte Überempfindlichkeit gegenüber Gliniden, schwere Leber- und Nierenerkrankungen, Schwangerschaft, Stillperiode, Einnahme von Substanzen, die das P450- Enzymsystem hemmen oder induzieren. Thiazolidindione (Glitazone) Rosiglitazon 2-8 1-2 8 Pioglitazon 15-30 1 30 UAW: Leberfunktionsstörungen, Flüssigkeitsretention und Ödeme, Herzinsuffizienz, Gewichtsanstieg, Anämie; Rosiglitazon: LDL-Erhöhung IA: Paclitaxel kann Metabolisierung von Rosiglitazon hemmen, möglicherweise Interaktionen mit Arzneimitteln, die über das Cytochrom P450 metabolisiert werden (für Rosiglitazon: CYP2C8, für Pioglitazon: CYP3A4) (s. Fachinfo), NSAID oder Insulin: Förderung einer Herzinsuffizienz KI: Herzinsuffizienz, Leberfunktionsstörungen (Cave: Alkoholkonsum!), Rosiglitazon in Kombination mit Insulin, Schwangerschaft Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 18 SH können mit Insulin und Alpha-Glucosidase-Inhibitoren kombiniert werden. Zur Kombination von Glibenclamid und Metformin s. Ausführungen unter»metformin«. Glinide Repaglinid und Nateglinid sind nicht von den Sulfonylharnstoffen abgeleitete ß-zytotrope Substanzen. Sie bewirken wie die SH einen Verschluss der ATPabhängigen K + -Kanäle der B-Zelle 139. Nach oraler Gabe der Glinide setzt die Wirkung innerhalb 1 Stunde voll ein und ist nach 3-4 Stunden wieder abgeklungen 140, 141. Diese Eigenschaften führen bei präprandialer Einnahme zu einer mahlzeitgerechten blutglucosesenkenden 142, 143, 144 Wirkung und vermindern das Hypoglykämierisiko bei Wegfall einer Mahlzeit 145. Glinide können bis zu 4 x täglich vor den Hauptmahlzeiten gegeben werden, ohne dass es zur Akkumulation kommt. Die Kombination mit Metformin 146, 147, 148 und Insulin 149 ist möglich. Zur prognostischen Bedeutung der postprandialen Hyperglykämie s. Seite 9. Repaglinid senkt die Blutglucose nüchtern und postprandial sowie den HbA 1c -Wert 83. Die HbA 1c -Senkung entspricht derjenigen durch Glibenclamid 150, 151, Gliclazid und Glibornurid 152. Ergebnisse zu harten klinischen Endpunkten aus Langzeituntersuchungen liegen nicht vor. Die unerwünschten Wirkungen ähneln nach Art und Häufigkeit denen der SH. UAW sind neben Hypoglykämien gastrointestinale Beschwerden und selten Sehstörungen, Anstieg der Leberenzyme und Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut. In einjährigen Studien wurde keine Gewichtszunahme beobachtet. Zusammenfassung Wirkung und Nebenwirkungen der Glinide sind denjenigen der SH ähnlich. Die Beurteilung der klinischen Wirksamkeit stützt sich allein auf Surrogatparameter. Erkenntnisse über die Wirkung auf»harte Endpunkte«zum klinischen Nutzen liegen nicht vor. Während die Therapie mit SH und die konventionelle Insulintherapie die Einhaltung von vorgegebenen Diätregeln erfordern, ist mit Gliniden eine an den Ernährungsbedürfnissen orientierte, mahlzeitenbezogene orale Therapie möglich. Thiazolidindione (Glitazone) Thiazolidindione wie Rosiglitazon und Pioglitazon wirken als Liganden des Kernrezeptors PPAR-gamma (peroxisome proliferator-activated receptor-gamma) und aktivieren so die Transkription von Genen, die am Glucose- und Lipidmetabolismus beteiligt sind. Sie erhöhen die Insulinempfindlichkeit (»Insulinsensitizer«) in Muskel, Fettgewebe und Leber. Sie führen zu einer Hemmung der hepatischen Glucoseproduktion, Steigerung von Glucoseaufnahme und Glykogensynthese bei gleichzeitiger Senkung des Insulinspiegels. Sie sollen u. a. die Differenzierung von Präadipozyten zu Adipozyten fördern und die zur Arteriosklerose führende Proliferation glatter Muskelzellen der Arterienwand hemmen 153, 154, 155, 156. Thiazolidindione können mit SH oder Metformin kombiniert werden. Rosiglitazon und Pioglitazon sind in Deutschland nur für diese Kombinationstherapie zugelassen (s. Fachinformation). Die Therapie sollte stets mit der niedrigsten Einzeldosis begonnen werden. Es dauert in der Regel einige Wochen, bis der maximale Therapieeffekt eingetreten ist. Die Therapie mit Glitazonen führt zu einer Senkung der Nüchternblutglucose sowie einer signifikanten Senkung des HbA 1c. Bei der Kombination von Glitazonen mit SH oder Metformin kommt es zu synergistischen Effekten mit stärkerer Absenkung von Blutglucose und HbA 1c als unter Monotherapie 157, 158. Die Beeinflussung klinischer Endpunkte, wie Gesamt- oder diabetesbedingter Letalität oder diabetesbedingter Komplikationen, ist für Glitazone bislang nicht untersucht worden. Glitazone besitzen z. T. schwerwiegende unerwünschte Wirkungen. Der erste Vertreter dieser Substanzklasse, Troglitazon, wurde in den USA und Großbritannien wegen schwerer z. T. letaler hepatotoxischer Komplikationen vom Markt genommen. Rosiglitazon und Pioglitazon sollen nicht hepatotoxisch sein 159, was aber das Auftreten von hepatischen Komplikationen nicht ausschließt 160, 161, 162, 163, 164, 165. Dies gilt offenbar besonders bei Alkoholkonsum. Daher werden regelmäßige Leberenzymkontrollen angeraten. Leberfunktionsstörungen stellen eine Kontraindikation dar. Glitazone können zu Flüssigkeitsretention und Ödemen einschließlich Lungenödemen 166 führen und dabei auch das Entstehen einer Herzinsuffizienz fördern. Höheres Alter, Herz- oder Niereninsuffizienz, gleichzeitige Gabe von Insulin oder nichtsteroidalen Antiphlogistika führen zu einem häufigeren Auftreten bzw. der Verstärkung einer Herzinsuffizienz unter Glitazonen. Daher sind die Gabe von Rosiglitazon bei Patienten mit Herzinsuffizienz (NYHA I-IV) und die Kombination mit Insulin kontraindiziert. Die Gewichtszunahme 157 lässt sich aus den pharmakodynamischen Eigenschaften der Glitazone ableiten (s. o.). Langzeituntersuchungen müssen darüber Aufschluss geben, ob die Gewichtszunahme soweit führt, dass sie ihrerseits wiederum eine Insulinresistenz auslöst 167, 168, 169, 170. Als Ursachen für das erhöhte Anämierisiko werden die Flüssigkeitsretention und eine Zunahme der Fettzellen im Knochenmark diskutiert 171. Die klinische Bedeutung der Wirkung auf Differenzierung und Entdifferenzierung verschiedener Zelltypen ist noch unklar. Die Gabe von Rosiglitazon kann zur Erhöhung des Serumcholesterins (Gesamt-, VLDL-, LDL-, aber auch von HDL-Cholesterin) führen. Arzneimittelinteraktionen s. Tabelle 10 c. Zusammenfassung Die zusätzliche Blutzucker- und HbA 1c -senkende Wirkung von Rosiglitazon und Pioglitazon ist für die in Deutschland zugelassene Kombinationstherapie mit SH oder Metformin belegt. Obwohl die Glitazone mit einer Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

THERAPIE Verminderung der Insulinresistenz und dem daraus ableitbaren Synergismus zu anderen Antidiabetika prinzipiell über einen attraktiven Wirkungsansatz verfügen, lassen sich zum klinischen Nutzen und therapeutischen Stellenwert dieser Wirkstoffe endgültige Aussagen erst dann treffen, wenn weitere klinische Ergebnisse vorliegen und ihre Unbedenklichkeit durch Langzeiterfahrungen an größeren Patientenzahlen nachgewiesen wurde. Insulin Obwohl bei der Diagnosestellung eines Typ-2-Diabetes mellitus in aller Regel eine Insulinresistenz mit endogener Hyperinsulinämie vorliegt, ist die Insulintherapie bei ausreichender Dosierung wirksam, weil durch Erhöhung der Insulinkonzentration im Blut die Insulinresistenz überwunden werden kann. Allerdings sind häufig sehr hohe Insulindosen erforderlich 172, 173. In der UKPDS wurde durch die intensivierte Insulintherapie der HbA 1c -Wert um 0,8 % stärker gesenkt als bei konventioneller Therapie. Wenn durch Insulintherapie eine schwere Hyperglykämie beseitigt wird, kann es durch Nachlassen der Glucosetoxizität zu einer Abnahme des Insulinbedarfs kommen 174, 175. Ein Wirkungsverlust im Therapieverlauf tritt nicht ein. Insulintherapie führt bei Typ-2- Diabetes mellitus zu antiatherogenen Veränderungen der Lipoproteine: Gesamttriglyceride und VLDL sowie das Apoprotein B werden gesenkt, während die HDL und das HDL 2 -/HDL 3 -Verhältnis ansteigen 176, 177. Eine Insulintherapie birgt das Risiko von Hypoglykämien und unerwünschter Gewichtszunahme 130,131. Schwere Hypoglykämien kamen in der UKPDS 2,3-11 x pro 100 Patientenjahre vor 130. Die Gewichtszunahme war in der UKPDS größer als bei allen anderen Therapieformen 25. Insulin kann als Monotherapie oder in Kombination mit Metformin, SH, Acarbose oder Repaglinid gegeben werden. Durch Insulintherapie kann eine Senkung des HbA 1c -Wertes um etwa 10 % erreicht werden 25. Klinische Studien zeigen, dass mit einer intensivierten Insulinbehandlung das Risiko mikrovaskulärer Komplikationen 25 und der Neuropathie 27 im Vergleich zur konventionellen Therapie vermindert werden kann. Eine Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse durch eine Insulintherapie konnte bislang nicht nachgewiesen werden 25. Indikation Die Indikation zur primären Insulintherapie ist die gleiche wie zur Therapie mit OAD (s. S. 14). Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die primäre Insulinmonotherapie bei Typ-2-Diabetes mellitus von Vorteil für den Patienten ist. Es ist aber auch falsch, Insulin als Ultima Ratio der Therapie zu bezeichnen. Häufig wird die Indikation zur Insulintherapie bei einem Versagen der Therapie mit OAD gestellt. Dieses kommt wegen der regelhaft eintretenden Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung 97 oft vor. Es ist bei SH- Therapie mit einer Häufigkeit von 5-8 % 178, 179, 180, 181 pro Jahr zu erwarten und scheint bevorzugt bei Adipositas 182 vorzukommen. In diesen Fällen ist es naheliegend, zunächst sinnvolle Kombinationen von OAD zu testen. Manche Autoren ziehen es vor, sofort Insulin zu geben 103. Kontrollierte Studien zu dieser Entscheidung gibt es nicht. Bevor die Entscheidung zur Insulintherapie fällt, sollte geklärt sein, ob die Ursache der unzureichenden Stoffwechseleinstellung ein LADA (latent autoimmun diabetes in adults) 183, 184, 185, 186 ist, der die bei Typ-1-Diabetes mellitus indizierte Insulintherapie erfordert, ob eine vorübergehende Ursache des OAD-Versagens (Infekte, asymptomatischer Myokardinfarkt) oder ein echtes OAD-Versagen vorliegt. Davon hängt ab, ob eine passagere oder dauernde Insulintherapie angewendet werden soll. Trifft Letzteres zu, ist zu ent- Tabelle 11: Insuline. Wirkungskinetik, wichtige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI) Substanz/-gruppe Wirkung Eintritt (h) Dauer (h) Normalinsulin 1 4-1 2 5-7 NPH Insulin 1-2 12-20 Mischinsuline 1 4-1 12-20 Schnell wirkende Insulinanaloga Insulin lispro 0-1 4 3-4 Insulin aspart 0-1 4 3-4 Langwirkende Insulinanaloga Insulin glargin ca. 24 UAW: Hypoglykämien, Induktion einer Wahrnehmungsstörung für Hypoglykämien (hypoglycemic unawareness), Überempfindlichkeitsreaktion (gegen Begleitstoffe, sehr selten gegen Insulin), Refraktionsanomalien, Insulinödeme IA: Wirkung verstärkend: orale Antidiabetika, Octreotid, MAO-Hemmer, Anabolika, Alpharezeptorenblocker, Amphetamine, Phosphamide, Fluoxetin, Methyldopa, Captopril, Enalapril, Tetracyclin, Tritoqualin Wirkung abschwächend: Schilddrüsenhormone, Sympathomimetika, Danazol, Diazoxid, Chlorprothixen, Heparin, Lithiumcarbonat, trizyklische Antidepressiva Wechselhafte Wirkung: Alkohol, Reserpin, Salicylsäurederivate, Laxanzienabusus KI: keine 19 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002

THERAPIE 20 scheiden, ob die Insulintherapie als Monotherapie oder als Kombinationstherapie mit OAD durchgeführt werden soll. Letztere bietet gegenüber der Monotherapie Vorteile: Die Anwendung des Insulins ist einfacher als bei Monotherapie, da bei Letzterer meist nur eine intensivierte Therapie zum gewünschten Erfolg führt. Außerdem ist das Hypoglykämierisiko meist niedrig, Insulin kann eingespart und die Gewichtszunahme kann verhindert werden, wenn Insulin mit Metformin kombiniert wird 39, 131, 187. Präparate Heute werden fast nur noch Humaninsuline und neuerdings daraus entwickelte Insulinanaloga angewandt. Sie lassen sich in fünf Gruppen einordnen, die sich hinsichtlich ihrer Wirkungskinetik unterscheiden (Tabelle 11). Es gibt zahlreiche praktisch gleichwertige Präparate von humanem Normalinsulin mit einer Wirkdauer (bei subkutaner Injektion) von etwa 0,5-7 Stunden, Verzögerungsinsulin (Insulin- Isophan,»Neutral-Protamin-Hagedorn«= NPH) mit einer Wirkdauer von etwa 1-18 Stunden und der Kombination dieser Insuline. Die Insulinsubstitution sollte idealerweise die endogene Insulinsekretion imitieren. Diese besteht physiologischerweise in einem sehr schnellen Anstieg des Insulins im Blut bei Nahrungsaufnahme und einem raschen Abfall nach der Mahlzeit, sodass nach etwa 3-4 Stunden der Basalwert wieder erreicht ist. Dieser wird durch eine weitgehend konstante, vom zirkadianen Rhythmus und der Körperarbeit abhängige Basalsekretion aufrecht erhalten. Die Kinetik des subkutan injizierten Normalinsulins unterscheidet sich deutlich von der physiologischen Insulinsekretion. Seine Wirkung setzt wesentlich langsamer ein als die physiologische Frühsekretion nach Nahrungsreiz und hält um Stunden länger an als die physiologische Sekretion. Durch Einführen eines Spritz-Ess-Abstandes (Insulininjektion zeitlich vor der Nahrungsaufnahme) von meist 30-45 Minuten kann der Wirkungseintritt auf den Beginn der Mahlzeit eingestellt werden. Es bleiben aber der träge Anstieg des Plasmainsulins und die stark verlängerte Wirkung, die häufig eine Zwischenmahlzeit nach etwa 3-4 Std. erzwingen, um eine Hypoglykämie zu vermeiden. Einen pharmakokinetischen Vorteil bieten hier die Insulinanaloga Insulin lispro und Insulin aspart, die bei Gabe unmittelbar vor den Mahlzeiten die postprandialen Blutglucose-Spitzen ebenso gut oder besser senken als Normalinsulin, das mit einem Spritz-Ess- Abstand von 15-30 Minuten gegeben wird 188, 189. Zur prognostischen Bedeutung der postprandialen Hyperglykämie s. Seite 9. Die vorteilhafte Pharmakokinetik von Insulin aspart und lispro führt zu einer verbesserten postprandialen Glucosesenkung bei Diabetes mellitus Typ 2, jedoch nicht zu günstigeren HbA 1c -Werten im Vergleich zu Normalinsulin 188, 190, 191, 192. Ob durch Therapie mit Insulinanaloga die Langzeitprognose günstig beeinflusst wird, ist nicht bekannt. Untersuchungen zu klinischen Endpunkten wie z. B. diabetesbedingten Komplikationen oder zur Letalität liegen nicht vor. Unter Therapie mit Insulin lispro war in den meisten Studien die Häufigkeit leichter Hypoglykämien geringer. Die Mehrzahl der Studien zeigte dagegen keine Reduktion im Auftreten schwerer Hypoglykämien, was jedoch auch methodisch bedingt sein könnte 190, da die kombinierte Auswertung der Studien zu einem signifikanten Unterschied führte 193, 194. Die Bindung der Insulinanaloga an den Rezeptor des Wachstumsfaktors IGF-I (insulin-like growth factor-i) wurde mit mitogenen Effekten z. B. bei mikrovaskulären diabetischen Veränderungen wie der diabetischen Retinopathie, aber auch mit der Entstehung von Neoplasien in Zusammenhang gebracht 195. Es liegen jedoch für Insulin lispro keine Erkenntnisse vor, die auf ein vermehrtes Auftreten dieser unerwünschten Wirkungen hinweisen 196. Verzögerungsinsuline sind ursprünglich entwickelt worden, um täglich mehrmalige Insulinspritzen zu ersparen. Sie sollten in der Lage sein, die Insulin- Basalsekretion zu imitieren. NPH Insulin ist dafür aber nur bedingt geeignet, weil es ein eindeutiges Wirkungsmaximum mehrere Stunden nach der Injektion aufweist. Diese Eigenschaft ist für das Risiko nächtlicher Hypoglykämien verantwortlich. Eine NPH-Injektion spät vor dem Zubettgehen kann häufig das Problem lösen (s. u.). Das neue Insulin-Analogon Glargin besitzt eine über 24 Stunden anhaltende Wirkung, ohne ein ausgeprägtes Wirkungsmaximum aufzuweisen. Erste klinische Studien zum Typ-2-Diabetes weisen auf eine dem NPH Insulin vergleichbare blutzuckersenkende Wirkung 197 und eine verminderte Häufigkeit nächtlicher Hypoglykämien 101 unter Insulin glargin hin. Weitere klinische Studien sind erforderlich um zu zeigen, ob es auch zu einer verbesserten Stoffwechsellage und zu einer Reduktion klinischer Endpunkte kommt. Dabei ist auch anderen Sicherheitsaspekten Rechnung zu tragen. Beobachtungen über eine schnellere Progression der diabetischen Retinopathie wurden mit einem erhöhten mitogenen Potenzial 195 von Insulin glargin in Zusammenhang gebracht. Langzeituntersuchungen, die über diese wichtige Frage u. a. mögliche Folgewirkungen einer erhöhten Mitogenität Auskunft geben, sind daher erforderlich, bevor eine gesicherte Nutzen-Risiko- Bewertung vorgenommen werden kann 198. Mischinsuline sind Kombinationen von NPH Insulin und Normalinsulin im Mischungsverhältnis von 90-50 % NPH zu 10-50 % Normalinsulin. Neuerdings werden anstelle von Normalinsulin auch die Insulinanaloga Lispro und Aspart Insulin mit NPH Insulin gemischt. Die Wirkungskinetiken beider Insuline bleiben unabhängig voneinander erhalten und führen zu einem synergistischen Effekt. Die Anwendung inhalativer Insuline befindet sich noch im Experimentalstadium. Erste orientierende Studien zum Diabetes Typ 1 und 2 erbrachten vergleichbare Blutzuckerprofile und HbA 1c -Werte wie die injizierten Vergleichsinsuline 199, 200. Die Notwendigkeit spezieller Inhalationsgeräte, deutlich höhere Insulindosen, die notwendig Diabetes mellitus ~ 1. Auflage 2002 Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft