BUNDESMINISTERIUM FÜR UNTERRICHT UND KUNST. Tel. :

Ähnliche Dokumente
Rundschreiben Nr. 77/1995. Verteiler: VII, N Sachgebiet: Unterrichtsprinzipien Inhalt: Gleichstellung der Geschlechter Geltung: unbefristet

Volkstrauertag 13. November 2016

Imperialismus und Erster Weltkrieg Hauptschule Realschule Gesamtschule Gymnasium Inhaltsfeld 8: Imperialismus und Erster Weltkrieg

Der zweite Weltkrieg

Informieren und Erinnern: die Euthanasie-Verbrechen und die Tiergarten-Straße 4 in Berlin

Geschichte und Geschehen für das Berufskolleg. 1 Lebensformen früher und heute. 1.1 Fit für die Zukunft? Jugend in einer Gesellschaft im Wandel

Grußwort von. zur Veranstaltung des. im Oberlandesgericht Düsseldorf

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

1918, 1938, 2008: Geschichte im Spiegel der Forschungsergebnisse von GfK Austria. Mag. Svila Tributsch und Univ.-Doz. Dr. Peter A.

Wir befinden uns an einem Ort, an dem schreckliche Verbrechen. begangen wurden. Und wir wissen, dass die Verbrechen, die an diesem

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Schulinterner Lehrplan Geschichte Görres-Gymnasium

Leitbild des Max Mannheimer Studienzentrums

Deutschland, Europa und die Welt bis zur Gegenwart. herausgegeben von Dieter Brückner C.C.BUCHNER

Wir feiern heute die Wiedererrichtung unserer demokratischen Republik Österreich vor genau 60. Jahren, am 27. April 1945.

Die Erinnerung an den beispiellosen Zivilisationsbruch

Anlass und Ziel. Das Fest der Freude 2013

Rede von BrigGen Werner Albl anlässlich der Gedenkstunde zum Volkstrauertag am 13. November 2016 in Müllheim (Es gilt das gesprochene Wort)

Inhalt. 1 Demokratie Sozialismus Nationalsozialismus. So findet ihr euch im Buch zurecht... 10

ÖSTERREICHS GESCHICHTE

2.1 Bezug zu den Bildungsplänen in Baden-Württemberg

Rede anlässlich der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Ungarischen Revolution Budapest, 22. Oktober 2006

Stoffverteilungsplan zum Fach Gemeinschaftskunde Buch: Geschichte und Geschehen - Berufliche Oberstufe (416300)

Martina Zandonella 14. November SORA Institute for Social Research and Consulting Bennogasse 8/2/ Wien

Peter Boenisch in einem Kommentar der Zeitung BILD am Sonntag am 13. Dezember 1970:

DIE ZEIT BLEIBT NICHT STEHEN

Rede von Bürgermeister Bodo Klimpel zum Volkstrauertag, Samstag, 13. November 2010, Uhr Mahnmal Römerstraße

Inhaltsverzeichnis. Vom Imperialismus in den Ersten Weltkrieg 10. Nach dem Ersten Weltkrieg: Neue Entwürfe für Staat und Gesellschaft

BUNDESGESETZBLATT FÜR DIE REPUBLIK ÖSTERREICH. Jahrgang 2001 Ausgegeben am 23. Jänner 2001 Teil III

Entschließung des Bundesrates zur Erklärung des 8. Mai als Tag der Befreiung zum nationalen Gedenktag

1 - Es gilt das gesprochene Wort! - - Sperrfrist: , Uhr -

WIR ROLLEN DIE GESCHICHTE DER REPUBLIK ÖSTERREICH AUF

Dresden, 29. September Forum Mitteleuropa

I. Auschwitz Symbol für Kernschmelze unserer Zivilisation. Worum es heute hier im Bayerischen Landtag geht?

Inhalt. Vorwort 5 Didaktische Überlegungen 6

Begegnung auf Augenhöhe

6215/J XXIV. GP. Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind möglich. ANFRAGE

Erziehung zur Gleichstellung

Stoffverteilungsplan. Pflichtmodul: Nationalsozialismus und deutsches Selbstverständnis

Inhalt. Vorbemerkung 11

Grußwort für Herrn Landrat Bensberg zur Veranstaltung Gedenkkreis Wehnen im Festsaal der Karl-Jaspers-Klinik am um 14.

Ich möchte meine Ansprache zum heutigen Gedenktag an die. Opfer des Nationalsozialismus an diesem Ehrenhain in

DIE FOLGEN DES ERSTEN WELTKRIEGES Im Jahr 1918 verlieren die Deutschen den Ersten Weltkrieg und die Siegermächte GROßBRITANNIEN, FRANKREICH und die

Ausführungen von Gert Hager, Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, anlässlich der Gedenkfeier am auf dem Hauptfriedhof

Geschichte erinnert und gedeutet: Wie legitimieren die Bolschewiki ihre Herrschaft? S. 30. Wiederholen und Anwenden S. 32

GEDENKERKLÄRUNG DES MINISTERRATS ZUM SIEBZIGSTEN JAHRESTAG DES ENDES DES ZWEITEN WELTKRIEGS

DIE ZEIT VERGEHT... Nr. 1446

Zur NS-Herrschaftspraxis: Statt Sozialismus - Sozialdarwinismus und Rassenideologie

Erinnerungskultur und Genozid im Schulunterricht in Deutschland: Ein vergleichender Überblick über Rahmenrichtlinien

Krieg und Frieden in der Tschechischen Nationalgeschichte PETER MORÉE ETF KU

Rede von Frau Bürgermeisterin Maria Unger anlässlich des Beitritts der Stadt Gütersloh zum Riga-Komitee, , Uhr, Haus Kirchstraße 21

- Es gilt das gesprochene Wort! - - Sperrfrist: , 18:00 Uhr -

Stoffverteilungsplan Baden Württemberg

R u n d s c h r e i b e n Nr. 80/1994

30. Januar 2009 Thomas Lutz - Stiftung Topographie des Terrors 1

Sperrfrist: Uhr. Rede des Präsidenten des Nationalrates im Reichsratssitzungssaal am 14. Jänner 2005 Es gilt das gesprochene Wort

Dr. Harald Walser, Abg. z. NR. Grüner Klub im Parlament Wien. An die. Staatsanwaltschaft Feldkirch. Schillerstr. 1.

Grußwort des Bayerischen Staatsministers für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, Dr. Ludwig Spaenle, bei der Buchpräsentation

André Kuper Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen

Erinnern für die Zukunft:

Europawahlen vom Juni Die Demokratie in Europa stärken

Bericht zum Schutz von Opfern von Gewalt und Missbrauch:

GEISTES- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN

Rede anlässlich des Volkstrauertages 2012 in Übach-Palenberg. Herr Bürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren,

Landtag Brandenburg 6. Wahlperiode. Drucksache 6/1123. Gesetzentwurf der SPD-Fraktion, der Fraktion DIE LINKE, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Liebe Kollegin! Lieber Kollege! Inhaltsverzeichnis

Grußwort. von. Hartmut Koschyk MdB Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten

Selbstüberprüfung: Europa und die Welt im 19. Jahrhundert. 184

SEILSCHAFT DURCH DIE GESCHICHTE

Rede zum Volkstrauertag Dieter Thoms

ÖSTERREICH IM WANDEL DER ZEIT

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

NATIONALISMUS, NATIONALSTAAT UND DEUTSCHE IDENTITÄT IM 19. JAHRHUNDERT 8

Es gilt das gesprochene Wort!

Schulinternes Curriculum Sek. II Geschichte des Gymnasium der Stadt Frechen Q2

SWR2 DIE BUCHKRITIK SWR2 MANUSKRIPT. Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. Residenz Verlag. 115 Seiten. 17,90 Euro

Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Förderung der Menschenrechtserziehung in der Schule

Qualifikationsphase - GK

Die 1. Republik. erstellt von Alexandra Stadler für den Wiener Bildungsserver

Gesetzestext (Vorschlag für die Verankerung eines Artikels in der Bundesverfassung)

Ansprache am Ehrenmal Schützenfestsamstag 2012

Ekkehard Völkl RUMÄNIEN. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Verlag Friedrich Pustet Regensburg Südosteuropa-Gesellschaft München

ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTE seit 1945

Ansprache bei der Veranstaltung der Gemeinschaft Sant Egidio zum Gedenken an die Deportation der Juden aus Würzburg am 28.

1 - Es gilt das gesprochene Wort! - - Sperrfrist: , 11:00 Uhr -

BAYERISCHES SCHULMUSEUM ICHENHAUSEN

Es gilt das gesprochene Wort. Sperrfrist: Redebeginn

Begrüßungsrede zur Zentralen Gedenkstunde am Volkstrauertag. im Deutschen Bundestag Sonntag, den 15. November 2015 Markus Meckel

Geschichte und Geschehen Ausgabe A (Berlin) Band 3 (ISBN ) Schule: Lehrer:

Volkstrauertag ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert oder notwendiger denn je?

STADTSCHULRAT FÜR WIEN ERI : 603

BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

Lehrstoffverteilung Band 2 AHS

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: 46 Kreuzworträtsel Geschichte: Von 1900 bis heute

Wolfgang Benz. Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich. VerlagC. H.Beck

Rede zum Volkstrauertag 2015

Transkript:

BUNDESMINISTERIUM FÜR UNTERRICHT UND KUNST GZ 33.466/272-1/11/91 Sachbearbejterjn : Kmsr, Mag. Sigrid STEININGER Tel. : 53120-4326 An die Landesschulräte (Stadtschulrat für Wien) An die Direktionen der Pädagogischen und Berufspädagogischen Akademien An die Direktionen der Zentrallehranstalten Nationalfeiertag 1991 Aus Anlaß des Nationalfeiertages und der Bedeutung für die Gegenwart sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, stellt das Bundesministerium für Unterricht und Kunst in der Beilage allen Schulen den Text der von Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky am 8. Juli 1991 vor dem Nationalrat gehaltenen Rede zur Verfügung. In dieser Rede wies der Bundeskanzler aus Anlaß des Krieges in Jugoslawien darauf hin, daß man die Probleme von heute nicht verstehen kann ohne die Geschichte zu kennen. Gerade im Hinblick auf ein neues Europa legte der Bundeskanzler namens der ästerreichischen Regierung das Bekenntnis "zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bäsen" ab. A-1014 WIEN MINORITENPLATZ 5 POSTFACH 65

Publikationen stehen den Schulen kostenlos zur Verfügung. Bestellungen sind schriftlich (mit Schulstempel) an das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Abteilung für Politische Bildung, z.hd. Frau Spaniel, Minoritenplatz 5, 1014 Wien, zu richten. Es wird ersucht, den Erlaß im do. Bereich allen Lehrer/innen sowie Eltern und Schülervertreter/innen bekanntzugeben. Beilage Wien, 11. Oktober 1991 Der Bundesminister : Dr. Scholten

Auszug aus der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers im Nationalrat Wien, 8. Juli 1991 Zur Verfügung gestellt vom Bundespressedienst Es gilt das gesprochene Wort Hohes Haus! Ich bin überzeugt davon, daß wir alle gelernt haben und darin übereinstimmen, daß man die Probleme Jugoslawiens aber auch anderer Staaten in diesem Raum, in dem wir leben, nicht verstehen kann, ohne auch die Geschichte dieses Raums zu kennen und sich damit sorgfältig und ehrlich auseinanderzusetzen. Dies gilt selbstverständlich auch für Österreich. Wenn Österreich in all diesen dramatischen und aktuellen Fragen als Gesprächspartner 1

ernst genommen werden will, wenn wir haben wollen, daß unsere Diskussionsbeiträge zu den Problemen in Mitteleuropa als sachgerecht und mit moralischer Autorität ausgestattet betrachtet werden, dann müssen wir auch in der Bewertung unserer eigenen Geschichte die strengsten Maßstäbe anlegen und dürfen vor einer klaren Sprache nicht zurückschrecken. Wir erleben heute den Anbruch einer neuen Ära in Europa, eine einzigartige Zäsur zwischen dem, was dieser Kontinent noch gestern war, und was er von nun an werden kann. Damit meine ich nicht nur das Ende der Konfrontation zwischen Ost und West, das Ende der Mauern und Stacheldrahtzäune. Es ist auch das Ende der letzten Diktaturen auf diesem Kontinent, die Überwindung auch des letzten Erbes einer Vergangenheit, in der so viel Unheil über die Völker Europas gebracht worden ist. Europa setzt neue Maßstäbe für sich selbst. Es sind die Maßstäbe der Freiheit und der Menschenrechte und der Demokratie. Maßstäbe für das Benehmen aller Regierungen ihren eigenen Völkern gegenüber und Maßstäbe für das Benehmen der Staaten untereinander. Alle europäischen Nationen haben das ihre dazu beizutragen, um diese neue Ära Wirklichkeit werden zu lassen 2

Daher ist es nicht zulässig, daß Zeiten, in denen eine Diktatur soviel Leid über die Menschen gebracht hat, eine Diktatur, zu deren Zielen von Anfang an Verfolgung und Krieg gehörten, daß auch nur irgendein Aspekt dieser Zeit von heutigen Trägern politischer Verantwortung in unserem Land positiv bewertet wird. Gerade wir in Österreich müssen wissen, was es geheißen hat, Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit zu verlieren. Auch und gerade, weil es nicht wenige Österreicher gab, die vom größeren Reich und seinen größeren wirtschaftlichen Möglichkeiten viel erwartet hatten. Doch im Namen dieses Reiches wurden hunderttausende Österreicher eingekerkert, vertrieben oder ermordet und mehr als 250.000 sind im Krieg umgekommen. Das war das Unheil, das die NS-Diktatur über unser Land gebracht hat. Viele haben Widerstand geleistet und dabei ihr Leben für Österreich gegeben. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß es nicht wenige Österreicher gab, die im Namen dieses Regimes großes Leid über andere gebracht haben, die Teil hatten an den Verfolgungen und Verbrechen dieses Reichs. Und gerade, weil wir unsere eigene leidvolle Erfahrung in dieses neue Europa einbringen wollen, gerade weil wir in den letzten Tagen so nachdrücklich daran erinnert werden, was Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrechte für 3

kleine Völker bedeuten, gerade deshalb müssen wir uns auch zu der anderen Seite unserer Geschichte bekennen : zur Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben. Es ist unbestritten, daß Österreich im März 1938 Opfer einer militärischen Aggression mit furchtbaren Konsequenzen geworden war : die unmittelbar einsetzende Verfolgung brachte hunderttausende Menschen unseres Landes in Gefängnisse und Konzentrationslager, lieferte sie der Tötungsmaschinerie des Nazi-Regimes aus, zwang sie zu Flucht und Emigration. Hunderttausende fielen an den Fronten oder wurden von den Bomben erschlagen. Juden, Zigeuner, körperlich oder geistig Behinderte, Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten, politisch oder religiös Andersdenkende - sie alle wurden Opfer einer entarteten Ideologie und eines damit verbundenen totalitären Machtanspruchs. Dennoch haben auch viele Österreicher den Anschluß begrüßt, haben das nationalsozialistische Regime gestützt, haben es auf vielen Ebenen der Hierarchie mitgetragen. Viele Österreicher waren an den Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen des Dritten Reichs beteiligt, zum Teil an prominenter Stelle. 4

Über eine moralische Mitverantwortung für Taten unserer Bürger können wir uns auch heute nicht hinwegsetzen. Vieles ist in den vergangenen Jahren geschehen, um, so gut dies möglich war, angerichteten Schaden wieder gut zu machen, angetanes Leid zu mildern. Vieles bleibt nach wie vor zu tun, und die Bundesregierung wird auch weiterhin alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um jenen zu helfen, die von den bisherigen Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend erfaßt, oder bisher in ihren moralischen oder materiellen Ansprüchen nicht berücksichtigt wurden. Wir bekennen uns zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen ; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen - bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten. Dieses Bekenntnis haben österreichische Politiker immer wieder abgelegt. Ich möchte das heute ausdrücklich auch im Namen der Bundesregierung tun ; als Maßstab für das Verhältnis, das wir heute zu unserer Geschichte haben müssen, also als Maßstab für die politische Kultur in unserem Land ; aber auch als unseren Beitrag zur neuen politischen Kultur in Europa. 5