Michaela Follner Archivar ohne Ausbildung Praxisorientierte Analyse des Gehobenen Dienstes im Österreichischen Staatsarchiv Das archivarische Berufsbild unterlag in den vergangenen Jahrzehnten großen Veränderungen. Neue Medien, der Umgang mit Massenschriftgut sowie nicht zuletzt die veränderten Erwartungen der Öffentlichkeit an Archive erforderten einen grundlegenden Wandel in der archivarischen Arbeitspraxis. Diesen Veränderungen sollte auch die Ausbildung der Archivare Rechnung tragen. Das ist aber zumindest für den Bereich des Gehobenen Dienstes nicht geschehen. In Deutschland gibt es die verpflichtende Ausbildung an der Archivschule Marburg und bereits seit dem 69. Deutschen Archivtag in Münster eine Diskussion um verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten dieser Diplomarchivare. 1 Für den gehobenen Archivdienst ist eine dreijährige verwaltungsinterne Ausbildung mit 18-monatiger Absolvierung des Lehrangebotes der Archivschule vorgeschrieben. Die praktische Ausbildung bringt einen Einblick in den Umgang mit den Behörden, die Bewertung und das Erschließen von Archivgut, den Umgang mit Benutzern, Anfragenbeantwortung sowie Öffentlichkeitsarbeit der Archive. In der theoretischen Ausbildung werden Archivwissenschaft mit Bestandserhaltung, Archivrecht und Archivgeschichte, historische Hilfswissenschaften des Mittelalters und der Neuzeit, Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte sowie Rechtsgeschichte gelehrt. Die Kandidaten erlernen archivische Arbeitsmethoden und den Umgang mit Materialien von den ältesten Urkunden bis zum elektronischen Akt. Ziel ist es, Fähigkeiten zu erlangen, um fast jedes Schriftstück identifizieren und in seine Entstehungszusammenhänge sowie in das zeitliche Umfeld einordnen zu können. Auch Unterweisungen zur Bewahrung der Unterlagen vor zerstörerischen Einflüssen sowie zur Wahrung von Rechten der in den Schriftstücken genannten Personen werden angeboten. Den Abschluss bildet die Prüfung zum Diplomarchivar. In Österreich gibt es eine Ausbildungsmöglichkeit für Archivare des Höheren Dienstes, den Kurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IfÖG). Dieser war bis 1980 verpflichtend für eine Definitivstellung im Österreichischen Staatsarchiv und auch in den meisten Landesarchiven. Seit 1927 1 Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen, Beiband 4, 2000. 21
mussten auch die mittleren Beamten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv eine Prüfung am IfÖG absolvieren, um in die höchste Verwendungsgruppe des Mittleren Dienstes aufsteigen zu können. 2 Heute müssen Archivare des Gehobenen Dienstes eine kommissionelle Staatsprüfung vor einem wissenschaftlichen Beamten des Österreichischen Staatsarchivs, in der Regel dem Generaldirektor, ablegen. Die Kenntnisse der österreichischen Geschichte seit 1740, der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, weiters Verfassungskunde, Dienstrecht und Archivkunde werden dabei geprüft. Im schriftlichen Teil sind Konzepte und Reinschriften in lateinischer Sprache sowie in einer lebenden Fremdsprache des 18. und 19. Jahrhunderts zu transkribieren; weiters muss eine Ordnungsarbeit durchgeführt und ein Erledigungsentwurf auf Grund vorgelegter Akten und Behelfe erstellt werden. Die Prüfungsordnung ist im BGBl. Nr. 329 aus dem Jahre 1977 festgelegt und hat sich bis heute nicht geändert. Im Zuge der Vorbereitung für diesen Aufsatz stieß ich auf eine Arbeit von Rudolf Fitz aus dem Jahre 1961. 3 Darin werden die Aufgaben und Tätigkeitsmerkmale der Archivare des Gehobenen Dienstes beschrieben. Breiter Raum wird der Berufsneigung und -eignung gewidmet. Sprachenkenntnisse, geschichtliches Interesse, logisches Denkvermögen, Forschungsdrang und Geduld sind einige der dabei geforderten Eigenschaften. Als wichtige Aufgabe nennt auch er die Unterstützung der Archivare des Höheren Dienstes, die dadurch Zeit für wissenschaftliche Tätigkeiten erhalten sollen. Aber auch Archivare des Gehobenen Dienstes sollen die Möglichkeit eigener wissenschaftlicher Forschungen erhalten. Ein Umstand, der, als ich vor 27 Jahren meinen Dienst im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Kriegsarchiv, antrat, noch die Regel war. Im Jahre 1955 waren 24 A- und 20 B-Bedienstete im Österreichischen Staatsarchiv beschäftigt, eine Zahl, die exakt dem heutigen Stand entspricht. Jedem Akademiker war eine bestimme Gruppe von Archivkörpern als Referat bzw. Abteilung zugewiesen. Die Aufgabenbereiche waren klar definiert. Den Archivaren des Höheren Dienstes oblag in erster Linie der wissenschaftliche Dienst in den Archiven. Die Bediensteten der Verwendungsgruppe B wurden zur Unterstützung der akademischen Beamten bei Erhebungsarbeiten und beim Benützerdienst, zur Aushebung und Rückstellung von Archivalien, Ordnungsarbeiten, Verbindungsdienst zu den Behörden sowie zur Beantwortung einfacherer Anfragen herangezogen. Die Ausbildung erfolgte vor Ort und wurde von den akademischen Kollegen geleitet. 2 3 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Gesamtinventar, Wien 1936, Bd. 1, S. 112*. Fitz, Rudolf: Archivar (gehobener Dienst). Blätter zur Berufskunde, Band 3. Bertelsmann 1961. 22
Meine eigene Ausbildung gestaltete sich folgendermaßen: In kleinen Schritten wurden das Lesen alter Schriften, Fachausdrücke und eine allgemeine Einführung ins Archivwesen und die österreichische Geschichte vermittelt. Nach drei Jahren wurde ich ins Haus-, Hof- und Staatsarchiv versetzt und meine Ausbildung fortgesetzt und intensiviert. Gemeinsam mit einem akademischen Kollegen lernte ich das Bewerten von Akten, die Erschließung von Beständen und bekam auch einen kleinen Einblick in die Urkundenlehre und die Siegelkunde. Im Jahre 1987 wurde eine neue Abteilung, das Archiv der Republik, eingerichtet und damit wurden Bedienstete aus anderen Abteilungen abgezogen. Diese waren zum großen Teil Archivare des Gehobenen Dienstes. Dies erforderte Änderungen im Aufgabenbereich. Die B-Bediensteten erhielten nun Bestände zur alleinverantwortlichen Betreuung zugewiesen. Neu eintretende Kollegen wurden und werden nur noch kurz in die Bestände eingeschult und es lag nun an ihnen selbst, wie weit sie sich mit Behördengeschichte, Archivwesen und anderen für diesen Beruf wichtigen Themenkreisen auseinandersetzten. Kenntnisse der Schriftgeschichte und Genealogie sowie Urkunden-, Wappenund Siegelkunde sind in dieser Abteilung nicht so wichtig wie in den älteren Abteilungen. Vorrangig waren und sind die Bewertung der Archivalien, die Probleme beim Verwahren von Massenschriftgut generell sowie die Archivierung neuer Medien. Dabei handelt es sich um Tätigkeiten, die ohne Ausbildung schier undurchführbar sind; zu groß sind die Gefahren unwiederbringlicher Schäden, die dabei angerichtet werden können. In der Archivschule Marburg werden für diesen Komplex in etwa 50 Vorlesungsstunden aufgewendet. Die Archivare des Gehobenen Dienstes sind sich, wie schon erwähnt, in ihrer Ausbildung größtenteils selbst überlassen. Dabei geht die Gemeinsamkeit in der archivtheoretischen Grundlage verloren. Das führt dazu, dass Archivare nach eigener Kenntnis und Erkenntnis individuelle Entscheidungen über Verzeichnung, Ordnung und Skartierung fällen, ein Umstand, der ein Archiv ziemlich belasten kann. Die Unterweisung neuer Kollegen ist den einzelnen Abteilungen überlassen und wird auch unterschiedlich gehandhabt. Erst mit der Installierung eines Archivinformationssystems wurden abteilungsübergreifende Standards formuliert und die Umsetzung ist im Augenblick im Gange. Dies betrifft aber nur die Erfassung der Archivalien, problematisch bleibt weiterhin die Ordnung der Bestände. Die Ausbildung der B-Bediensteten wurde bereits Mitte der 70er Jahre thematisiert. Immer wieder beschäftigten sich Archivare mit diesem Problem, man kam jedoch einer Lösung nicht näher. Der Vergleich mit anderen Staaten, vor allem mit Deutschland, lässt erkennen, dass die in Österreich geforderten Kenntnisse bei der Pragmatisierungsprüfung nur einen kleinen Teil der für diese Profession notwendigen Grundlagen umfassen. Die Ausbildung an der 23
Archivschule Marburg dauert 18 Monate und neben Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Verfassungskunde, Dienstrecht und Archivkunde werden noch Quellenkunde, Archivtechnik, Dokumentations- und Informationskunde gelehrt und zusätzlich Sprachkurse angeboten. Auch Öffentlichkeitsarbeit und Datenverarbeitung, Hilfswissenschaften sowie Archivwissenschaft sind im Vorlesungsangebot enthalten. Natürlich haben wir uns in der jahrelangen Praxis viele Kenntnisse angeeignet, jedoch war in den Gesprächen mit meinen Kollegen der Wunsch nach einer verpflichtenden Ausbildung deutlich spürbar. Als größtes Defizit wurden das Fehlen der Ausbildung in neuzeitlicher Paläographie sowie in den Grundzügen der Aktenkunde genannt. Wie kann eine Lösung aussehen? Eine Archivschule wie in Marburg ist für Österreich sicherlich auf Grund der Größe des Landes nicht tragbar. Also bleibt nur die Möglichkeit, verpflichtende Seminare abzuhalten. In den letzten Jahren hat das Österreichische Staatsarchiv bereits Schritte in diese Richtung unternommen. Finanzielle Mittel, die aus der Flexiklausel 4 erwirtschaftet werden konnten, wurden dafür eingesetzt. Die angebotenen Kurse wurden auf freiwilliger Basis angeboten; der Zuspruch war beachtlich. Da das Staatsarchiv eine Reihe von hervorragend ausgebildeten ArchivarInnen des Höheren Dienstes beschäftigt, wäre es zum Beispiel vorstellbar, dass diese KollegInnen Seminare abhalten. Eine diesbezügliche Verflechtung mit anderen Archiven Österreichs wäre dabei sicherlich ein mittelfristiges Ziel. Die dabei verloren gehende Arbeitszeit der Archivarinnen und Archivare würde durch effizientere Bewältigung der Aufgaben nach erfolgreicher Absolvierung dieser Kurse sicherlich wettgemacht. Auch ein Rotationsprinzip zwischen den einzelnen Abteilungen wäre vor allem im Hinblick auf die Forscherbetreuung wünschenswert. Manche Landesarchive verzichten ganz auf Archivare des Gehobenen Dienstes und forcieren die Ausbildung der Beamten des Mittleren Dienstes. Auch der Lehrberuf Archivar wird ernsthaft ins Auge gefasst. Bei all den unterschiedlichen Ansätzen sollte man aber nicht darauf verzichten, eine gemeinsame Linie zu finden, und die Ausbildungsfrage für den Gehobenen, aber auch den Mittleren Dienst österreichweit einheitlich zu lösen. 4 Der 17a des Bundeshaushaltsgesetzes räumt ausgewählten Organisationseinheiten die Möglichkeit ein, in Erfüllung ihrer vereinbarten Leistungsvorgaben über einen bestimmten Projektzeitraum (mit Beschluss des Budgetausschuss vom 21.5.2002 wurde die Gültigkeit der Flexiklausel bis 31.12.2006 verlängert) ihre Einnahmen und Ausgaben eigenverantwortlich zu steuern. 24
Der Internationale Archivrat hat im Jahre 1996 einen Ethik-Kodex für Archivare und Archivarinnen definiert. Punkt 9 besagt, dass Archivare stets die Entwicklung ihres beruflichen Könnens durch systematische und ständige Fortund Weiterbildung ihrer Berufskenntnisse zu verfolgen und die Ergebnisse ihrer Forschungen und Erfahrungen mit anderen zu teilen haben. Unsere Archive sichern das historische Erbe, wir verwahren einzigartige Dokumente und sollten das in der zu Gebote stehenden Demut, aber auch mit größtmöglicher Fachkenntnis tun. In einem Zeitalter der Einsparungen sind wissenschaftliche Institutionen einer harten Prüfung ausgesetzt. Diese können wir nur bestehen, wenn die Qualität unserer Arbeit unbestritten ist. Dazu sind Ausbildung und ständige Weiterbildung, nicht Selbstüberschätzung und Arroganz nötig. Literatur: Auer, Leopold: Die Berufsausbildung der französischen Archivare. In: Scrinium Heft 3/1970, S. 47f. Blaas, Richard: Der Archivar und seine Berufsausbildung. In: Scrinium, Heft 1/1969, S. 7f. Blaas, Richard: Reformvorschläge zur Archivarsausbildung. In: Scrinium Heft 6/1972, S. 20f. Blaas, Richard: Zur Problematik der Archivarsausbildung. In: Scrinium Heft 16/1977, S. 3f. Brübach, Nils: Archivarsausbildung an der Archivschule Marburg. Vortrag am 67. Deutschen Archivtag in Darmstadt 1996. Dülfer, Kurt: Probleme und Erfahrungen bei der deutschen Archivarsausbildung. In: Scrinium Heft 2/1970, S. 25f. Eckhardt, Wilhelm A.: Wissenschaftliche Archivarsausbildung in Europa. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 14, 1989. Fichtenau, Heinrich: Die Ausbildung von Archivaren am Institut für österreichische Geschichtsforschung. In: Scrinium Heft 17/1977, S. 46f. Fitz, Rudolf: Archivar (gehobener Dienst). Blätter zur Berufskunde, Band 3. Bertelsmann 1961. Gasser, Peter: Die Ausbildung der Archivare in Österreich. Archivum 5/1954. Goldinger, Walter: Die Anstellungserfordernisse für den höheren Archivdienst. In: Scrinium Heft 2/1970, S. 37f. Gössi, Anton: Der Schweizer Archivar und seine Ausbildung. In: Scrinium Heft 17/1977, S. 36f. Hageneder, Othmar: Die wissenschaftliche Ausbildung der österreichischen Archivare. In: Scrinium Heft 36/37/1987, S. 239f. Jörgensen, Harald: Die Ausbildung des Archivpersonals in den skandinavischen Ländern. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 35f. Kaltenbrunner, Angela: Die Ausbildung von Wirtschaftsarchivaren. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 26f. Moritz, Werner: Vorschriften zur archivarischen Ausbildung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 16, 1992. Niederstätter, Alois: Weiterbildungstagung für Gemeindarchivare in Vorarlberg. In: Scrinium Heft 31/1984, S. 32f. Pansini, Giuseppe: Die Ausbildung der Archivare in Italien. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 31f. Philippi, Hans: Die Archivschule Marburg. In: Scrinium Heft 17/1977, S. 7f. Rausch, Wilhelm: Gedanken eines Kommunalarchivars zur Ausbildung der österreichischen Archivare. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 14f. Rossa, Karl: Die Ausbildung der Beamten des gehobenen Archivdienstes. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 21f. 25
Rumschöttel, Hermann: Die Archivarsausbildung in Bayern. In: Scrinium Heft 17/1977, S. 19f. Sand, Carola: Berufsausbildung in Archiven, Bibliotheken, Informations- und Dokumentationsstellen sowie Bildagenturen. Berlin 1997. Stundner, Franz: Ausbildung der Landesarchivare. In: Scrinium Heft 18/1978, S. 8f. Weber, Wolfgang: How to become an Archivist or a Records Manager? Ein Erfahrungsbericht zur Ausbildung von Archivbediensteten in Großbritannien. In: Scrinium Heft 56/2002, S. 91f. 26