Rezidive nach bimaxillären Operationen bei Patienten mit Klasse II- und Klasse III-Verzahnung

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Transkript:

Diplomarbeit Rezidive nach bimaxillären Operationen bei Patienten mit Klasse II- und Klasse III-Verzahnung eingereicht von Patricia Haberl Geb.Dat.: 18.12.1986 zur Erlangung des akademischen Grades Doktor(in) der gesamten Heilkunde (Dr. med. univ.) an der Medizinischen Universität Graz ausgeführt an der Universitätsklinik für Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgie unter der Anleitung von Univ.-Prof. DDr. Günter Schultes und Univ.-Prof. Dr. Hans Kärcher Univ. Ass. DDr. Lucia Gerzanic Graz, am 21.10.2013

Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Graz, am 21.10.2013 ii

iii

Vorwort Die Entscheidung, zu welchem Themengebiet ich meine Diplomarbeit verfassen wollte, stand schnell fest, da mein Interesse im Bereich der Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgie schon sehr bald im Laufe des Studiums erweckt wurde. Ursprünglich tendierte ich zu einem reinen Zahnmedizinstudium, das aufgrund meiner ersten Famulatur auf einer Abteilung für Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgie abrupt auf ein Doppelstudium in Human- und Zahnmedizin geändert wurde. Handanlegen, präzise Feinarbeit und gute kosmetische Ergebnisse, sind Fertigkeiten und Ziele, die meiner Meinung nach inbesondere im Kopfbereich eine chirurgische Herausforderung darstellen, die gleichzeitig einen Eingriff eines nach außen sichtbaren Intimbereichs des Patienten bedeuten, dessen Endresultat großen Einfluss sowohl auf innere als auch auf äußere Zufriedenheit des Patienten wiederspiegelt. Im Zuge meiner Ausbildung gewann ich nach und nach immer mehr Einblick in die Mund- Kiefer und Gesichtschirurgie und bekam schlussendlich von DDr. Lucia Gerzanic ein Diplomarbeitsthema an der klinischen Abteilung für MKG angeboten. Dieses beinhaltete zu meiner Freude nicht nur einen retrospektiven auf Literaturrecherche basierenden Teil, sondern auch eine prospektive mit selbständigem Arbeiten verbundene Studie. Zusammenfassend entstand daraus meine Diplomarbeit, die mein Interesse für die Mund- Kiefer und Gesichtschirurgie abermals festigte und steigerte, darüberhinaus viel Spaß bereitete und auch einen guten Einblick in die Betreuung von Patienten bot. Somit hoffe ich, diese Erfahrungen auch für meinen zukünftigen beruflichen Werdegang als Mund- Kiefer- und Gesichtschirurgin umsetzen und anwenden zu können. iv

Danksagung Mein Dank gilt Univ.-Ass. DDr. Lucia Gerzanic sowie Univ.-Prof. DDr. Günter Schultes für ihre Betreuung und Unterstützung beim Erstellen dieser Arbeit. Weiters gebührt mein Dank Ass. DDr. Kerstin Korthals, die mir beim Aufarbeiten der Studiendaten mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. DDr. Werner Bartl und Dr. Lisa Bartl möchte ich für die Hilfestellung und Korrektur der Arbeit danken. Mein ganz besonderer Dank geht an meine Eltern, die mir dieses Studium ermöglicht und mich immerzu unterstützt haben. v

Zusammenfassung Hintergrund Um bestimmten, definierten Zahnfehlstellungen beziehungsweise den damit in Zusammenhang stehenden skelettalen Fehlstellungen entgegenzuwirken, wird als invasive Maßnahme die Bimaxilläre Operation als Therapie der Wahl empfohlen. Diese sieht sowohl eine operative Verlagerung des Ober-, als auch des Unterkiefers vor. Als Rezidiv in der Dysgnathiechirurgie bezeichnet man den Rückgang in die ursprüngliche dentale, knöcherne oder kombinierte Situation, nach einer zunächst erfolgreich erscheinenden Operation. Fragestellung Inwieweit konnten nach einer Bimaxillären Operation die Ziele (gerechte Okklusion, Beseitigung skelettaler Diskrepanzen, ästhetitische Aspekte) erreicht und beibehalten oder Rezidive verzeichnet werden. Methoden Die Studie umfasste 22 PatientInnen mit einer Klasse II- oder Klase III- Verzahnung, die sich im Zeitraum 2005 bis 2009 einer Bimaxillären Operation an der Grazer Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie unterzogen haben. Der retrospektive Teil dieser Arbeit bestand aus der Aufarbeitung und Vermessung von Röntgenbildern. Prospektiv wurden Daten anhand einer Nachkontrolle erhoben und verglichen. Die Auswertung erfolgte mittels deskriptiver Statistik (SPSS, Excel), die Hauptzielgrößen waren Rezidive, als Nebenzielparameter wurden Diagnose, Therapie, Geschlecht, Alter, skelettale Vermessungspunkte und Verzahnung angegeben. Ergebnisse Das Patientenkollektiv umfasste mit 77% zu 23% mehr Frauen. Der Altersdurchschnitt der dabei untersuchten PatientInnen betrug 31,68 Jahre. Die statistische Auswertung ergab als häufigste Diagnose mit 43% Progenien, gefolgt von Distalbissen mit 38% und 19% Schiefe Progenien. Die häufigste Methode stellte eine reine Bimaxilläre Operation dar. Die postoperative Modellerstellung zeigte, dass Spätrezidive in Modellen mit einer Klasse I- oder Klasse II-Verzahnung kombiniert mit einem offenen Biss auftraten. Schlussfolgerung Vorangegangene kieferorthopädische Behandlungen, sowie die Wahl der Operationstechnik sind ausschlaggebend für das Auftreten von Rezidiven. Die Bimaxilläre Operation zur Optimierung des Bisses und des Gesichtsprofils zeigte im Langzeitergebnis trotz Auftreten von Rezidiven einen 86,4%-igen Erfolg. vi

Abstract Background The treatment of specific dental malocclusions combined with or without skeletal facial anomalies represents the bimaxillary surgery. It is an invasive procedure with mandibular setback and maxillary advancement. In orthognathic surgery relapses are refered to the regression of dental and skeletal origin after a succsessful seeming procedure. Purpose The present study was conducted to analyze the outcomes of bimaxillary surgery (occlusal stability, treatment of skeletal malformations, aesthetics) and the extent of relapses. Methods A total of 22 patients with skeletal class II or III were included, who had undergone a bimaxillary surgery at the Department of Maxillofacial Surgery in Graz between 2005 and 2009. Analyses were based on retrospective and prospective workup of cephalograms. Statistical outcomes were followed by SPSS and Excel, the chief aim were relapses, secondary parameters included diagnosis, therapy, sex, age, skeletal reference points and occlusion. Results In this study a remarkable high rate of female patients with 77% was noticed. The average age was 31,68 years. The statistical outcome revealed that the most frequent diagnose represented mandibular prognathism with 43%, distal occlusion with 38% and asymmetry with 19%. A bimaxillary surgery (without genioplasty or rhinoplasty) was described as the commonest method. Postoperative models of the occlusion showed relapses in models with class I- or class II occlusion combined with an open bite. Conclusion Previous orthodontic treatment and the choice of surgical technique are determining for the presence of relapses. Although relapses occured bimaxillary surgery showed with 86,4% good results in occlusal stability and face profile in long-term research. vii

Inhaltsverzeichnis VORWORT... IV DANKSAGUNG... V ZUSAMMENFASSUNG... VI ABSTRACT... VII INHALTSVERZEICHNIS... VIII 1 EINLEITUNG... 1 2 ZIELSETZUNG...3 3 PSYCHOLOGISCHE ASPEKTE... 5 4 DYSGNATHIEN... 6 4.1 DENTOALVEOLÄRE DYSGNATHIEN...6 4.1.1 Angle Klassifikation...6 4.1.1.1 Angle Klasse I-Verzahnung...6 4.1.1.2 Angle Klasse II-Verzahnung...7 4.1.1.3 Angle Klasse III-Verzahnung...8 4.2 SKELLETALE DYSGNATHIEN...9 4.2.1 Dysgnathien der Sagittalebene...9 4.2.2 Dysgnathien der Frontalebene...11 4.2.3 Dysgnathien der Transversalebene...11 4.2.4 Klassifikation nach ANB-Winkel...12 5 DIAGNOSE... 13 5.1 BEDEUTUNG DER GESICHTSPROPORTIONEN...13 5.2 KEPHALOMETRISCHE ANALYSE...14 5.2.1 Referenzpunkte, Ebenen und Winkel...14 5.3 METRISCHE GESICHTSANALYSE...18 6 THERAPIEMÖGLICHKEITEN... 20 6.1 OPERATION...20 6.1.1 Le Fort I Osteotomie...20 6.1.2 Bilaterale Sagittale Spaltung des UK nach Obwegeser...21 viii

6.1.3 Bimaxilläre Operation...23 6.1.3.1 Indikation Bimaxillärer Operationen...23 6.1.4 Zervikomandibuläre Profil-Harmonisierung mittels Genioplastik...30 7 DAS REZIDIV IN DER DYSGNATHIECHIRURGIE... 31 7.1 FRÜHREZIDIV...33 7.2 SPÄTREZIDIV...33 7.3 ANDERE KOMPLIKATIONEN...34 7.3.1 NERVSCHÄDIGUNG...34 7.3.2 ZAHNSCHÄDEN...35 7.3.3 NACHBLUTUNGEN, SCHWELLUNGEN UND WUNDINFEKTIONEN...35 8 MATERIAL UND METHODEN... 37 8.1 PATIENTINNENDATEN...37 8.2 DATENERHEBUNG...37 8.3 DATENAUSWERTUNG...45 9 ERGEBNISSE... 48 9.1 AUSWERTUNGEN DER PATIENTINNENDATEN...48 9.2 AUSWERTUNG DER DIAGNOSEN...51 9.3 AUSWERTUNG DER DURCHGEFÜHRTEN THERAPIEN...57 10 DISKUSSION... 58 11 FEHLERQUELLEN DER DATENERHEBUNG... 69 12 GLOSSAR UND ABKÜRZUNGEN... 70 13 LITERATURVERZEICHNIS...71 14 ABBILDUNGSVERZEICHNIS...83 15 TABELLENVERZEICHNIS... 85 ANHANG - EINLADUNG ZUR NACHUNTERSUCHUNG... 86 ix

1 Einleitung Im Formenkreis der Dysgnathien wird im Wesentlichen zwischen zwei Arten unterschieden, nämlich den dentoalveolären und den skelettalen Dysgnathien. Hauptmerkmal dentoalveolärer Dysgnathien sind Fehlstellungen im Zahnhalteapparat, während bei skelettalen Dysgnathien Anomalien der Lage oder Größe von Ober- und Unterkiefer zueinander oder zur Schädelbasis hinzukommen (Schamsawary, 2007). Obwohl per definitionem diese beiden Formen auseinandergehalten werden können, ist es in der Praxis schwer, dentoalveoläre von skelettalen Dysgnathien zu trennen, da sie sehr häufig als Mischformen vorliegen, die sowohl erworben oder angeboren, als auch unilateral oder bilateral auftreten können (Schamsawary, 2007). Ätiologisch resultieren Deformitäten des Gesichtsschädels aus Über- und Unterentwicklungen, die vorwiegend auf einer gestörten Wachstumsrelation zwischen verschiedenen Kieferabschnitten basieren. Einen wesentlichen Anteil dazu tragen primäre (Erbfaktoren) und sekundäre (äußere Einflüsse während des Wachstums) Faktoren bei. Beispielsweise können nach Kieferfrakturen durch Unter- oder Überentwicklungen dieses Bereichs Asymmetrien einer Gesichtshälfte auftreten, oder Entzündungen sowie Radiotherapien Wachstumshemmungen auslösen (Reitemeier, 2006). Folglich kann es durch dentoalveoläre oder skelettale Dysgnathien zu funktionellen Einschränkungen in der Kau- und Sprechfähigkeit, sowie einer psychischen Belastung des Patienten aufgrund eines unharmonischen Gesichtsprofils kommen. Die therapeutischen Maßnahmen werden dann je nach Dysgnathieform und anderen beeinflussenden Faktoren in Zusammenarbeit von Kieferorthopäden und Kieferchirurgen ausgearbeitet. Dabei wird der kieferorthopädischen Vorbehandlung große Aufmerksamkeit beigemessen, denn ein gut kieferothopädisch korrigierter Fehlbiss muss nicht zwingend eine Operation zu Folge haben. 1

Im Falle einer Operation werden je nach Dysgnathieart vor allem auf die optimale Okklusion und Kaufunktion, auf die ästhetische Komponente eines harmonischen Profils und die Stabilität des Behandlungsergebnisses als primäre Ziele geachtet. Zusätzlich sollen auch die Sprechfunktion verbessert, sowie Myoarthropathien vorgebeugt werden. Des Weiteren ist postoperativ für das Beibehalten eines erfolgreichen Operationsergebnisses die Konsultation eines Kieferorthopäden notwendig. Um diese Behandlung auch gewährleisten zu können, muss Patienten eindringlich bewusst gemacht werden, dass der Zeitraum zwischen Planung, Umsetzung und Nachbehandlung mehrere Monate bis Jahre dauern kann und auch vom Patienten selbst Disziplin und eine gute Compliance (Bereitschaft zur Mitarbeit) verlangt werden, um das bestmögliche Behandlungsziel zu erreichen (Schamsawary, 2007; Reitemeier, 2006). 2

2 Zielsetzung Seit den Ursprüngen der Dysgnathiechirurgie Mitte des 19. Jahrhunderts (Hullihen, 1849) kommt es durch stetige Weiterentwicklung und Verbesserung von Operationstechniken zu erfolgreichen Operationsergebnissen. In den letzten 50 Jahren etablierten sich standardisierte Behandlungsmethoden hinsichtlich Bimaxillärer Dysgnathien (Dal Pont, 1961; Obwegeser, 1965; Trauner, 1955) die in weiterer Folge zu einer Minderung von postoperativen Funktionsstörungen sowie von Rezidiven führten. Die heutige Behandlungsstrategie mittels eines kieferchirurgischen Eingriffs zielt daher auf eine optimale okklusale und skelettale Beziehung ab, die darüber hinaus auch eine erfolgreiche ästhetische Komponente beinhalten soll. Dies gelingt durch Kombination zweier Aspekte: zum einen mittels einer präoperativen kieferorthopädischen Behandlung und im Anschluss durch eine korrekte Operationsplanung (Schubert, 1999; Stellzig-Eisenhauer, 2002; Throckmorton, 1995). Dass vor allem Veränderungen der Ästhetik einen sehr hohen, primär angeführten Stellenwert für Patienten einnehmen, zeigen nicht zuletzt unterschiedliche Studien (Olson, 1980; Kiyak, 1993; Bell, 1985). Im Speziellen wird auch auf die Komplexität, die Individualität und das Zusammenspiel der anantomischen Gegebenheiten (Gewebsmorphologie, Tonizität) eingegangen, die in Abhängigkeit des einzelnen Patienten Einfluss auf den Umfang der ästhetischen Veränderung nehmen (Forssell, 1998). Aber nicht nur die Ästhetik stellt eine Herausforderung dar. Die häufigste Komplikation eines kieferchirurgischen Eingriffs ist das Rezidiv. Unter Berücksichtigung der dentoalvelolären Situation, sowie der Weichteilanalyse können bei Operationen von skelettalen Dysgnathien positive Resultate ohne Rezidive verzeichnet werden (Keeling, 2000; Shelly, 2000). Das Ziel dieser Arbeit war es, Unterschiede zwischen prä- und 3-7 Jahre postoperativen Ergebnissen von Klasse II- und Klasse III Malokklusionen zu 3

analysieren, zu vergleichen und den Ursachen für möglich aufgetretene Rezidive auf den Grund zu gehen. Anhand der erhobenen Daten wurden die Resultate auf Geschlechts- und Altersverteilung, Art und Häufigkeit der Diagnosestellung, Therapiemöglichkeiten und Modellanalyse statistisch untersucht und darauf Bezug nehmend in Folge Abhängigkeiten von den Rezidivarten (Früh- oder Spätrezidiv) gestellt. Des Weiteren wurden die Auswertungen dieser Arbeit durch Literaturrecherche anderer Studien erweitert, um eine Gesamtübersicht und Vergleiche bezüglich Ursachen und Komplikationen, die zu einem Rezidiv führen, zu erhalten. 4

3 Psychologische Aspekte Neben den bisher erwähnten Kriterien, wie optimale Okklusion, Verbesserung der Kau- und Sprechfunktion und der Vorbeugung von Myoarthropathien sowie Parodontalschäden, wird vor allem der Ästhetik große Aufmerksamkeit beigemessen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf den psychosozialen Hintergrund eingegangen, der im Zuge von Studien zu orthognaten Behandlungen eingehend erforscht wurde. Dabei wurden unter anderem die Selbstwahrnehmung der Patienten, sowie die Fremdwahrnehmung derer sozialen Umfelder mit der professionellen, objektiven Meinung von Kieferchirurgen und Kieferorthopäden erfasst und verglichen und im Anschluss der Patientenentscheidung zu einer Operation oder nicht gegenübergestellt (Olson, 1980). Aber nicht nur die Selbstwahrnehmung spielt eine große Rolle, auch andere Themen wie Selbstbewusstsein, Aufgeschlossenheit, Zugänglichkeit oder selbstsicheres Auftreten werden immer wieder in Verbindung mit Dysgnathienpatienten gebracht. Dabei wird widerum zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht, sowie der Malokklusionsart (Klasse II oder III) und der prä- und postoperativen Situation differenziert (Gerzanic et al, 2002). Um die Persönlichkeitsprofile und die Beweggründe einer Operation zu erhalten, müssen Patienten präoperativ Fragebögen ausfüllen. Diese werden im späteren Verlauf mit postoperativen Befragungen verglichen, woraus beispielsweise Rückschlüsse auf die Erwartungshaltung, Zufriedenheit des Ergebnisses und/oder des Operateurs, sowie soziale Integration und Unterstüzung gezogen werden können (Olson, 1980). Es gibt sehr viele Studien die über Jahre hinweg diese psychosozialen Aspekte datiert haben und zunehmend an Bedeutung gewinnen, da stark ersichtlich wurde, dass die Interaktion zwischen Patient und seinem psychosozialen Umfeld eine wesentliche Rolle zur Genesung oder zur Assoziation mit einem Trauma beiträgt. 5

4 Dysgnathien 4.1 Dentoalveoläre Dysgnathien Diese Dysgnathieform beinhaltet reine Zahnfehlstellungen bei gleichzeitig regelrechter Kieferbasenrelation, die im Gegensatz zu den skelettalen Dysganthien meistens nur kieferorthopädisch behandelt werden kann. Ätiologisch liegen dentoalveolären Dysgnathien sowohl genetische als auch erworbene Aspekte im Sinne von Lutschen oder Lippenbeißen zugrunde, was beispielsweise zu einer Angle-Klasse II führen kann, auf die im Weiteren näher eingegangen wird (Schamsawary, 2007). 4.1.1 Angle-Klassifikation Die Angle-Klassifikation, benannt nach E.H. Angle (USA, 1855-1930), beruht auf sagittalen Okklusionsabweichungen. Dabei gelten die ersten oberen Molaren (Sechsjahrmolaren) als fix definiert und die ersten unteren Molaren werden dazu in Relation gestellt (Schamsawary, 2007). Je nach Lagebeziehung des unteren Sechsjahrmolaren zum oberen ergibt sich daraus eine nach Angle bezeichnete Klasse I (Neutralbiss), eine Klasse II (Distalbiss) oder eine Klasse III (Mesialbiss) (Abb.1.1-4) (Kahl-Nieke, 2001). 4.1.1.1 Klasse I-Verzahnung: Neutralokklusion Der mesiobukkale Höcker des oberen Sechsjahrmolaren liegt in der Fossa zwischen mesio- und zentrobukkalen Höcker des unteren ersten Molaren. Daraus ergeben sich für jeden Zahn zwei Antagonisten (Ausnahme UK1-er, OK8-er) (Weber, 2010) (Abb.1.1). 6

Abb. 1.1 Angle-Klasse I 4.1.1.2 Klasse II/1-Verzahnung: Distalokklusion Die Zahnreihe im Unterkiefer ist gegenüber dem Oberkiefer nach distal versetzt. Die Oberkieferfront ist protrudiert (Spitzfront). Das Ausmaß der Distalokklusion zum Neutralbiss wird mittels der Prämolarenbreite-Pb angegeben. Diese hat bei einem Distalbiss um ½ Pb zur Folge, dass jeder Seitenzahn nur noch einen Antagonisten hat (Weber, 2010) (Abb.1.2). Abb.1.2 Angle-Klasse II/1 4.1.1.2 Klasse II/2-Verzahnung: Distalokklusion Die Zahnreihe im Unterkiefer ist gegenüber dem Oberkiefer nach distal versetzt. Die Oberkieferfront ist retrudiert (Flachfront). 7

Auch hier kommt es aufgrund einer Distalbisstellung von ½ Pb zu einem singulären Antagonismus (Weber, 2010) (Abb.1.3). Abb.1.3 Angle-Klasse II/2 4.1.1.3 Klasse III-Verzahnung: Mesialokklusion Die Zahnreihe im Unterkiefer ist gegenüber dem Oberkiefer nach mesial versetzt. Häufig zeigt sich eine Protrusion der Oberkieferfront und eine Retrusion der Unterkieferfront (Schamsawary, 2007; Weber, 2010). Das Ausmaß der Mesialokklusion zum Neutralbiss wird mittels der Prämolarenbreite-Pb angegeben (Abb.1.4). Abb.1.4 Angle-Klasse III 8

4.2 Skelettale Dysgnathien Zu dieser Art der Dysgnathien werden Anomalien der Lage oder der Größe von Ober- und Unterkiefer zueinander oder der Schädelbasis gezählt. Um das genaue Ausmaß und die Art zu klassifizieren, werden skelettale Dysgnathien mithilfe des seitlichen Fernröntgenbildes als Grundlage und in weiterer Folge anhand verschiedener Winkel ermittelt. Somit können hypoplastische und hyperplastische skelettale Anteile unterschieden werden, die weiters auch in symmetrische (bilaterale mandibuläre/maxilläre Hypo/Hyperplasie) und asymmetrische (unilaterale Unterkiefer-Hypo/Hyperplasie) Gesichtsanomalien unterteilt werden können (Reitemeier, 2006). Bezogen auf die drei Körperebenen des Menschen wird Schritt für Schritt in horizontaler, vertikaler und transversaler Ebene die Ober- und Unterkieferlage zueinander ermittelt. Dabei können in jeder Ebene mehrere Anomalieformen unterschieden werden. 4.2.1 Dysgnathien der Sagittalebene Die häufigsten Dysgnathieformen sind in dieser Ebene anzutreffen. Hierbei werden horizontale und/oder vertikale Dysgnathien unterschieden (Schwenzer, 2011). Zu den horizontalen Abweichungen gehören: Mandibuläre Prognathie: Vorlage des UK Mandibuläre Retrognathie: Rücklage des UK Maxilläre Prognathie: Vorlage des OK Maxilläre Retrognathie: Rücklage des UK 9

Der Grad der Abweichung wird im OK durch den SNA-Winkel und im UK durch den SNB-Winkel ausgedrückt (Schamsawary, 2007). Abb.2.1 und Abb.2.2 Mandibuläre Prognathie Bei den vertikalen Abweichungen kommt es zu einer Veränderung im Sinne eines Tiefbisses (Abb.3) oder eines offenen Bisses (Abb.4). Beim offenen Biss wird weiters ein zirkulär offener Biss, bei dem von Molar zu Molar keine Okklusion gegeben ist, von einem seitlichen oder frontoffenen Biss (partielle Okklusion des Kiefers) unterschieden. Ätiologisch kann der offene Biss durch eine dorsale vertikale Überentwicklung des OK/UK oder eine anteriore vertikale Unterentwicklung des OK/UK bedingt sein (Schwenzer, 2011). Abb.3 Tiefbiss 10

Abb.4 Offener Biss 4.2.2 Dysgnathien der Frontalebene In dieser Ebene wird auch zwischen horizontalen und vertikalen Veränderungen unterschieden. Zu den horizontalen Abweichungen zählen: Mandibuläre Laterognathie: horizontale Seitenabweichung des UK von der Mittellinie Maxilläre Laterognathie: horizontale Seitenabweichung des OK von der Mittellinie Zu den vertikalen Abweichungen zählt man eine eher selten vorkommende Dysgnathieform, die kondyläre Hypoplasie. Dabei kommt es aufgrund von Störungen in der Kiefergelenkwachstumszone zu einem vorzeitigen Wachstumsstillstand einer Kieferseite, folglich zu einer vertikalen Verkürzung derselben Seite und einem schiefen Untergesicht des Patienten (Schamsawary, 2007). 4.2.3 Dysgnathien der Transversalebene Die Transversalebene beschreibt das Verhältnis der Zahnbögen zueinander, wobei die Norm eine breitere OK-Form aufweist. Ist dem nicht so und weist das UK einen breiteren Zahnbogen auf, so spricht man von einem Kreuzbiss (Abb.5) (Schamsawary, 2007). 11

4.2.4 Klassifikation nach ANB-Winkel Abb. 5 Kreuzbiss Die Einteilung bezogen auf den ANB-Winkel stellt einen groben Überblick dar, wie sich die Kiefer in sagittaler Richtung zueinander verhalten. Die Aussagekraft der Bestimmung des ANB-Winkels liegt also lediglich darin, sagen zu können, ob sich der UK zum OK distal oder mesial verhält. Eine genaue Beschreibung, also wie weit distal oder mesial die Kiefer zueinander liegen, kann daraus nicht entnommen werden. Der wesentliche Vorteil dieser Klassifikation besteht in der postoperativen Kontrolluntersuchung, zur Überprüfung des Ergebnisses beziehungsweise in der Langzeitstabilität (Schamsawary, 2007). Skelettale Referenzpunkte für den ANB-Winkel: Nasion (N): beschreibt den weitesten ventral gelegenen Punkt der Sutura nasofrontalis A-Punkt (A): dorsalster Punkt der vordersten Maxilla-Begrenzung, zwischen Spina nasalis anterior und Übergang Limbus alveolaris B-Punkt (B): dorsalster Punkt der vordersten Mandibula-Bregrenzung am Processus alveolaris Der Normbereich des ANB-Winkels beträgt zwischen 0-4. Liegt der Wert <0 liegt eine Klasse III vor, bei Abweichungen deutlich >2 liegt eine Klasse II vor. 12

5 Diagnose 5.1 Bedeutung der Gesichtsproportionen Dass Schönheit seit jeher einen großen Stellenwert eingenommen hat, spiegelt sich nicht nur in den Bildern namenhafter Künstler wie Da Vinci s Mona Lisa oder Figuren wie der Venus von Willendorf wieder, diese Vermachenschaften zeigen vor allem auch das Jahrtausend lange Streben nach einer Verkörperung des Schönheitsideals (Piper, 2012). Obwohl dieses Bild einem ständigen Wandel der Zeit unterworfen war, blieb eine Konstante erhalten: der Wunsch nach Schönheit - ein Sprungbrett zum Erfolg. All diese idealisierten Vorstellungen werden uns Tag täglich von unserem Umfeld oder durch die Werbung anhand konkret definierter Beispiele eingebleut (Neumayer, 2012). Nicht zuletzt sind diese idealisierten Vorgaben auch für Patienten mit kraniofazialen Anomalien von Bedeutung, die den Schönheitsfaktor oftmals als primäres Ziel eines operativen Eingriffs vor Augen haben. Gleichzeitig erhoffen sich Patienten aber auch eine Besserung der funktionellen/stomathognaten Störung, oder sogar einen Erfolg hinsichtlich beider Problemstellungen (Olson, 1980). Die Vorstellung eines harmonischen Gesichtsprofils veranlasst Patienten daher, Dysgnathien operativ behandeln zu lassen. In Zuge dessen lassen Patienten oftmals auch eine kombinierte Genioplastik oder Septorhinoplastik durchführen. Um die Erwartungen der Patienten zu erfüllen und somit auch ein gutes Operationsergebnis zu erlangen, werden daher präoperativ aufwendige Gesichtsanalysen durchgeführt, die postoperativ einem natürlichen, dem idealen Maß entsprechenden Gesichtsprofil angepasst sein sollen (Hönig, 2002). 13

5.2 Kephalometrische Analyse Unter dem Begriff Kephalometrie versteht man die Vermessung der Schädelstrukturen mithilfe der seitlichen Fernröntgenaufnahme (FRS). Definierte Messpunkte, die miteinander verbunden verschiedene Winkel ergeben, sollen dabei das Verhältnis zwischen Schädelbasis, OK und UK wiedergeben, um das Ausmaß der skelettalen Dysgnathie zu erhalten. 5.2.1 Referenzpunkte, Ebenen und Winkel (Abb.6 und Abb.7) (Schamsawary, 2007) Referenzpunkte der Horizontalebene: Sella (S): Mittelpunkt innerhalb der Sella turcica Nasion (N): beschreibt den weitesten ventral gelegenen Punkt der Sutura nasofrontalis A-Punkt (A): dorsalster Punkt der vordersten Maxilla-Begrenzung, zwischen Spina nasalis anterior und Übergang Limbus alveolaris B-Punkt (B): dorsalster Punkt der vordersten Mandibula-Bregrenzung am Processus alveolaris Ebenen und Winkel in der Horizontalebene: Schädelbasisebene (Strecke SN, auch NSL): Darstellung der Länge der vorderen Schädelbasis. In der Kephalometrie eine sehr wichtige Referenzlinie. SNA-Winkel: beschreibt die Lagebeziehung des OK zur vorderen Schädelbasis. Der Normwert beträgt 82. 14

Ist der Wert größer, liegt eine Prognathie des OK vor. Umgekehrt liegt eine Retrognathie vor, wenn der Winkel weniger als 82 beträgt. SNB-Winkel: beschreibt die Lagebeziehung des UK zur vorderen Schädelbasis. Der Normwert beträgt 80. Ist der Wert größer, liegt eine Prognathie des UK vor. Umgekehrt liegt eine Retrognathie vor, wenn der Winkel weniger als 80 beträgt. ANB-Winkel: siehe Kap. 1.3.4. Abb.6 SN-Strecke, SNA/SNB-Winkel, ANB-Winkel 15

Referenzpunkte der Vertikalebene: Pterygomaxillare (Pm): dorsaler Punkt der OK-Ebene Spina nasalis anterior (Sp): vorderer Punkt des OK Articulare (Ar): Röntgenologisch konstruierter Schnittpunkt des Schattens des aufsteigenden UK-Astes mit dem Schatten der Schädelbasis Gonion (GO): Schnittpunkt der Tangente am Hinterrand des aufsteigenden Astes durch Ar und der Mandibularlinie (ML) Menton (Me): kaudalster Punkt der UK-Symphyse Ebenen und Winkel in der Vertikalebene: Schädelbasisebene (NSL, Nasion-Sella-Linie): Darstellung der Länge der vorderen Schädelbasis. Oberkieferebene (NL, Nasallinie): verläuft durch Sp und Pm Ein größerer Winkel zwischen NSL und NL bedeutet eine größere nach hinten gerichtete Neigung des OK. Die Gesichtshöhe nimmt zu. Im Gegensatz dazu kommt es bei einem kleinerem Winkel zu einer größeren Neigung des OK nach vorne, oben. Die Gesichtshöhe nimmt ab. Unterkieferebene (ML, Mandibularllinie): verläuft durch Me und berührt den UK nach dorsal an seinem tiefsten Punkt. Ein größerer Winkel zwischen NSL und ML bedeutet eine Verlagerung des UK nach kaudal und posterior (clockwise Rotation, Retroinklination). Die Gesichtshöhe nimmt dabei zu. Bei einem kleinerem Winkel verlagert sich der UK nach kaudal und anterior (counterclockwise Rotation, Anteinklination). Die Gesichtshöhe nimmt ab. Schädelbasisebene-Oberkieferebene-Winkel: Relation von OK-Ebene zur NSL. Richtwert: 8,5 16

Schädelbasisebene-Unterkieferebene-Winkel (NSL-ML-Winkel): Relation von UK-Ebene zur NSL. Richtwert: 32 Basiswinkel (NL-ML-Winkel): gebildet durch die Oberkiefer (NL)- und Unterkieferebene (ML). Der Normwert beträgt 28. Bei einem deutlich höheren Wert als 28 steigt die Tendenz zum offenen Biss. Kieferwinkel (ArGoMe): = der Winkel ziwschen Ar, Go und Me. Er beträgt 128. Bei einem höheren Wert als 128 steigt die Tendenz zum offenen Biss. Abb. 7 NSL, NL, ML, NSL-NL-Winkel, NSL-ML-Winkel 17

5.3 Metrische Gesichtsanalyse (Hönig, 2002) Im Gegensatz zu früher angewandten statischen Gesichtsanalysen wird heutzutage Anstelle dessen die dynamische Profilanalyse des Gesichts durchgeführt, die sich individuell an Nase, Lippen und Kinn orientiert. Bei skelettalen Dsygnathien kommt es sehr häufig zu Missverhältnissen dieser Proportionen, weshalb man präoperativ eine genaue Ausmessung des Gesichts vornimmt. Dabei soll das Untergesicht im Vergleich zum Mittelgesicht in vertikaler Richtung idealerweise um 3mm länger sein (Abb.8: Hönig, 2002). Dies ermittelt sich aus folgenden Bezugswerten: Nasenlänge (NL) Mittelgesichtshöhe (MGH) Kinnhöhe (KH) Abb.8 Ideale Verhältnisse der horizontalen Gesichtsproportionen Die ideale Nasenlänge entspricht 67% der MGH oder die entspricht der vertikalen Kinnhöhe. Daher gilt: NL = 0,6% MGH oder NL = KH 18

Weitere Bezugswerte (Abb.9: Hönig, 2002): Stomamitte (SM) Mentum (M) Nasenflügelbasis (NFB) Glabella (G) MGH = Strecke NFB bis G UGH = Strecke NFB bis M KH = Strecke SM bis M Abb.9 Bezugswerte Des Weiteren lässt sich das Gesicht auch noch in der Vertikalen in fünf Segmente einteilen (Abb.10: Hönig, 2002). Dabei entspricht die Gesichtsbreite der Distanz zwischen den beiden Jochbeinbögen und idealerweise ist die Mundspaltenbreite nicht länger als der Abstand zwischen den medialen Limbus corneae, also zwischen den begrenzenden Interkanthal- bzw. Pupillarlinien. Abb.10 Ideale Verhältnisse der vertikalen Gesichtsproportionen 19

6 Therapiemöglichkeiten 6.1 Operation (Schuchardt, 1995; Hönig, 2002) In der Dysgnathiechirurgie gibt es verschiedene etablierte Verfahren, die isoliert Anwendung im Oberkiefer und Unterkiefer oder kombiniert finden. Dabei unterscheidet man zwischen der Oberkieferverlagerung nach LeFort mit down fracture -Technik und der sagittalen Spaltungstechnik nach Obwegeser, Dal Pont oder Hunsuck im Unterkiefer. Wird eine Umstellungsosteotomie beider Kiefer vorgenommen, so spricht man von einer bignathen oder bimaxillären Operation. 6.1.1 Le Fort I Osteotomie Analog der Fraktureinteilung nach LeFort (I-III) folgen die Oberkieferosteotomielinien den anatomischen LeFort-Bruchlinien. Diese werden präoperativ genauestens mittels Planung erforscht, weshalb es dann möglich ist, den gesamten Zahnbogen des Oberkiefers en bloque abzutrennen und zu verlagern. Dabei werden die basalen Oberkieferanteile oberhalb der Zahnwurzelspitzen und unterhalb des Foramen infraorbitale von den kranialen Oberkieferanteilen abgetrennt. Im Speziellen kommt es zu einer Durchtrennung des posterioren OK vom Pterygoid, einem Abtrennen der lateralen Nasenwände, der medialen Kieferhöhlenwände, des basalen Nasenseptums und des Vomers. Die Durchführung beginnt mit einem horizontal, vestibulären Schnitt von der linken bis zur rechten Molarenregion der Maxilla. Nach Ablösen des Mukoperiosts und Darstellung der Kieferhöhlenvorderwände, der Nasenapertur, der Crista zygomatico-alveolaris und des pterygo-maxillären Übergangs erfolgt die Untertunnelung der basalen Nasenschleimhaut. Im Anschluss wird die Basis des Nasenseptums mit einer Septumschere durchtrennt und dann die Osteotomie der lateralen Nasenwände und der fazialen Kieferhöhlen vorgenommen. Danach wird 20

der OK mittels gebogenem Meißel vom Pterygoid getrennt und der OK nach kaudal verlagert, wodurch die Hinterwand des Sinus maxillaris frakturiert. Dies nennt man Down Fracture. Anschließend wird das zahntragende Fragment mobilisiert und über einen interokklusalen Splint und mandibulo-maxillärer Fixation mit dem UK eingestellt. Der OK wird nun mit vier Miniplatten (paranasal und Crista zygomatico-alveolaris beidseits) in seiner neuen Position fixiert. Abb. 11 und Abb. 12 Schnittführung nach LeFort im OK 6.1.2 Bilaterale Sagittale Spaltung des UK nach Obwegeser-DalPont Die Unterkieferverlagerung, die heutzutage häufigste Dysgnathieoperation des UK, erfolgt mittels Osteotomie des aufsteigenden Unterkieferasts, wodurch der ganze UK in seine geplante Position gebracht werden soll. So, wie dieses Verfahren allerdings heute praktiziert wird, benötigte es einige Entwicklungsschritte. Aufgrund der Nähe zum Nervus alveolaris inferior und der unerfahrenen Operationstechnik wurden die ersten Osteotomien im aufsteigenden UK-Ast horizontal oberhalb des Foramen mandibulare durchgeführt. Dies ermöglichte zwar die Schonung des Nervens, jedoch nur eine minimal zufriedenstellende Knochenheilung aufgrund der kleinen Knochenkontaktfläche. In Folge dessen entwickelte sich die schräge Osteotomie nach Schuchardt, die zu einer größeren Anlagerungsfläche führte. Heutige Standardverfahren beruhen auf Obwegeser, dem Begründer der stufenförmigen Osteotomie des aufsteigenden UK-Asts und auf der Modifikation 21

nach Obwegeser-DalPont, die eine stufenförmige Osteotomie im aufsteigenden Ast, Kieferwinkel und posterioren Unterkieferkörper beschreibt. Weitere Verfahren werden in der Literatur noch von Hunsuck erwähnt. Die Obwegeser-Osteotomie wird vorwiegend bei UK-Rückverlagerungen mit Betonung des Kieferwinkels durchgeführt, wohingegen die erweiterte Technik nach Obwegeser-DalPont für UK-Vorverlagerungen gewählt wird. Zweitere ermöglicht eine große Anlagerungsfläche, wobei die Form des Kieferwinkels bestehen bleibt. Die Durchführung der Operation erfolgt mit einer beginnenden intraoralen Inzision und einer anschließenden Schnittführung entlang der Vorderkante des aufsteigenden UK-Asts. Nach Darstellung der Vorderkante bis zur Höhe der Incisura semilunaris, sowie der Medialfläche oberhalb des Foramen mandibulare, kommt es zum Einsatz von sogenannten Dysgnathiehaken, die retromandibulär Schutz vor einem möglichen Abgleiten mit der Säge oder Meißel bieten sollen. Im darauffolgenden Schritt wird zunächst die Kortikalis an der lingualen und bukkalen Seite des UK mit der Säge durchtrennt und dann über einen vertikalen Schnitt miteinander verbunden. Dieser Vorgang wird als stufenförmige Osteotomie bezeichnet. Zur Vervollständigung der Osteotomie muss im Anschluss noch mittels Dysgnathiemeißeln der Knochen getrennt werden, was als sagittale Spaltung bezeichnet wird. Nun soll der UK frei beweglich sein und locker eingestellt werden können. Dabei dient ein Splint der mandibulo-maxillären Fixation des UK zum OK, die nur unter einer vorausgegangenen retralen kranialen Position der Gelenkköpfe in der Gelenkpfanne gemacht werden darf. Danach erfolgt die Osteosythese, die mandibulo-maxilläre Fixation wird wieder gelöst und ein Wundverschluss vorgenommen. Abb. 13 und Abb. 14 Sagittale Spaltung nach Obwegeser-Dal Pont 22

6.1.3 Definition der Bimaxillären Operation Bimaxilläre Chirurgie ist die simultane Korrektur von Ober- und Unterkiefer durch komlpette Osteotomie beider Kiefer bei Dsygnathien und Anomalien des Gesichtsprofils (Schuchardt, 1995). Erste Verzeichnisse eines solchen operativen Vorgehens wurden Ende der 60er durch Obwegeser publiziert und zunehmend Mitte der 80er datiert, nachdem Jahrzehnte zuvor bereits Dysgnathien anhand monomaxillärer Umstellungsosteotomien chirurgisch durchgeführt wurden (Schwenzer, 2011). Aufgrund der Fortschritte des operativen Vorgehens, aber auch der Erkenntnisse, dass bimaxilläre Operationen wesentlich bessere Ergebnisse in der Langzeitstabilität und weniger Rezidivneigungen aufweisen, erwiesen sich im Laufe der Jahre bimaxilläre Operationsverfahren als evident. Dabei wird im Oberkiefer eine Le-Fort I-Osteotomie durchgeführt, wodurch sich dieser in allen drei Ebenen mobilisieren lässt, wohingegen man im Unterkiefer eine sagittale Spaltung des Knochens nach Obwegeser-DalPont macht. 6.1.3.1 Indikation Bimaxillärer Operationen (Hönig, 2002; Schuchardt 1995) Grundlegend stellen orthognathe Probleme des Ober- oder/und Unterkiefers eine Indikation zu einer bignathen Umstellungsosteotomie dar. Im Detail beinhaltet dies folgende Fehlstellungen: Maxilläre Retrognathie kombiniert mit mandibulärer Prognathie und ausgedehnter sagittaler Stufe (mehr als 8mm) Frontal offener Biss kombiniert mit einer Retro- oder Progenie Gesichtsskoliose mit einseitig vertikaler Verkürzung von OK und UK Sagittale Diskrepanzen kombiniert mit transversalen Asymmetrien in Maxilla und Mandibula Retrogenie kombiniert mit einem extrem schmalen Oberkiefer Da die meisten Indikationen sowohl skelettale als auch dentale Anomalien aufweisen, stellt die bimaxilläre Chirurgie eine Schnittstelle zwischen einer 23

kieferothopädischen und kieferchirurgischen Behandlung dar. Dieses kombinierte Vorgehen wird systematisch in vier Phasen eingeteilt, um am Ende nicht nur eine Verbesserung in funktionellen Aspekten, wie Kau- und Sprechfunktion, sondern auch in ästhetischen Komponenten zu erzielen. Abb.1 Plattenfixation des Ober- und Unterkiefers Phasen des Behandlungssystems Tab.1 Die Behandlungssystematik des Hamburger Konzepts kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischer Behandlungen 1. Beratungsphase Diagnose Indikation Planung 2. Vorbehandlungsphase Kieferorthopädische Vorbehandlung Eigenblutspende 24

3. Operationsphase Präoperative Diagnostik: Röntgenuntersuchung, Fotos, Gesichtsbogenregistrierung, antropometrische Untersuchung, okklusale Verhältnisse im Artikulator Präoperative Planung: Fernröntgen-Prediction in zwei Ebenen, Übertragung auf die Artikulatorsituation, Modell-Montage Splintvorbereitung: Herstellung zweier intraoperativer Splints, Einprobe, Anbringen von Hakenligaturen Intraoperaiv: Osteotomie nach Doppelsplintverfahren, Kontrolle der Okklusion nach Osteosynthese 4. Nachbehandlungsphase Skelettale Nachbehandlung über intermaxilläre Gummizüge Dentoalveoläre Nachbehandlung Retention Nachkontrolle ein Jahr postoperativ, Dokumentation Beratungsphase Tab.2 Die Beratungsphase im Hamburger Konzept 1. Diagnose 1.1 klinische Diagnostik a) Extraorale Beurteilung de Symmetrie, Zahnexposition, Profillinie mit Nase, Nasolabial- und Infraorbitalregion, Lippenprofil, Halslinie b) Intraorale Beurteilung einer evtl. Zwangsführung, Okklusion, Parodontalzustand, evtl. prothetische Versorgung c) Anamnese und Allgemeinzustand d) Psychologische Aspekte wie Problembewusstsein, Leidensdruck, Projektion, Interaktion 1.2 Erste Vorbesprechung mit dem Patienten 1.3 Erstellen der diagnostischen Unterlagen a) Röntgendiagnostik: Kephalometrische Aufnahmen seitlich und 25

anterior-posterior ohne Zwangsführung, Panoramaschichtaufnahme b) Fotos extraoral, intraoral, lachend, mit Holzspatel auf der Okklusalebene c) Modelle mit Wachsbiss in retraler Gelenkposition 2. Indikationsstellung nach Auswertung der diagnostischen Unterlagen und Befunde 3. Planungsphase 3.1 kephalometrische Prediction unter Berücksichtigung der funktionellen Parameter 3.2 Dentoalveoläre Planung 3.3 Besprechung in der gemeinsamen kieferorthopädischkieferchirurgischen Sprechstunde: Diskussion der Befunde und Entscheidungsfindung zum Behandlungskonzept. Verbindliche Dokumentation sowohl der operativ-skelettalen wie der kieferothopädisch-dentoalveolären Behandlungsplanung Vorbehandlungsphase Tab. 3 Die Vorbehandlungsphase im Hamburger Konzept 1. Kieferorthopädische Vorbehandlung 1.1 Technische Details: 1 Band pro Quadrant, fest zementiert (z.b. Glasionomerzement). Festsitzende Apparatur in Ober- und Unterkiefer bis zu den 2. Molaren, im Unterkiefer mit ca. 4,5mm Bracketabstand zur Inzisalkante geklebt, um später einen tiefen Überbiss einzustellen. Präoperativ ungeteilte Stahlbögen der Stärke 0.016 x 0.022 inch bei 18 er slot, 0.019 x 0.025 inch bei 22 er slot 1.2 Behandlungsaufgaben a) Sagittale Aufgaben. Die Protrusion oder Retrusion der Fronten entsprechend der Prediction, sagittale Symmetrie der Eckzähne b) Vertikale Aufgaben. Soll die anteriore Untergesichtshöhe 26

vergrößert werden, Ausgleich der Spee schen Kurve erst postoperativ. Intrusion der 2. Molaren beeinflusst die chirurgische Rotationsmöglichkeit der Kiefer. c) Transversale Aufgaben. Harmonisierung der Zahnbögen. Zumindest der postoperativ okkludierenden Zähne, z.b. der 7er in gesicherte Okklusion. Dentoalveoläre Einstellung der Ober- und Unterkiefermittellinie auf die entsprechende Kieferbasis unabhängig von der Gesichtsmitte. 2. Eigenblutspende beginnend ca. 7 Wochen päoperativ 27

Operationsphase Tab.4 Die Operationsphase bimaxillärer Chirurgie im Hamburger Konzept 1. Präoperative Diagnostik 1.1 Röntgenuntersuchung, Fernröntgenaufnahmen seitlich und frontal, Panoramaschichtaufnahme, Tomographie der aufsteigenden Unterkiefer-Äste (Zonarc). Nasennebenhöhlenaufnahme, CT bei grazilen aufsteigenden Ästen 1.2 Fotographien: extra- und intraoral, lächelnd und mit Spatel interdental 1.3 Modelle: 2 Paare für Spintmontage und 1 Paar zur Dokumentation. Gesichtsbogenübertragung, zentrisches Registrat der Unterkieferlage 1.4 antropometrische Untersuchung: Kopfhaltung, Zahnexposition, Symmetrie der Okklusalebene, Mundschluss, entspannte Lippenhaltung 1.5 Okklusale Diagnostik im Artikulator 2. Präoperative Planung Fernröntgen-Prediction in 2 Ebenen, Übertragung der geplanten Korrekturen auf die Artikulatorsituation evtl. nach Umrechnung eines Vergrößerungsfaktors, Modell-Montage unter Berücksichtigung von Rezidivtendenz und Überkompensation 3. Splintvorbereitung Herstellung zweier intraoperativer Splints, Einprobe, Anbringen von Hakenligaturen 4. Intraoperativ 4.1 Osteotomie der Maxilla, Osteosynthese nach intermaxillärer Fixation (IMF) über den intermediären Splint und Messung der Zahnexposition, Kontrolle der Okklusion 4.2 Osteotomie der Mandibula, IMF über den definitiven Splint. Nach Supraforaminaler Sagittaler Osteotomie Durchführung einer monokortikalen Miniplattenosteosynthese, Aufhebung der IMF, Kontrolle der Okklusion 28

Nachbehandlungsphase Tab.5 Die Nachbehandlungsphase im Hamburger Konzept 1. Skelettale Nachbehandlung 1.1 Sechs Wochen lang intermaxilläre Gummizüge (IGZ) ganztägig, einwöchige Verlaufskontrollen 1.2 10 Tage postoperativ Beginn der Logopädie, falls erforderlich 1.3 Sechs Wochen lang IGZ nachts, Beginn der dentoalveolären Nachbehandlung 2. Dentoalveoläre Nachbehandlung 2.1 Vier bis sechs Wochen postoperativ Justierung der Multiband- Apparatur zur okklusalen Feineinstellung 3. Retention 3.1 Frühestens drei Monate postoperativ Entfernung der festsitzenden Apparatur 3.2 Dentoalveoläre Retention 4. Nachkontrolle ein Jahr postoperativ und Dokumentation 4.1 Skelettale Stabilität: Röntgenkephalometrie, PSA, extraorale Fotografie 4.2 Dentoalveoläre Stabilität: Endmodelle, intraorale Fotografie 4.3 Funktionsstatus: Mobilität der Mandibula, Gelenkfunktion, sensible Nervfunktion, Artikulation, Sprech- und Schluckmuster 4.4 Retrospektive subjektive Beurteilung des Behandlungsergebnisses durch den Patienten mittels Fragebogen 29

6.1.4 Zervikomandibuläre Profil-Harmonisierung mittels Genioplastik (Hönig, 2002; Schuchardt, 1995) Im Falle einer nach Abschluss der bimaxillären Umstellungsosteotomie anschließenden Genioplastik ist die IMF mittels Drahtligaturen zu belassen, um so eine stabile Plattenosteosynthese des Unterkiefers und die richtige Gelenkpositionierung zu gewährleisten. Dabei kann eine vertikale Reduktion entsprechend einer hufeisenförmigen Knochensegmentresektion erforderlich sein, oder eine vertikale Erhöhung, die sich bis zu 4-5mm durch eine frontale Kippung des Segments ohne ein zusätzliches Interponat erzielen lässt. Im Anschluss an die Verlagerung erfolgt die stabile Fixation des osteotomierten Kinnsegments bevorzugt mit paramedian angebrachten Osteosyntheseplatten. 30

7 Das Rezidiv in der Dysgnathiechirurgie (Schwenzer, 2011) Als Rezidiv in der Dysgnathiechirurgie bezeichnet man den Rückgang in die ursprüngliche dentale, knöcherne oder kombinierte Situation, nach einer zunächst erfolgreich erscheinenden Operation. Dabei kann es entweder zum seltenen vollständigen Rezidiv oder auch Totalrezidiv oder zum häufigeren Teilrezidiv kommen. Ersteres bezeichnet das Wiedererlangen der skelettalen und dentoalveolären Fehlstellung der Ausgangslage, wohingegen ein Teilrezidiv nur teilweise Veränderungen beschreibt. Definitonsgemäß erachtet man in jedem Fall ein Rezidiv als solch eines mit einer sagittalen Abweichung mit mehr als +/- 2 mm. Weiters bleibt in Abhängigkeit von der Art des gewählten Operationsverfahrens, der Art der Fragmentfixation und zusätzlich verschiedenen Faktoren trotz genauer Planung und guter Operation ein Restrisiko für ein Rezidiv bestehen, das bereits nach Monaten oder erst nach Jahren auftreten kann. Feststeht, dass die Diagnose Rezidiv in jedem Fall immer als Misserfolg einer Operation gewertet wird. Dennoch sollte bei der Interpretation eines Rezidivs sowohl der Behandlungsablauf als auch die individuelle Ausgangssituation eines jeden Patienten genau betrachtet werden. So können beispielsweise ausgeprägte Muskelaktivitäten, präoperativ ungenügend kieferorthopädisch behandelte Fehlbisse oder auch die postperativ vernachlässigte kieferorthopädische Behandlung mögliche Gründe sein, die zu einem Rezidiv führen. Größere Tendenz zu Rezidivneigungen (Indresano, 1992) stellen vorwiegend folgende Fehlbissanomalien dar: der frontoffene Biss das Long-face und die ausgeprägte mandibuläre Retrognathie. Im Laufe der Jahre sammelte man allerdings einige Erfahrungen, die aus heutiger Sicht als Maßnahmen dienen sollen, um die Rezidivrate zu reduzieren. Darauf basiert beispielsweise die Osteosynthese mittels Miniplatten und Schrauben, die zu einer stabilen Ostesynthese führt und somit Rezidive vermindert. Zum anderen tragen die immer besser beherrschten Operationstechniken und die damit verbundenen Erfahrungen bei, weshalb 31

mittlerweile bimaxilläre Operationen mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Operativ wäre es dadurch möglich, Bewegungen von mehr als 10 mm in sagittaler Richtung zu korrigieren, hinsichtlich der Gefahr eines Rezidivs ist dies allerdings zu überdenken. Auch präoperativ beginnt man bereits dem Rezidivrisiko entgegenzuwirken. Grundvorsaussetzung für ein dauerhaftes Ergebnis stellt dabei eine stabile Okklusion dar, die durch eine kieferorthopädische Vorbehandlung erzielt werden soll. Weiters ist es postoperativ in vielen Fällen unabdingbar, einen Logopäden zu konsultieren, um etwaiige Habits, wie das Zungenhabit, zu therapieren. Würde dies nicht behoben werden, könnte durch den Druck der Zunge auf die Zähne die Zahnstellung gefährdet sein und dies die Rezidivneigung erhöhen. Nicht ausser Acht zu lassen ist auch die richtige Wahl des OP-Zeitpunkts, der optimalerweise nach Abschluss des Wachstums erfolgen sollte, da es andernfalls zu Okklusionsstörungen kommen kann. Eine Möglichkeit den Wachstumsstop zu ermitteln, ist die Handröntgenanaylse, da das Knochenwachstum des Gesichtsschädels mit dem der Hand gut vergleichbar ist. Um postoperativ ein stabiles Ergebnis beizubehalten und ein Rezidiv zu vermeiden, wird dem Patienten für einige Tage eine mandibulomaxilläre Fixation (MMF) belassen. Im Anschluss an diese ist eine Weiterbehandlung beim Kieferorthopäden unerlässlich. Trotz aller eingehaltenen Behandlungsverfahren kann es dennoch immer wieder zu Rezidiven kommen. Neben den bereits erwähnten Fehlbisslagen, zeigen Studien, dass auch folgende Faktoren Auslöser eines Rezidivs sein können: zu große Verlagerungsstrecken Fehlposition der Kiefergelenke Hyperaktivität der suprahyoidalen Muskulatur und Instabilität der Osteoynthesen. 32

7.1 Frührezidiv Nicht nur die Unterscheidung in Total- oder Teilrezidiv spielt eine wesentliche Rolle, grundlegend trägt auch die zeitliche Komponente zur Definition des Rezidivs bei. Tritt ein Rezidiv unmittelbar nach der Operation auf, so ist dies als Tatsache einer misslungenen Operation zu werten und man spricht von einem Frührezidiv. Grund dafür ist, dass die intraoperative Okklusionseinstellung nicht in retraler Kondylenposition war. Sobald die MMF gelöst wird, ziehen die Kaumuskeln den Unterkiefer und somit die Kondylen in ihre retrale Position und folglich ändert sich die Okklusion. Frührezidive sind daher als Misserfolg einer Operation anzusehen, da es nie zu der erwünschten Verlagerung des Kiefers kam (Throckmorton, 1995). 7.2 Spätrezidiv Kommt es zu einer Veränderung, die länger als ein bis zwei Jahre nach Behandlungsabschluss zurückliegt, wird dies als Spätrezidiv bezeichnet. Diese zeichnen sich vor allem durch muskuläre Kräfte (Kaumuskulatur, Zunge) aus. Daher birgt die Unterkieferverlagerung häufiger die Gefahr eines Rezidivs, die sich aus den dort angreifenden Muskelzügen ableiten lässt. Generell geht man davon aus, dass eine über 2 Jahre beibehaltene skelettale und okklusale Stabilität auch auf lange Sicht gesehen, bestehen bleibt und folglich kein Rezidv mehr auftreten wird. 33

7.3 Andere Komplikationen (Hausamen, 2011) Jede orthognathe Operation kann grundlegend mit Komplikationen verbunden sein, die aber prinzipiell verfahrensabhängig sind. Daher muss der Patient präoperativ über diese möglichen Komplikationen aufgeklärt werden. 7.3.1 Nervschädigung Sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer treten als häufigste Komplikationen von kieferchirurgischen Eingriffen Nervschädigungen auf. Dabei kommt es zu einem unterschiedlich hohen Ausmaß der Nervschädigung in Bezug auf Unter- oder Oberkieferverlagerung. Hinsichtlich Osteotomien des Unterkiefers nach sagittaler Spaltung nach Obwegeser-Dal Pont wird im aufsteigenden UK-Ast die Schädigung des N. alveolaris inferior als klassische Komplikation einer Operation angesehen (Schultze-Mosgau, 2001; Seo, 2005). Durch Druck, Einblutungen sowie direkte Nervendurchtrennung kann es zur Beeinträchtigung des Nervens kommen. Häufiger werden von Patienten subjektiv empfundene Symptome wie postoperative Sensibilitätsstörungen beschrieben, die größtenteils temporär sind und sich im Laufe der Zeit rückbilden. Trotzdem bleiben in 5 bis 30% der Fälle laut Literatur Hypästhesien und Parästhesien bestehen. Weiters kann es auch in sehr seltenen Fällen zu Fazialisschäden kommen, da der Nervus facialis sehr nah am Hinterrand des aufsteigenden Unterkieferasts liegt (Schubert, 1999). Mit einem Vorkommnis von unter 0,5% können Präparationstechniken der Grund dafür sein, jedoch gibt es auch Fälle mit Schädigung des gesamten Fazialisstamms ohne genaue Klärung der Ursache. Auch werden immer wieder Schädigungen des Nervus lingualis beschrieben, die durch Abgleiten der Instrumente nach lingual auftreten können (Stellzig- Eisenhauer, 2002). Im Vergleich weisen LeFort-I-Osteotomien des Oberkiefers wesentlich weniger Innervationsstörungen auf. Es werden zwar auch Sensibilitätsstörungen des 34

harten Gaumens, von Zähnen oder der Oberlippe bedingt durch Schäden am Nervus inzisivus oder Nervus infraorbitalis angegeben, in 98% der Patienten sind diese jedoch nach einem Jahr meist vollständig zurückgegangen und nicht mehr feststellbar. 7.3.2 Zahnschäden Zahnschäden im Rahmen der Dysgnathiechirugie sind in der Regel keine Komplikationen bzw. Folgen der UK oder OK-Osteotomie. Verletzungen der Zähne treten hauptsächlich während der intermaxillären Immobilisation und bei der Osteosynthese auf, weshalb zum Schutz des unteren Wurzelabschnitts monokortikale Schrauben mit einer maximalen Länge von 5mm gewählt werden. Wesentlich häufiger werden Zahnschäden bei vertikalen oder horizontalen Segmentosteotomien verzeichnet. Ein ausserordentlich hoher Stellenwert wird dabei der kieferorthopädischen Vorbehandlung beigemessen, da diese die Auseinanderdrängung der Wurzeln beinhaltet, um eine anschließende Segmentosteotomie ohne begleitende Zahnschäden durchzuführen. 7.3.3 Nachblutungen, Schwellungen und Wundinfektionen Wie bei jedem operativen Eingriff kann es auch in der orthognathen Chirurgie zu Nachblutungen, Schwellungen, Schmerzen oder Wundinfektionen kommen. Dabei werden im OK der A. maxillaris, der A. palatina und dem Plexus pterygoideus besonders Aufmerksamkeit beigemessen, da Patienten postoperativ durch die Fixation oftmals nicht merken, wenn Blut von der Kieferhöhle in den Pharynx läuft. Daher muss bereits intraoperativ auf eine genaue Blutstillung geachtet werden. Präoperativ wird zusätzlich als vorbeugende Maßnahme eine Eigenblutspende vom Patienten veranlasst. Minimale Nachblutungen werden über eine Drainage abgeleitet. 35

Etwaige Schwellungen oder Schmerzen können gut mittels Analgetika behandelt werden. Die Wundinfektion stellt postoperativ selten ein Problem dar (Spaey, 2005). Bei 3% der erforschten chirurgischen Eingriffe wurden durch Infektionen bedingte Komplikationen datiert. Diese Angaben trafen allerdings nicht auf die orthognathe Chirurgie zu. Würde man die Infektion weiters als Problematik des Knochens erachten, so betrüge der Prozentsatz sogar nur noch unter 0,5%. Bei weniger als 1% der Patienten, die nach Plattenosteosynthese nicht beschwerdefrei sind, ist eine Materialentfernung indiziert, an dem meistens ein entzündlicher Prozess nachweisbar ist. 36

8 Material und Methoden 8.1 PatientInnendaten Die angeführten PatientInnendaten wurden mittels retrospektiver Analyse anhand der Operationsbücher der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirugie im Zeitraum von 01.01.2005 bis einschließlich 31.12.2009 erhoben. Einschlusskriterien waren jene PatientInnen, die sich in den besagten Jahren ausschließlich einer Bimaxillären Operation als Therapie nach kieferorthopädischer Vorbehandlung einer Klasse IIoder Klasse III-Okklusion als Diagnose unterzogen haben. Aufgrund des Verlusts eines OP-Buches des Zeitraums November 2007 bis Juni 2009 war die vollständige Datenerhebung der Patienten allerdings nicht möglich. 8.2 Datenerhebung Basierend auf den Operationsbüchern wurden im retrospektiven Teil dieser Arbeit die persönlichen Daten des erforderlichen PatientInnenguts übernommen. Dabei wurde als erster Schritt jedem Patienten eine Zahl zugewiesen, um dessen Namen zu anonymisieren, und den vertraulichen Daten wie Name, Alter, Geschlecht, Geburtsdatum, Diagnose, Operationstermin und Therapie eine Codierung zugeschrieben (Tab.6). Weiters wurden sowohl die Diagnosen als auch die Therapien noch zusätzlich unterteilt (Tab.7 und Tab.8), um in der späteren Auswertung mögliche Signifikanzen zu beweisen. Im Anschluss wurden die relevanten PatientInnenakten auf Vollständigkeit der Röntgenbilder überprüft, deren Vermessungsdaten als Vergleichsbasis für den prospektiven Teil der Studie dienten. 37

PatNr Name Gebdat Alt Gesch Patientennummer Name des Patienten Geburtsdatum Alter 1 = männliches Geschlecht 2 = weibliches Geschlecht Dg Diagnose OPDat Operationsdatum OP Operation Tab.6 Codierung der Patientendaten 1 Progenie 2 Progenie und Offener Biss 3 Schiefe Progenie 4 Pseudoprogenie 5 Progenie und schiefe Maxilla 6 Distalbiss 7 Distalbiss und Asymmetrie 8 Distalbiss und Gummy Smile 9 Offener Biss Tab.7 Unterteilung der Diagnosen 1 Bimaxilläre Operation 2 Bimaxilläre Operation und Kinn 3 Bimaxilääre Operation, Kinn und Zahnextraktion 4 Bimaxilläre Operation und Septoplastik Tab.8 Unterteilung der Operationen 38

Im prospektiven Teil dieser Studie wurde zu Beginn ein persönlich adressierter Brief verfasst, der eine Vorankündigung einer Einladung zur Nachkontrolle, sowie eines Telefonats zur Terminvereinbarung beinhaltete (Anhang-Einladung zur Nachuntersuchung). Nach telefonischer Kontaktaufnahme wurde mit den Patienten ein Termin zur Einbestellung vereinbart. Die Nachuntersuchung gliederte sich dann in folgende Schritte: 1. Abdrucknahme des OK und UK des Patienten 2. Zentrisches Bissregistrat 3. Außenbogen 4. Röntgen (Orthopantomogramm, seitliches Fernröntgen, frontales Fernröntgen, Bissflügelaufnahme) Im Anschluss wurden die Abdrücke ausgegossen und Modelle erstellt, die im weiteren Rückschlüsse auf die Okklusion der einzelnen Patienten geben sollten (Tab.9) (Abb. 11-13). Zusätzlich bearbeitete man die Röntgen mittels Vermessung anhand skelettaler Fixpunkte als Orientierung. Diese Winkelangaben wurden dann mit denselbigen der präoperativen Röntgenaufnahmen verglichen, um der Frage nach Rezidiven nach Klasse II- und III Verzahnung auf den Grund zu gehen (Tab.10). 1 Modell postoperativ Klasse I-Verzahnung 2 Modell postoperativ Klasse I-Verzahnung, Offener Biss im Seitzahnbereich und Kreuzbiss 3 Modell postoperativ Klasse I-Verzahnung und Kreuzbiss 4 Modell postoperativ Klasse II-Verzahnung, Offener Biss im Seitzahnbereich und Tiefbiss 5 Modell postoperativ Klasse II-Verzahnung und Offener Biss im Frontzahnbereich 6 Modell postoperativ Offener Biss im Seitzahnbereich Tab.9 Codierung der Modelleinteilungen 39

ANBW0 ANB-Winkel präoperativ ANBW1 ANB-Winkel postoperativ (Frührezidiv) ANBW2 ANB-Winkel 5-7 Jahre postoperativ (Spätrezidiv) SNAW0 SNA-Winkel präoperativ SNAW1 SNA-Winkel postoperativ (Frührezidiv) SNAW2 SNA-Winkel 5-7 Jahre postoperativ (Spätrezidiv) SNBW0 SNB-Winkel präoperativ SNBW1 SNB-Winkel postoperativ (Frührezidiv) SNBW2 SNB-Winkel 5-7 Jahre postoperativ (Spätrezidiv) OKI0 Oberkiefer-Inklination präoperativ OKI1 Oberkiefer-Inklination postoperativ OKI2 Oberkiefer-Inklination 5-7 Jahre postoperativ UKI0 Unterkiefer-Inklination präoperativ UKI1 Unterkiefer-Inklination postoperativ UKI2 Unterkiefer-Inklination 5-7Jahere postoperativ Tab.10 Codierung der Vermessungsdaten Abb. 11 bis 1 6 Modellbeispiel Abb. 11 40

Abb. 12 und Abb. 13 Klasse I-Verzahnung im Seitzahnbereich, sagittale Stufe im Frontzahnbereich < 2mm Abb. 14 Abb. 15 und Abb. 16 Ansicht von oral 41

Abb.17-20 Beispiel: Vermessung anhand skelettaler Fixpunkte Abb. 17 Seitliche Fernröntgenaufnahme präoperativ, Patient mit kieferorthopädischer Vorbehandlung aufgrund skelettalem Klasse III-Syndrom: Progenie 42

Abb. 18 Seitliche Fernröntgenaufnahme nach Bimaxillärer Operation, Skelettale Bezugspunkte (Reitemeier, 2006): 1. S : Sella, Punkt im Zentrum der Sella turcica 2. N : Nasion, Übergang vom Os nasale zum Os frontale; hinterster Punkt des Nasensattels 3. A : A-Punkt, hinterster Punkt der ventralen Kurvatur des OK-Alveolarfortsatzes 4. B : B-Punkt, hinterster Punkt der ventralen Kurvatur des UK-Alveolarfortsatzes 43

Abb.19 Winkelmessung: SNA-Winkel, SNB-Winkel, ANB-Winkel, OK- und UK-Inklination 44

Abb.20 Seitliche Fernröntgenaufnahme postoperativ nach 5-7 Jahren und kieferorthopädischer Nachbehandlung. Auf dentaler Ebene stellt sich eine Klasse I-Verzahnung dar, weichteilbezogen ist ein harmonisches, seitliches Gesichtsprofil zu vermerken. 8.3 Datenauswertung Die in Punkt 8.1 angeführten zur Auswertung herangezogenen Parameter wurden deskriptiv mittels Microsoft Excel erfasst und statistisch anhand SPSS 15 (Statistical Package for Scoial Sciences) verarbeitet. Hauptsächlich wurden 45

nominale Daten verwendet, wobei die Hauptzielgrößen Früh- und Spätrezidive waren. Als Nebenzielparameter wurden Diagnose, Therapie, Geschlecht, Alter, skelettale Vermessungspunkte und Verzahnung beschrieben. Die Codierung erfolgte vorwiegend binär. Bimax-OP Klasse II/III Patientenakten mit präoperativen Röntgenbilder Kontaktaufnahme per Briefsendung Telefonische Terminvereinbarung Klinische Untersuchung Modell postoperatives Röntgen (5-7 Jahre) Außenbogen und Bissflügel 46

Vermessungen Vergleich prä- u. postoperativer Röntgenbilder Datenauswertung 47

9 Ergebnisse 9.1 Auswertungen der PatientInnendaten Zwischen den Jahren 2005 und 2009 wurden in den OP-Büchern der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie insgesamt 92 Patienten datiert, die sich einer bimaxillären Operation im Zuge einer Klasse II- oder Klasse III-Verzahnung unterzogen haben. Die Geschlechtsverteilung zeigte eine Anzahl von 62 Frauen auf 67%, wohingegen Männer mit einem Patientengut von 30 Personen 33% ergaben (Abb. 21). Männer; 33% Frauen; 67% Frauen Männer Abb. 21 Geschlechtsverteilung insgesamt Auch die geringere Anzahl von 22 an der Studie beteiligten Personen, spiegelte ein ähnliches Bild wieder. Mit 77% war der Frauenanteil dem Prozentsatz der Männer mit 23% deutlich überlegen (Abb. 22). 48

Geschlechtsverteilung der Patienten 20 15 Anzahl 10 5 0 f Geschlecht m Abb. 22 Geschlechtsverteilung des untersuchten PatientInnenguts Das durchschnittliche Alter dieses Patientenguts betrug 31,68 Jahre. Frauen waren dabei im Schnitt 30,47 Jahre alt, im Vergleich zu den Männern, die im Mittel 35,80 Jahre alt waren (Tab. 11). Tab.11 Altersverteilung Geschlecht Anzahl Alter m 5 35,80 w 17 30,47 Total 22 31,68 Des Weiteren wurde hinsichtlich der Altersverteilung statistisch auf die Frage nach einer Abhängigkeit zwischen Spätrezidiven und Alter eingegangen. Dabei unterteilte man das untersuchte Patientengut in zwei Gruppen: eine Gruppe ohne bzw. eine mit Spätrezidiven. Diese wurden in Folge auf eine Normalverteilung mittels des Kolmogorov-Smirnov Tests überprüft (Abb.23). 49

Abb. 23 Altersverteilung in der Gruppe ohne Spätrezidive Das Ergebnis des Kolmogorov-Smirnov-Tests lieferte bei beiden Gruppen eine Normalverteilung, woraufhin die Testung der aufgestellten Hypothese, ob ältere PatientInnen eher zu Spätrezidiven neigen als Jüngere, mittels T-Test durchgeführt werden durfte (Tab. 14 und Tab. 15). Tab.14 u. 15 Testung der Hypothese Spätrezidiv N Mean Std. Deviation Std. Error Mean Alter 0 19 32,00 7,102 1,629 Tab.14 1 3 29,67 3,055 1,764 50

Tab.15 Die Testung ergab Werte von 0,587 bzw. 0,367. Um allerdings eine eindeutige Bestätigung hinsichtlich der Altersabhängigkeit und Spätrezidiventreffen zu können, müsste der Untersuchungswert <0,05 sein. Aufgrund der viel höheren Werte war somit keine Signifikanz nachweisbar und das Auftreten von Spätrezidiven unabhängig vom Alter des Patienten. 9.2 Auswertung der Diagnosen Im Rahmen der statistischen Auswertung der in den OP-Büchern vermerkten Diagnosen konnte man bei Betrachtung aller 92 Patienten drei Hauptgruppen feststellen. Mit 45% ergab die Diagnose Distalbiss die häufigste Indikation für eine bimaxilläre Operation (Abb. 24). Davon stellte die Gruppe der Frauen mehr als zwei Drittel im Vergleich zu den Männern dar (Abb.25). Als zweithäufigste Diagnose wurde die Progenie mit 39% vermerkt. Auch hier war eine knappe Zweidrittelmehrheit des weiblichen Geschlechts zu beobachten. Die im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen am geringsten verzeichnete, aber trotzdem häufig beschriebene Diagnose war die Schiefe Progenie. Mit 78,56% war ein deutliches Überragen des Frauenanteils zu vermerken. 51

Abb.24 Die häufigsten Diagnosestellungen Abb. 25 Geschlechtsverteilung der Hauptdiagnosen 52

Bezogen auf das untersuchte Patientenkollektiv zeigte sich bei näherer Betrachtug der drei Hauptgruppen ein Wandel. Im Vergleich mit den progenen Dysgnathien, die 43% betrugen, war die sonst mehrheitlich gestellte Diagnose Distalbiss mit 38% nur noch die zweithäufigste Diagnose bei der Nachuntersuchung. An dritter Stelle befand sich nach wie vor die Diagnose Schiefe Progenie mit einem Prozentanteil von 19% (Abb.26). Diagnosen untersuchtes Patientenkollektiv 38% 43% Progenie Schiefe Progenie Distalbiss 19% Abb. 26 Verteilung der Diagnosen im untersuchten Patientenkollektiv 53

Weiters wurden die Diagnosen auch noch in Subgruppen mit genaueren Diagnosestellungen unterteilt. Diese wurden zuerst auf das gesamte Patientengut ausgelegt und im Anschluss mit den jeweiligen Diagnosestellungen des untersuchten Patientenguts verglichen (Abb 27). Subgruppen der Diagnosen aller Patienten 8% 27% 13% 1% 3% 3% 29% 13% 3% Progenie Progenie und Offener Biss Schiefe Progenie Pseudoprogenie Progenie und schiefe Maxilla Distalbiss Distalbiss und Asymmetrie Distalbiss und Gummy Smile Offener Biss Abb. 27 Spezifische Diagnosestellungen Dabei stellte sich heraus, dass bei Betrachtung des gesamten Patientenguts, die Gruppen der Distalbisse und Progenien noch immer grundlegend am häufigsten vertreten waren, die jeweiligen Dysgnathien allerdings sehr häufig mit anderen Komponenten assoziert wurden. Ein reiner Distalbiss bzw. eine reine Progenie wurden so aufgrund einer Zweitdiagnose, wie Offener Biss, Asymmetrie oder Gummy Smile, im Rahmen der zugrundeliegenden Dysgnathieart prozentuell gesehen vermindert. Im untersuchten Patientenkollektiv spiegelte sich bei der Unterteilung in die einzelnen Subgruppen die Verteilung der Hauptgruppen wieder. Zwar war im Vergleich zu den reinen Progenien mit 32% eine Minderung der reinen Distalbisse (14%) zu beobachten, die drei großen Gruppen Progenie, 54

Schiefe Progenie und Distalbiss blieben dennoch die am häufigsten datierten Diagnosen. Erwähnenswert sei hier der prozentuelle Zuwachs der Progenien mit Offenem Biss, auf dessen Auswirkungen im Diskussionsteil eingegangen wird. Subgruppen der Diagnosen der untersuchten Patienten 9% 9% 5% 32% Progenie Progenie und Offener Biss Schiefe Progenie Pseudoprogenie 14% 5% 4% 18% 4% Progenie und schiefe Maxilla Distalbiss Distalbiss und Asymmetrie Distalbiss und Gummy Smile Offener Biss Abb.28 Subgruppen Bezugnehmend auf die unterschiedlichen Diagnosen wurde auch noch ein Zusammenhang zwischen den Diagnoseverteilungen und Rezidiven deskriptiv erstellt. Es wurde der Frage nach einer Abhängigkeit hinsichtlich Diagnose (Progenie, Distalbiss) und Spätrezidiv nachgegangen. Aufgrund der geringen Fallzahlen konnte allerdings kein signifikanter Unterschied zwischen den skelettalen Lagebeziehungen und Spätrezidiven eruiert werden. Deskriptiv fiel jedoch auf, dass Spätrezidive nur in Zusammenhang mit Diagnose 7 (Distalbiss und Asymmetrie) oder 8 (Distalbiss und Gummmy Smile) standen. 55