Handbuch Innovationsmanagement Antworten und Lösungen zum Beitrag von Prof. Dr. Thom: Vom Betrieblichen Vorschlagswesen zum Ideen- und Verbesserungsmanagement (IVM) UVK Verlagsgesellschaft mbh, Konstanz und München 2013
1 Handbuch Innovationsmanagement Antworten und Lösungen sowie Fallstudien zum Beitrag von Prof. Dr. Thom Ausgewählt wird das schweizerische Industrieunternehmen Perlen Papier AG (kurz PPA), das in der Zentralschweiz (Raum Luzern) angesiedelt ist und zur CPH Chemie + Papier Holding AG gehört. Es erhielt im Jahre 2005 den IOP-Award für das beste IVM der Schweiz und im Jahre 2011 den entsprechenden IOP-Nachhaltigkeitspreis für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung seines maßgeschneiderten und langfristig außerordentlich leistungsfähigen IVM. Die im Weiteren genannten Zahlen basieren auf dem Referenzjahr 2007. Danach fand ein Wechsel in der KVP-Koordination statt. In diesem Jahr erwirtschaftete die PPA einen Umsatz von rund 240 Millionen Schweizerfranken (CHF) als Produzent von Zeitungsdruckpapier und einziger Hersteller von Magazin-Papieren in der Schweiz. Das stark exportorientierte Unternehmen beschäftigte seinerzeit rund 400 Mitarbeitende, die im Bezugsjahr 700 Ideen (VV) hervor brachten. Von 2001 bis 2007 wurden mit den VV der Mitarbeitenden Einsparungen von über 5 Millionen CHF erzielt. Hinzu kommen vielfältige nicht berechenbare Nutzenelemente. Mit welchem IVM-Konzept erreichte die PPA diese ganz ungewöhnlich guten Effizienzwerte? Bis etwa zur Jahrhundertwende verfügte die PPA über ein traditionelles Betriebliches Vorschlagswesen (BVW), das von den Teilnahmeberechtigten nur selten genutzt wurde. Mit dem Eintritt eines neuen Chief Executive Officer (CEO) im Jahre 1999 begann in der PPA ein Kulturwandel. Das bisher sehr konservative und hierarchisch geprägte Unternehmen wurde stark verändert. Von nun an stellte der CEO die Mitarbeitenden sehr deutlich ins Zentrum des Unternehmensgeschehens. Er führte einen Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) ein. Dadurch wurde das traditionelle BVW beinahe unbedeutend und schließlich abgeschafft. Alle Aktivitäten, die inhaltlich einem IVM entsprachen, wurden nun unter dem Begriff KVP zusammengefasst. Dabei kopierte man nicht ein bekanntes Modell aus dem Ausland oder aus der Literatur, sondern entwickelte eine unternehmensspezifische Variante. Ein Wesensmerkmal des KVP der PPA besteht im KVP-Haus und den darin befindlichen Methoden (siehe Abb. 2). Das KVP-Haus umfasst die drei Hauptkomponenten: (1) Einzelvorschlag (individueller Verbesserungsprozess) sowie zwei Varianten der Verbesserungen im Team, die (2) Kurzmoderation und die (3) Moderation. Einzelvorschläge können alle Mitarbeitenden mittels einer KVP-Verbesserungskarte ( grüne Karte genannt) jederzeit einreichen. Die zwei Teammethoden wurden eingeführt, um möglichst viele Firmenangehörige zur Teilnahme am KVP zu bewegen und die Innovationsbereitschaft möglichst breit abzustützen.
2 Abbildung 1: KVP-Haus der Perlen Papier AG Mit der Kurzmoderation wird auf einem speziellen Chart mit Hilfe einer visualisierten Problemlösungsmethode ein Thema bzw. ein Problem systematisch bearbeitet. Hat ein PPA-Mitglied ein Problem, das es nicht selbst lösen kann, lädt es in Eigeninitiative diejenigen Mitarbeitenden ein, von denen es annimmt, dass sie ihm bei der Problemlösung helfen könnten, zu einer Kurzmoderation ein. Wir können von Ad-hoc-Teams sprechen. Inzwischen wird seit Jahren diese Problemlösungsmethode auf allen Hierarchiestufen intern geschult und erfolgreich angewendet. Eine Moderation umfasst mehrere Sitzungen und wird bei komplexeren Problemstellungen angewandt. Ein zentrales Gestaltungsprinzip im KVP der PPA ist das Vorgesetztenmodell. Mit dem Vorgesetztenmodell wird das organisatorische Prinzip der Dezentralisierung realisiert und die Führungsverantwortung aller Linienkräfte für das KVM der PPA hervorgehoben. Die Organisation der PPA betont auch die Prozessverantwortung der Führungskräfte. Zusätzlich zu den Vorgesetzten tragen weitere Aufgabenträger zum Erfolg des KVM bei. Ein KVP-Koordinator überwacht die Funktionsweise der KVP mit Blick auf das Gesamtunternehmen und gibt Impulse für die Weiterentwicklung. Der dezentrale Charakter des KVP der PPA wird durch weitere rund 100 Mitgestalter eindrucksvoll belegt: es gibt 21 sogenannte "Tafelbetreuer" und rund 80 ausgebildete Moderatoren. Die Tafelbetreuer unterstützen die jeweiligen Vorgesetzten von Organisationseinheiten in ihrer KVP-Tätigkeit, koordinieren die KVP-Arbeit im eigenen Team, sorgen für die Information und Visualisierung an der speziellen Tafel und pflegen die KVP-Datenbank ihrer Organisationseinheit. Sie arbeiten überdies eng mit dem KVP-Koordinator zusammen. Dieser organisiert in jedem Quartal ein Treffen aller Tafelbetreuer zum gegenseitigen Erfahrungs- und Informationsaustausch. Hat ein Arbeitnehmer der PPA eine Idee mittels der grünen Karte an die Tafel geheftet, tritt der Tafelbetreuer in Aktion. Er nimmt diese Ideenkarte an sich, gibt diesen VV in seine Datenbank ein, sucht bei eventuellen Unklarheiten das direkte Gespräch mit dem Einreicher und gegebenenfalls auch mit dessen direktem Vorgesetzten. Wenn er vom Nutzen des VV überzeugt ist, sorgt er selbst für die Umsetzung der eingereich-
3 ten Idee. Jedem Tafelbetreuer steht ein Budget zur Verfügung, womit er kleinere Verbesserungen direkt realisieren kann. Komplexe VV werden der zuständigen Abteilung bzw. weiteren Organisationseinheiten weitergeleitet und von den dortigen Vorgesetzten an die Hand genommen. Aus der bisherigen Falldarstellung wird deutlich: die Organisation des KVP der PPA führt zu einer schnellen und unkomplizierten Umsetzung von Ideen möglichst vieler Mitarbeiter. Die eingangs genannte Beteiligungsquote spricht für sich, insbesondere wenn man diese mit den Werten der nationalen Statistik vergleicht. Weitere Erfolgsfaktoren liegen in der Unternehmenskultur. Nach Aussage des seinerzeit zuständigen KVP-Koordinators hat man den Zustand erreicht, dass die PPA- Mitglieder nicht mehr in eng abgegrenzten Gärtchen denken. Die Teamarbeit wird durchgängig gepflegt. Man legt Wert auf die Integration möglichst aller Arbeitnehmer in das KVP und investiert in die Schulung auf dem Gebiet der Ideenentwicklung. Inzwischen hat sich nicht zuletzt aufgrund der erreichten Erfolge ein gewisser Stolz auf dieses selbst entwickelte und kultivierte System des IVM bei der Mitarbeiterschaft der PPA entfaltet. Die externen Auszeichnungen (sie werden auf dem Internet erwähnt) und die anerkennenden Presseberichte verstärken diese Identifikation. Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten bei erheblichem Konkurrenzdruck durch ausländische Wettbewerber hat das Unternehmen PPA sein KVP aufrecht erhalten und weiterhin neuen Entwicklungen erfolgreich angepasst (vgl. auch den Geschäftsbericht 2011 der CPH Chemie + Papier Holding AG). Eine Verknüpfung mit der Arbeitssicherheit ist angedacht. Dagegen ist ein Einbezug von Kunden und Lieferanten in dieses IVM nicht vorgesehen. Aufgabenstellung Analysieren Sie unter Bezugnahme auf den knappen Falltext (sowie ggf. weiterer Internet-Recherchen: www.perlenpapier.ch) und auf die im ganzen Kapitel genannten allgemeingültigen Effizienzgrößen und Gestaltungselemente für ein IVM, welche Gründe den ungewöhnlichen und nachhaltigen Erfolg des KVP dieses Industrieunternehmens erklären können. Lösungsskizze zur Fallstudie Es wird nur eine Lösungsskizze aufgezeigt, um die Verbindung zwischen Kapitel- und Falltext herzustellen. Die Firma PPA hat sich zu einem erheblichen, letztlich radikalen Reformschritt entschieden. Sie schaffte das konventionelle (unergiebige) BVW ab und entschied sich für einen Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP). Es handelt sich um eine zeitgerechte und firmenindividuelle Form des IVM. Angestrebt werden offensichtlich ökonomische und soziale Ziele. Aus dem Falltext wird deutlich, dass man Einsparungen anstrebt und über das KVP den Teamgedanken
4 pflegen will. Enges individualistisches Denken oder Abgrenzungen gegen Nachbarabteilungen etc. sollen überwunden werden. Die zwei erwähnten Effizienzkriterien sind überaus eindrucksvoll. 700 Ideen auf 400 Mitarbeitende entsprechen einer Beteiligungsquote von 175 Prozent. Damit ist die Bezeichnung KVP gerechtfertigt. Über 5 Millionen CHF in 6 Jahren einzusparen, ist ein erheblicher wirtschaftlicher Erfolg. Hinzu kommt der nicht berechenbare Nutzen. Viele Personen erhielten Schulungen. Die üblichen Fähigkeits-, Willens- und Risikobarrieren scheinen weitestgehend überwunden zu sein. Jeder macht mit. Es ist einfach, eine grüne Karte mit einer Verbesserungsidee an die Tafel zu befestigen. Die Moderationen kürzerer und längerer Art schaffen ein kreativitätsförderliches Klima. Die Angst, sich zu blamieren, wird sehr niedrig gehalten. Rund 100 der 400 Arbeitnehmer übernehmen zumindest zeitweise eine aktive Rolle in diesem KVP. Aufwändige Werbekampagnen sind nicht mehr nötig. Alle kennen dieses Führungskonzept und beteiligen sich daran. Über das Anreizsystem wird im Falltext nicht im Detail gesprochen. Das Unternehmen hebt jeweils die Einsparungen hervor (z. B. 523.680 CHF durch Ausschussmengenreduktion im Jahre 2011 laut cph news, der Hauszeitschrift im Dezember 2011). Das rein Materielle scheint jedenfalls nicht im Vordergrund zu stehen. Dieses KVP ist Teil der gelebten Unternehmenskultur geworden, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wertschätzung für alle Beteiligten, Förderung des Teamgeistes und Stolz auf das bisher Erreichte sowie externe Anerkennungen betonen die immaterielle Seite des Anreizsystems. Die Organisation dieses KVP ist zweifellos ein starker Erfolgsfaktor. Die Dezentralisierung wird mit größter Konsequenz vollzogen. Zusätzlich gibt es eine zentrale Koordination, die vor allem der Weiterentwicklung und dem Erfahrungsaustausch dient. Das Vorgesetztenmodell funktioniert in spezieller Form. Den Vorgesetzten sind hilfreiche Tafelbetreuer (dezentrale KVP-Förderer) und Moderatoren zugeordnet. Vieles wird sehr schnell dezentral umgesetzt. Eine aufwändige Gremienarbeit existiert nicht. Die Aufgabenträger haben auch die erforderlichen Kompetenzen (z.b. ein eigenes Budget) und Fähigkeiten dank gezielter Schulung. Der CEO ist wahrscheinlich der oberste Promotor des ganzen KVP-Systems, weil dieses seinem Menschenbild entspricht und seine Vorstellung von der passenden Unternehmenskultur für die PPA im Arbeitsalltag wirkungsvoll umsetzt. Die Vorgesetzten aller Hierarchiestufen tragen das Konzept mit. Es ist nicht nötig, Arbeitnehmervertretungen formell einzubinden, jeder kann selbst mitwirken und in gewisser Weise auch mitbestimmen, weil seine Ideen ernst genommen werden und zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der Qualität des Arbeitslebens beitragen. Die Firma PPA erhielt den Nachhaltigkeitspreis (IOP-Sustainability-Award 2011), weil die Anstrengungen, ein solches maßgeschneidertes KVP zu implementieren, nicht nach wenigen Jahren nachließen. Man hat auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten (siehe Presseberichte; vgl. auch www.iop.unibe.ch -> IOP in den Medien -> Printmedien 2011) durchgehalten und betreibt das neue KVP nunmehr seit rund einem Dutzend Jahren.