Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung



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Transkript:

Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung AndreAs WiedemAnn 1 Der geriatrische Patient 3 2 2.1 2.2 2.3 Hintergrund 4 Multimorbidität und Multimedikation 4 Ultrastrukturelle Altersveränderungen der Harnblase Alterserkrankungen mit Einfluss auf die Harnblase 3 Basisdiagnostik 4 Erweiterte Diagnostik 5 5.1 5.2 5.3 Therapieplanung 12 Allgemeines 12 Verhaltenstherapeutische Maßnahmen Physiotherapeutische Interventionen 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 Harninkontinenz 14 Inkontinenzformen 14 Therapie bei Patienten mit Überaktiver Blase Therapie bei Belastungsinkontinenz 21 Therapie bei Mischinkontinenz 21 Therapie bei extraurethraler Inkontinenz bzw. neurogener Inkontinenz 21 7 9 7 Blasenentleerungsstörungen 21 7.1 Akute Harnverhaltung 21 7.2 Chronische Blasenentleerungsstörung Literatur 24 13 14 22 16 6 6

1 Der geriatrische Patient Der geriatrische Patient wird auch, aber nicht ausschließlich über sein Alter definiert. Nach der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie ist er in der Regel über 70 Jahre alt und zusätzlich multimorbid, wobei die Multimorbidität einen höheren Stellenwert als das kalendarische Alter hat. Auch über 80-Jährige sind geriatrische Patienten; denn dieses Alter ist mit einer besonderen Vulnerabilität verbunden, die wiederum von Chronifizierung, Autonomieverlust und der Verschlechterung des Selbsthilfestatus gekennzeichnet ist. (http://www.dggeriatrie.de/ nachwuchs/91-was-ist-geriatrie.html). Die Harninkontinenz gehört neben der Immobilität, der Irritabilität (Veränderungen der Kognition) und der Instabilität (Gangunsicherheit) zu den geriatrischen Hauptthemen, den vier geriatrischen I. Neben diesen vier Hauptthemen gewinnt in letzter Zeit zunehmend ein fünftes I an Bedeutung: die iatrogene Schädigung. Gemeint sind damit die Einflüsse der Multimedikation durch Medikamenteninteraktionen. Geriatrietypisch ist in diesem Zusammenhang, dass Altersveränderungen und Funktionsstörungen häufig in vielen Organgebieten gleichzeitig auftreten und alle Dimensionen des Patienten auf organischer, psychischer und sozialer Ebene bei verringerter Kompensationsund Anpassungsfähigkeit betreffen. Die Diagnose und die Therapie von geriatrischen Patienten mit Blasenfunktionsstörungen erfordern die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten aus Urologie und Geriatrie, die geradezu Modellcharakter gewinnen könnte für die Zusammenarbeit von Geriatern mit Ärzten anderer operierender Fachdisziplinen. So sind heute viele urologische Methoden in Diagnostik und Therapie gerade auf die Bedürfnisse multimorbider und hochbetagter Patienten angepasst. Sie könnten so sie dem Geriater bekannt sind für diese Patienten eine breitere Anwendung finden. Als Beispiele seien Laserverfahren für die operative Therapie einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) genannt. Aber auch klassisch-geriatrische Methoden, z. B. die quantifizierende Beurteilung eines Patienten in Assessments oder die berufsgruppenübergreifenden Konzepte einer auf die kognitiven Leistungsreserven abgestuften Verhaltensintervention, wären in der Urologie und nicht nur dort hilfreich. Die Uro-Geriatrie könnte damit ein Leuchtturmprojekt werden, das sich beispielsweise auch auf die Alterstraumatologie, die geriatrische Kardiologie oder die geriatrische Gynäkologie übertragen ließe. Klassische Fragestellungen für den skizzierten urologisch-geriatrischen Ansatz wären unter anderem die Diagnostik und die Therapie der Harninkontinenz, die Klärung und Behandlung einer Blasenentleerungsstörung, die ätiologische Bedeutung der Multimedikation im Hinblick auf eine Blasenfunktionsstörung sowie die besondere Behandlung chronischer Harnwegsinfekte bzw. einer Bakteriurie. Die folgenden Ausführungen stützen sich wesentlich auf die Leitlinie Harninkontinenz der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, die seit Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 3

2009 als S2-Leitlinie bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Fachgesellschaften unter der Leitlinien-Nummer 84/001 als einzige komplette deutschsprachige Leitlinie zum Thema Harninkontinenz eingestellt ist (http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/084-001.html). Sie ist im September 2014 in einer aktualisierten Version erschienen. Verfasst wurde die Leitlinie von der interdisziplinär mit Urologen aus Klinik und Praxis sowie Geriatern besetzte Arbeitsgruppe Inkontinenz der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (Kontakt: awiedemann@diakonie-ruhr.de). 2 Hintergrund 2.1 Multimorbidität und Multimedikation Der Zugang zu Blasenspeicher- oder Blasenentleerungsstörungen in der Geriatrie ist anders als in der Urologie oder Uro-Gynäkologie. Während sich letzere Fachgebiete isoliert dem Symptom Harninkontinenz oder Harnretention nähern, betrachtet die Geriatrie den geriatrischen Patienten, der in der Regel hochbetagt und multimorbid ist, mit seiner Vielzahl von Problemen ganzheitlich. Blasenfunktionsstörungen sind dann Teil umfassenderer Veränderungen auf medizinischer, psychischer und sozialer Ebene des Individuums (Abb. 1). Alterstypisch ist die zunehmende Zahl an Organdiagnosen, auf der wiederum eine Multimedikation beruht. So werden im 8. Lebensjahrzehnt bis zu 8,4 Organdiagnosen angegeben [48]; 55% der über 85-Jährigen nehmen mehr als 4 Medikamente ein [29]. Doch bereits bei der Einnahme von 4 Präparaten liegt die Zahl der tatsächlichen Interaktionen bei 30%, bei der Einnahme von 6 Medikamenten gar bei 70% [23]. Problematisch ist auch, dass die Vielzahl an behandelnden Ärzten aus unterschiedlichen Fachrichtungen häufig nur auf die eigene Verschreibung fokussieren und die Medikation der beteiligten Kollegen nur ungenügend kennen bzw. berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Zusammenhänge zwischen Medikamenteninteraktionen und Harninkontinenz bisher noch weitgehend unberücksichtigt sind. Eine Fülle von Medikamenten mit Indikationen fern des Harntraktes nimmt Einfluss auf die Kontinenzlage mit einer Reduktion der Detrusorkontraktilität (z. B. NSAR, Morphine), einer Relaxation des Beckenbodens (z. B. Benzodiazepine) oder einer Stimulation des Detrusors (z. B. Analoga der Gamma-Aminobuttersäure, GABA-Analoga). Gerade auch Antidementiva wie Donezepil, Rivastigmin oder Galantamin, die als Cholinesterasehemmer die Konzentration von Azetylcholin am synaptischen Spalt durch eine Inaktivierung des Abbauenzyms erhöhen, bewirken eine Detrusoraktivierung [73, 75]. Andere Interaktionsmöglichkeiten bestehen in Bezug auf den Arzneimittelabbau. So unterliegen alle urologischen Anticholinergika aus der Reihe der tertiären Amine (Darifenacin, Oxybutynin, Propiverin, 4 Andreas Wiedemann

Abbildung 1: Blasenfunktionsstörungen als geriatrisches Syndrom (Teil 1). Solifenacin und Tolterodin) dem Abbau über Zytochrome. Diese mischfunktionellen Oxidasen zeichnen sich jedoch durch eine außerordentliche genetische und Gender-Variabilität aus. So besitzt das Zytochrom P450 3A4 bei Frauen eine um 20% höhere Aktivität, das Zytochrom 2D6 ist bei Männern um den Faktor 2 bis 3 stoffwechselaktiver. 10% der Europäer sind sogenannte ultraschnelle Metabolisierer, d. h. ihre erhöhte Enzymaktivität führt zu einem vermehrten Abbau der Zytochrom-Substrate, sodass die Serumspiegel der genannten tertiären Amine niedriger liegen als beim Rest der Bevölkerung [66]. Darüber hinaus beeinflussen viele Medikamente die Zytochromaktivität, darunter H2-Blocker oder Gyra- Fazit Eine Fülle von Medikamenten beeinflusst den sehemmer beispielsweise die gerade in der Urologie Harntrakt direkt oder indirekt, unter anderem häufig verwendeten Substanzen Ciprofloxacin und Nor- Antidementiva, Calciumantagonisten, Diurefloxacin, außerdem Sartane oder Calciumantagonisten. tika, Sedativa, Neuroleptika und Morphine. Sie alle induzieren oder hemmen die Zytochromaktivität. Daneben sind hinsichtlich der Arzneimittelwirkung altersphysiologische Veränderungen zu beachten: Eine niedrige glomeruläre Filtrationsrate (GFR), Veränderungen des Magen-pH-Wertes, nachlassende gastrointestinale Peristaltik, sowie reduzierte Leberdurchblutung und Lebermasse. All diese Veränderungen sind in der Therapie von geriatrischen Patienten mit Blasenfunktionsstörungen zu bedenken. Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 5

2.2 Ultrastrukturelle Altersveränderungen der Harnblase Typisch für den Altersdetrusor ist das Nebeneinander von scheinbar widersprüchlichen Phänomenen wie der Detrusorinstabilität und einer gleichzeitig verminderten Detrusorkontraktilität. Dieses Bild läßt sich durch elektronenmikroskopisch nachweisbare Veränderungen erklären. So führen altersbedingte Membranalterationen zu einer saltatorischen, kurzschlussartigen elektrophysiologischen Weiterleitung von nervalen Impulsen; dieses Konzept der protusion juncfazit tions von Elbadawi [32] ist heute allgemein akzeptiert. Typisch für den Altersdetrusor ist das mögliche Nebeneinander scheinbar wider- Gleichzeitig führen degenerative Prozesse wie der Ersatz sprüchlicher Phänomene wie Detrusor- kontraktiler und elastischer Elemente durch Kollageninstabiltiät und Detrusorhypokontraktilität. fasern, eine zunehmende Vakuolisierung und eine vermehrte Zellfragmentierung zu einem Verlust von Kontraktilität [30, 31]. So ist im Altersdetrusor ein Nebeneinander von Detrusorinstabilität und -hypokontraktilität in der Urodynamik möglich [32]. Noch unterhalb der elektronenmikroskopischen Ebene finden weitere Altersveränderungen im Detrusor statt, die durch Alterationen des Rezeptorverhältnisses im muskarinergen, adrenergen und purinergen System gekennzeichnet sind. So gilt zumindest im Tierversuch eine Zunahme von M2-Rezeptoren innerhalb des cholinergen Systems [6, 7] und eine vermehrte Empfindlichkeit auf alpha-adrenerge Impulse [36, 37] als gesichert. 2.3 Alterserkrankungen mit Einfluss auf die Harnblase Eine Fülle von harntraktunabhängigen Erkrankungen hat darüber hinaus Auswirkungen auf den Harntrakt und ist damit Teil des geriatrischen Syndroms. So führt eine Vielzahl von neurologischen Erkrankungen nicht nur über die Immobilität oder die feinmotorische Behinderung zu Kontinenzproblemen, sondern die wegfallende zerebrale Hemmung der Blase führt häufig auch zumindest passager zu Symptomen einer Überaktiven Blase. Dies ist nicht nur vordergründig bei Erkrankungen des ZNS wie Demenz, Hirninfarkt, M. Parkinson oder Multiple Sklerose der Fall; auch Erkrankungen des peripheren Nervensystems haben in hohem Maße Einfluss auf den Harntrakt. Hierzu gehört auch und wegen der epidemiologischen Bedeutung besonders der Typ-2-Diabetes, der nach 8 Jahren Diabetes-Dauer bei 2/3 der Betroffenen zu Harntraktbeschwerden führt [85]. Auch das obstruktive SchlafFazit apnoe-syndrom ist vermutlich auf dem Boden einer Eine Vielzahl harntraktferner Erkrankungen Sauerstoffmangel-Neuropathie in hohem Maße mit einer beeinflusst den Harntrakt; vor allem neurolo- Harninkontinenz und hier mit einer Überaktiven Blase gische Erkrankungen, Prostatahyperplasie assoziiert [44, 45]. Weitere Alterserkrankungen mit Bedes Mannes, Östrogenmangel der Frau, Diaeinflussung des unteren Harntraktes sind die benigne betes mellitus und Schlafapnoe. Prostatahyperplasie des Mannes, die Schleimhautatro- 6 Andreas Wiedemann

Abbildung 2: Blasenfunktionsstörungen als geriatrisches Syndrom (Teil 2). phie der postmenopausalen Frau, die Obstipation und die durch diese Phänomene begünstigten chronischen Harnwegsinfekte. Das wahre Ausmaß der Zusammenhänge wird deutlich, wenn man den Verlust von Funktionsreserven und Selbstständigkeit auf allen Gebieten der Existenz, auf somatischer, sozialer und psychischer Ebene betrachtet. Schon das durch eine Pollakisurie und Nykturie erhöhte Sturz- und Frakturrisiko [9] und die durch ZNS-gängige Anticholinergika zur Therapie einer überaktiven Blase auftretenden Nebenwirkungen wie Schwindel, Schlafstörungen oder Delir [16, 17] mit dem daraus resultierenden noch einmal erhöhten Sturzrisiko verdeutlichen die Vielzahl von Bezügen des geriatrischen Syndroms Blasenfunktionsstörung (Abb. 2). 3 Basisdiagnostik Die Basisdiagnostik gewährleistet die genaue Erfassung der geschilderten Beschwerden, ihre Objektivierung und versucht eine erste Klassifikation der Beschwerden. Neben der gezielten Miktions- und Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 7

Inkontinenzanamnese, bestehend aus den in Übersicht 1 wiedergegebenen Fragen, sollten relevante Erkrankungen bzw. Voroperationen gynäkologischer oder urologischer Art erfragt werden. Die Medikamentenanamnese liefert Hinweise auf eine iatrogen-medikamentöse Genese einer Blasenfunktionsstörung. Übersicht 1. Gezielte Miktions- und Inkontinenzanamnese Wie häufig am Tag? Wie häufig in der Nacht? Wie ist der Harnstrahl? Wird Urin verloren? Wenn ja, bei welchen Gelegenheiten? Beim Husten, Lachen oder Heben? Auf dem Weg zur Toilette? Im Liegen? Ist der Harndrang stärker geworden? Wie ist die Versorgung? Vorlagen? Wäschewechsel? Obstipation? Stuhlinkontinenz? Ein Miktionsprotokoll ist in angepasster, vereinfachter Form z. B. als Strichliste auch von geriatrischen Patienten bzw. im Sinne eines Fremdprotokolls vom Pflegepersonal bzw. pflegenden Angehörigen leistbar. Aufwändigere Formen des Blasentagebuchs mit Protokollierung von ergänzenden Parametern wie miktioniertem Volumen, Trinkmenge, Uhrzeit, Harndrang etc. sind im Alltag häufig nicht vom Betroffenen korrekt ausfüllbar. Bei Verdacht auf Prostatahyperplasie hilft der internationale, validierte Prostatasymptomenscore IPSS, Symptome und Leidensdruck systematisch zu erfassen [67, 84]. Um das Ausmaß einer Harninkontinenz zu quantifizieren, helfen validierte Vorlagen-Wiege-Tests wie der Fazit pad test, das einfache Zählen der verbrauchten Vorlagen Auch ohne aufwändige Pad-Tests kann durch Zählen oder Wiegen der verwendeten unter Registrierung der Vorlagenart (Slipeinlage, InkontiInkontinenzprodukte pro Tag oder Vormittag nenzeinlage, Windelhose bzw. Betteinlage) oder das eine Quantifizierung der Harninkontinenz Wiegen von aufsaugenden Hilfsmitteln pro Zeiteinheit, vorgenommen werden. z. B. alle 24 Stunden. Mit einer körperlichen Untersuchung inklusive vaginaler Einstellung und rektaler Tastung (Übersicht 2) Fazit Die genaue Sonographie der Harnblase liefert sowie der Erhebung eines orientierenden neurologischen bereits über den Restharn hinaus Informa- Status erfolgt der Ausschluss einer Überlaufinkontinenz, tionen zum Prostatavolumen, Hinweise auf pathologischer gynäkologischer Befunde oder okkulter Trabekulierung, Sludge oder Steine. neurologischer Krankheitsbilder (Abb. 3). Fazit Ein abgespecktes Miktionsprotokoll (Strichliste) ist auch von geriatrischen Patienten, Pflegepersonal oder pflegenden Angehörigen zu leisten. 8 Andreas Wiedemann

Abbildung 3: Zervix-Polyp bei der orientierenden gynäkologischen Untersuchung. Zum Infektausschluss dienen der Urinstatus bzw. bei entsprechenden Hinweisen die Urinkultur. Die Sonographie des Harntraktes gibt nicht nur Hinweise auf das Restharnvolumen, sie kann bereits Aussagen über die Anatomie des unteren Harntraktes oder Pathophysiologien liefern und Aussagen über den oberen Harntrakt machen (Übersicht 3). Übersicht 2. Vaginale Einstellung und rektale Untersuchung Blase nach Miktion tastbar oder perkutierbar? Prolaps? Schleimhautatrophie? Rektalsphinktertonus? Prostataadenom? Koprostase? Übersicht 3. Sonographie des Harntraktes: Mögliche Ergebnisse Anatomie des unteren Harntrakts Divertikel? Blasenwandverdickung? Trabekulierung? Prostata endovesikal? Pathophysiologie Blasenstein? Tumor? Sludge? Oberer Harntrakt Pyelonephritis? Harnstauung? 4 Erweiterte Diagnostik Eine erweiterte Diagnostik häufig in Kooperation mit einem Urologen bzw. Gynäkologen durchgeführt ist nötig, wenn eine primäre KlassiGeriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 9

Abbildung 4: Urodynamische Messung von oben nach unten: Harnstrahl (rot), miktioniertes Volumen (violett), intravesikaler Druck (blau), intrarektaler Druck (schwarz), rechnerisch bestimmter Detrusordruck (grün), Beckenboden-EMG (rot). Bild einer instabilen Blase mit terminaler ungehemmter Detrusorkontraktion. Klinisches Bild: OAB wet. fizierung der Blasenfunktionsstörung mit Hilfe der Basisdiagnostik nicht gelingt oder die primäre, empirische Therapie fehlgeschlagen ist. Sie ist in jedem Fall vor geplanten operativen Maßnahmen anzuraten [5]. Mit einer urodynamischen Untersuchung (Abb. 4) ist eine Quantifizierung und Objektivierung geschilderter Beschwerden möglich; in vielen unklaren Fällen gelingt es sogar, eine Inkontinenzklassifizierung an Hand der gelieferten Messparameter Blasenkapazität, Harndrang, intravesikaler Druck, intraurethraler Druck mit und ohne Provokation vorzunehmen. Bei der klassischerweise im Sitzen vorgenommenen Untersuchung ist die Blase langsam mit körperwarmer Flüssigkeit zu füllen, während simultan Volumina, Drücke und ein BeckenbodenEMG abgeleitet werden. Eine Harnstrahlmessung mit Restharnbestimmung rundet die urodynamische Messung ab. In speziellen Fragestellungen erfolgt die Füllung mit Kontrastmittel unter Durchleuchtung so ist eine Bildgebung des registrierten funktionellen Geschehens möglich. Die Untersuchung ist an ein Mindestmaß an Compliance gebunden und eignet sich auch zur Therapiekontrolle. Während die urodynamische Messung die Funktion des unteren Harntraktes erfasst, sind Zystoskopie sowie die rektale bzw. Introitussonographie geeignet, morphologische Veränderungen als Auslöser 10 Andreas Wiedemann

Abbildung 5: Introitussonographie mit Eröffnung der proximalen Harnröhre ( Trichter ) als Hinweis auf eine Belastungsinkontinenz. Abbildung 6: Introitussonographie: TVT-Band-Fehllage in der Harnblase (Pfeil). Abbildung 7: Zystoskopie bei einer Patientin mit vesikovaginaler Fistel: Der in die Scheide eingelegte handschuhbewehrte Finger ist durch den Blasenhals hindurch sichtbar. einer Harnspeicher- oder Blasenentleerungsstörung zu erfassen. So kann nicht nur die Größe der Prostata als klassische Ursache für eine Blasenentleerungsstörung des Mannes transrektal genauer bestimmt werden, es sind zusammen mit dem Tastbefund und dem PSA-Wert auch Aussagen zur Dignität möglich. Weiterführende Informationen über eine weibliche Blasenfunktionsstörung sind ebenfalls non-invasiv durch die Introitussonographie zu erhalten (Abb. 5 und 6). Zystoskopisch beurteilt werden Schleimhautbild und Anatomie der Harnblase; indirekte Hinweise auf eine Obstruktion lassen sich an Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 11

der Trabekulierung und der Konfiguration bzw. der Weite des Blasenausgangs ablesen; darüber hinaus sind beispielsweise auch Harnblasenfisteln erkennbar (Abb. 7). 5 Therapieplanung Die Therapie eines geriatrischen Patienten mit Blasenfunktionsstörung erfolgt in Abstimmung mit seinen persönlichen Wünschen und denen der Angehörigen in Kenntnis der Gebrechlichkeit, Multimorbidität, Multimedikation und des Leidensdrucks. Sie ist, wenn immer möglich, konservativ. Besonders operative Maßnahmen sollten ausschließlich Fazit in Absprache mit den operierenden Fachdisziplinen Die Therapie geriatrischer Patienten folgt und nach anästhesiologischer Sichtung erfolgen. Sie den Wünschen von Patienten und Angehörisind in aller Regel Ausnahmefällen bei Versagen und gen, ist interdisziplinär und in aller Regel Nichtanwendbarkeit aller anderen Therapieoptionen konservativ. vorbehalten [4]. 5.1 Allgemeines Neben der Identifikation von Substanzen aus der Co-Medikation, die möglicherweise die Blasenfunktion beeinträchtigen, ist beim geriatrischen Patienten eine allgemeine körperliche und geistige Roborierung sinnvoll. Zu den mobilitätsverbessernden Maßnahmen gehören z. B. eine konservative Therapie von Gelenkbeschwerden etwa durch Cortisoninjektionen oder einer antiphlogistischen Bestrahlung, eine Osteoporose-Therapie und ein Gleichgewichtstraining. Multimedikation Im Hinblick auf die Multimedikation des geriatrischen Patienten ist die Durchsicht auch der nicht-urologischen Medikation notwendig. Gut dokumentiert ist der Einfluss folgender Medikamente auf die Blasenfunktion[34, 51, 59, 60, 74, 81]: Diuretika, Clozapin, Calciumantagonisten, Alpha-Blocker, Cholinesterase-Inhibitoren und Systemische Hormonersatztherapie. Koffein Der Zusammenhang zwischen Koffeingenuss und Harninkontinenz wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt und ist vermutlich dosisabhängig. Ein Zusammenhang zwischen Drangsymptomen und exzes- 12 Andreas Wiedemann

sivem Koffeingenuss erscheint wahrscheinlich [43, 78]. In diesem Fall sollte zu einer Restriktion geraten werden. Flüssigkeitsmanagement Eine Glättung der Flüssigkeitsaufnahme kann bei geriatrischen Patienten sinnvoll sein. Da in Anbetracht der Exsikkose-Gefahr und der veränderten Verteilungsvolumina eine Flüssigkeitsrestriktion problematisch erscheint und in der Literatur auch nur einen begrenzten Effekt zeigt [38, 90], sollte sie wenn überhaupt unter engmaschiger Kontrolle erfolgen. Obstipationsregulation Eine Obstipation kann nicht nur eine Blasenentleerungsstörung begünstigen, sondern auch Drangsymptome fördern. Es ließen sich durch die operative Therapie eines Deszensus des hinteren Scheidenkompartimentes auch Drangsymptome bessern [21]. Unter experimentellen Bedingungen einer urodynamischen Messung mit simultaner rektaler Ballondistension ließen sich Veränderungen urodynamischer Parameter dokumentieren [3]. Bei einem Teil der Patienten mit klinischem Verdacht auf eine Überaktive Blase ließ sich dies nur bei gleichzeitiger rektaler Dilatation nachweisen [64]. Damit erscheint eine Stuhlregulation bei vorliegender Harninkontinenz sinnvoll. 5.2 Verhaltenstherapeutische Maßnahmen Neben klassischen physiotherapeutischen Interventionen stehen angepasst an die Compliance und die kognitive Leistungsfähigkeit verschiedene Formen des Toilettentrainings zur Verfügung. Diese sind auch an die personelle Ausstattung und den Motivationsgrad der betabelle 1: Formen des Toilettentrainings. Form Prinzip Zielgruppe Festgelegte Entleerungszeiten (timed voiding) Betroffene werden nach starrem Zeitplan zur Toilette begleitet. Kognitiv und funktionell eingeschränkte Betroffene. Individuelle Entleerungszeiten (habit training) Wie oben, jedoch mit individuellem Toilettenplan. Wie oben, wenn Miktionsmuster festgestellt werden kann. Angebotener Toilettengang (prompted voiding) Es wird regelmäßig nach Plan die Aufmerksamkeit auf die Blase gelenkt und an einen Toilettengang erinnert, nötigenfalls zur Toilette begleitet. Wenn erfolgreich, erfolgt eine positive Rückmeldung und Besprechung des Zeitpunktes des nächsten Toilettenganges. Nicht ausreichende kognitive Fähigkeiten für komplexere Verhaltensinterventionen, aber Zielperson ist in der Lage, die Toilette zu nutzen. Blasentraining (bladder drill) Selbstständiges Aufsuchen der Toilette nach festem Zeitplan; allmähliche Steigerung der Intervalle. Kognitiv kompetente Personen, die ein Protokoll führen können. Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 13

treuenden Pflegenden bzw. Angehörigen gebunden und reichen vom angebotenen Toilettengang bis hin zum Blasentraining mit individuellen Entleerungszeiten (Tab. 1). 5.3 Physiotherapeutische Interventionen Physiotherapeutische Interventionen werden zur Behandlung der Belastungsinkontinenz und seltener zur Behandlung der Dranginkontinenz eingesetzt. Es existieren lediglich 2 Studien mit älteren Frauen zwischen 55 und 97 Jahren bzw. einem mittleren Alter von 68 Jahren [12, 57] und eine einzige Untersuchung mit 377 geriatrischen, stationär behandelten Patientinnen [77]. Einerseits erfordern physiotherapeutische Interventionen die Mitarbeit und Motivation der Betroffenen, andererseits gibt es keine Nebenwirkungen. Ob ein Zusatznutzen zur Pharmakotherapie besteht, ist umstritten [10, 11]. Damit kann auch beim geriatrischen Patienten bei entsprechenden Voraussetzungen die Anwendung aktiver oder passiver Physiotherapie versucht werden. 6 Harninkontinenz 6.1 Inkontinenzformen Die International Continence Society (ICS) unterscheidet 5 Inkontinenzformen. Dabei machen die Belastungsinkontinenz (früher: Stressinkontinenz) und die Überaktive Blase (früher: Dranginkontinenz) den größten Teil aller Inkontinenzformen aus. Die extraurethrale (Fistelinkontinenz) und die Überlaufinkontinenz (Inkontinenz bei hohem Restharn) sind selten; eine neurogene Harninkontinenz fokussiert auf die Ursache einer zuvor genannten Inkontinenzform wie der neurogenen überaktiven Blase oder der neurogenen Überlaufinkontinenz [1]. Die Überaktive Blase wird als Symptomkomplex aus Pollakisurie, Nykturie und imperativem Harndrang mit (overactive bladder wet) oder ohne (overactive bladder dry) Dranginkontinenz definiert, wenn keine andere Ätiopathologie oder Infektion vorliegt. Im klinischen Sprachgebrauch hat sich dafür der Begriff idiopathische OAB eingebürgert. Es wird eine symptomatische OAB abgegrenzt, bei der die genannten Symptome zum Beispiel bei benignem Prostatasyndrom, nach chronischen Infekten oder Genitalatrophie vorkommen. In Studien werden eine Tagesmiktionsfrequenz von mehr als 7 Miktionen und eine Nykturie von mehr als 1 Miktion als Einschlusskriterium zugrundegelegt. Pathophysiologisch sind für die Überaktive Blase ungehemmte Detrusorkontraktionen oder eine gestörte Harnblasensensibilität verantwortlich. 14 Andreas Wiedemann

Abbildung 8: Belastungsinkontinenz und Überaktive Blase. Demgegenüber ist eine Belastungsinkontinenz als Beckenbodenproblem zu verstehen; es kommt in Situationen erhöhten intraabdominellen Drucks wie Husten, Lachen, Niesen oder Heben zu einem passiven Urinverlust ohne Harndrang durch eine verschlechterte Druckübertragung des vertikalen, abdominellen Druckes auf den sich horizontal kontrahierenden Beckenboden (Abb. 8). Im Extremfall kann der Urinverlust bereits im Liegen auftreten. Als Unterscheidungsmerkmal zwischen OAB und Belastungsinkontinenz wird die Menge des verlorenen Urins herangezogen: Im klassischen Fall läuft die Blase bei einer OAB komplett leer; bei einer Belastungsinkontinenz kommt es zu einem spritzerförmigen Teilverlust des Blaseninhaltes. Die Belastungsinkontinenz ist die typische Inkontinenzform der Frau; eine Belastungsinkontinenz beim Mann tritt fast ausschließlich nach radikalchirurgischen Eingriffen im kleinen Becken wie der radikalen Prostatektomie bei Prostatakarzinom auf. Typisch für den geriatrischen Patienten ist die Mischinkontinenz, also das Nebeneinander von Belastungsinkontinenz und Drangsymptomen. Besonders verschlimmernd auf eine Drangsymptomatik wirkt sich die oft vorliegende Immobilität aus, die ein rechtzeitiges Erreichen der Toilette verhindert. Bei einer Überlaufinkontinenz kommt es zum Urinverlust kleiner Portionen Urin in kurzen Abständen; häufig aber nicht immer besteht auch das Gefühl der unvollständigen Blasenentleerung. Eine Fistelinkontinenz führt je nach Größe der Fistelöffnung zu einem kontinuierlichen Urinverlust ohne Harndrang. Da sie in fast allen Fällen nach gynäkologischen Eingriffen oder nach Radiatio des kleinen Beckens entsteht, ist hier der anamnestische Zusammenhang wegweisend. Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 15

Die Belastungsinkontinenz der Frau ist neben der Beckenbodenphysiotherapie Domäne der operativen Therapie. Die in die konservative Therapie mit dem Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Hemmer Duloxetin gesetzten Erwartungen, der für die leichte und mittelgradige Belastungsinkontinenz der Frau zugelassen ist, haben sich nicht erfüllt [55, 56]. In der Geriatrie wird der Stellenwert des Präparats für Patientinnen gesehen, bei denen zwar ein Therapiewunsch vorliegt, aber keine andere Therapieoption anwendbar ist [4]. Zur Palliativversorgung einer weiblichen Belastungsinkontinenz zählt die Versorgung mit Pessaren. 6.2 Therapie bei Patienten mit Überaktiver Blase Eine Überaktive Blase ist sehr gut konservativ beherrschbar. Eingebettet in flankierende Maßnahmen wie eine Östrogenisierung der postmenopausalen Frau, Regulierung der Stuhlentleerung, Glättung der Trinkmenge und Durchsicht der Medikation sind AntiFazit cholinergika (syn.: Antimuskarinika) sehr wirksam. KonFlankierend zur gezielten Therapie einer Harninkontinenz sollte die Medikation über- traindikationen stellen das Engwinkelglaukom, Stenosen prüft, die Trinkmenge angepasst und eine im Magen-Darm-Trakt und die Myasthenia gravis dar. Zu Obstipation reguliert werden. den häufigsten Nebenwirkungen der gesamten Gruppe gehören Mundtrockenheit und Obstipation, seltener trockene Haut, Sehstörungen, Konzentrationsmangel bis hin zu deliranten Zuständen. 6.2.1 Anticholinergika und Sturzgefahr Für geriatrische Patienten haben diese in Studien selten untersuchten ZNS-Nebenwirkungen eine erhebliche Bedeutung vor allem im Hinblick auf die Sturzgefährdung. Es besteht gerade im Zusammenhang mit verschwommenem Sehen und einer verschlechterten Hell-DunkelAnpassung, etwa bei beginnendem Katarakt, ein erhebliches Gefährdungspotential. Doch sind es gerade diese Nebenwirkungen, die in randomisierten Studien überhaupt nicht erfasst werden [46]. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, weil bereits eine eingeschränkte Mobilität und eine OAB zusammengehören. So konnte die Arbeitsgruppe von Hunter und Moore zeigen, dass zwischen beiden Entitäten ein statistisch signifikanter Zusammenhang besteht: Sie bestimmten mit dem Timed-up-and-go-Test die Zeit, die eine Person benötigt, um aus einem Stuhl aufzustehen, 3 Meter zu gehen, umzukehren und sich wieder hinzusetzen, und wendeten parallel dazu den validierten ICI-Q Fragebogen zur Erhebung von Harntraktbeschwerden an. Es fand sich eine signifikante Korrelation zwischen einer reduzierten Mobilität, dem Auftreten von Stürzen und dem Gesamt-Punktwert im ICI-Q und dem darin enthaltenen OAB-Teil [42]. Stürze stellen ein enormes medizinisches und sozioökonomisches Problem dar: 30% der zuhause lebenden Personen über 65 Jahre, aber 16 Andreas Wiedemann

56% der zuhause lebenden über 90-Jährigen stürzen pro Jahr mindestens einmal [14, 15]. 10% der Stürze im Alter müssen medizinisch versorgt werden, 5% 10% sind von Frakturen gefolgt; 1% 2% der Stürze führen zu einer Schenkelhalsfraktur [33]. Während 6 von 1000 Stürzen zuhause eine Hüftfraktur zur Folge haben, sind es im Heim 60 von 1000 [22]. Dramatisch stellen sich auch die mittelbaren Sturzfolgen dar: Es steigt die Heimeinweisungsrate; bei 40% der Betroffenen wird der körperliche Aktivitätsgrad vor dem Sturzereignis nicht wieder erreicht [87, 88, 89]. Die Folge-Sturzrate steigt [58], die Lebensqualität ist infolge der Sturzangst verschlechtert [24, 25]. Es kommt zu einem Teufelskreis aus Sturz, Sturzangst, Bewegungsvermeidung, verschlechterter Koordination und Muskelabbau, Immobilität, sozialer Isolation, Depression und erneuten Stürzen. Man unterscheidet intrinsische und extrinsische Risikofaktoren für einen Sturz: Während die extrinsischen Risikofaktoren leicht identifizierbar sind und im Wohnumfeld begründet liegen (Wohnsituation, Stolperfallen, Beleuchtung), sind die intrinsischen Risikofaktoren weniger offensichtlich. Hierzu gehören vorangegangene Sturzereignisse, weibliches Geschlecht, Alter, Erkrankungen (HerzKreislauferkrankungen, arterielle Hypotonie, Diabetes, Depression, Schlaganfall, die Inkontinenz und die Nykturie). Diese Liste an Erkrankungen erscheint deswegen folgerichtig, weil alle zu Störungen der Koordination oder zu Synkopen führen können. Diabetespatienten sind in diesem Sinne wegen der drohenden Hypoglykämie [35], Nykturie- oder OAB-Patienten wegen der gestörten Nachtruhe gefährdet [68, 69, 70]. Auch werden Patienten mit den genannten Erkrankungen häufig mit sturzrisikoerhöhenden Medikamenten behandelt. Hierzu zählen vor allem neuropsychiatrische Präparate wie Antidepressiva, Sedativa oder Anxiolytika und vor allem auch anticholinerge Substanzen. Zu diesen zählen nicht nur manche urologische Präparate zur Therapie einer OAB, sondern auch Substanzen mit anticholinerger Nebenwirkung in völlig anderen Indikationen (Tab. 2): Wie ausgeprägt eine anticholinerge (Neben-)Wirkung sein kann, lässt sich am Beispiel von Tramadol erläutern: Safarinejad setzte Tramadol bei Patienten mit urodynamisch bestätigter OAB ein und konnte eine statistisch signifikante Reduktion der Inkontinenzepisoden in einem Ausmaß messen, wie es bei einem für diese Indikation zugelassenen Anticholinergikum nicht anders gewesen wäre [71]. In der Tat lässt sich mit pharmazeutisch-experimentellen Methoden die anticholinerge Potenz vieler häufig verordneter Pharmaka messen und eine schwache anticholinerge Wirkung bestätigen [78, 79]. So haben z. B. auch Furosemid oder Theophyllin eine schwache anticholinerge Wirkung. Die von Cimetidin und Cortison reicht an die von Atropin heran. Für den älteren, multimorbiden und multimedizierten Patienten bedeutet dies eine anticholinerge Last. Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 17

Tabelle 2. Substanzen mit anticholinerger (Neben-)Wirkung. Stoffgruppe Vertreter Antiemetika Dimenhydrinat, Promethazin, Scopolamin Parkinsonmittel Benzatropin, Biperiden, Metixen Gastrointestinale Sekretionshemmer Butylscopolamin, Pirenzepin Urologische Anticholinergika Darifenacin, Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin, Trospiumchlorid, Solifenacin Bronchodilatatoren Ipatropium, Tiotropium, Aclidiniumbromid Mydriatika Atropin, Scopolamin, Tropicamid Antiarrhythmika Chinidin, Procainamid Antihistaminika Promethazin, Cetirizin H2-Blocker Cimetidin, Ranitidin Antipsychotika Chlorpromazin, Cozapin, Olanzapin Benzodiazepine Diazepam, Tetrazepam Dass sich dieses Phänomen in der Realität nachweisen lässt, bewies die Arbeitsgruppe um Cancelli in Udine. Sie maßen die Kognition mit dem Test Minimental State Examination (MMSE) und konnten eine Korrelation zwischen der Anzahl der eingenommen Substanzen mit anticholinerger Nebenwirkung und dem Ergebnis des MMSE an Gesunden belegen: Wurden keine anticholinergen Substanzen eingenommen, war der ein kognitives Defizit andeutende Punktwert von <23,7 bei nur 7,5% der 750 Befragten nachzuweisen; wurden 1 bzw. 2 bis 3 solcher Substanzen eingenommen, lag der Prozentsatz bei 19% bzw. 25% [18]. 6.2.2 Überwindung der Blut-Hirn-Schranke und zentralnervöse Nebenwirkungen Anticholinergika mit Zulassung für die Überaktive Blase zerfallen in die tertiären Amine Darifenacin, Fesoterodin, Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin und Solifenacin sowie das quartäre Amin Trospiumchlorid. Dieses besitzt aufgrund seiner 4 Liganden am zentralen Stickstoffatom eine Ladung und verhält sich im Gegensatz zu den tertiären Aminen hydrophil. Das Auftreten zentralnervöser Nebenwirkungen ist in erster Linie davon abhängig, ob und in welchem Ausmaß ein Anticholinergikum in der Lage ist, die Blut-Hirn-Schranke (BHS) zu durchdringen. Diese Fähigkeit wird durch Parameter wie Lipophilität, Ladung, Größe und Wechselwirkungen mit P-Glykoprotein bestimmt. Lipophile Wirkstoffe wie die tertiären Amine Oxybutynin, Darifenacin und Solifenacin kön- 18 Andreas Wiedemann

nen die Blut-Hirn-Schranke passieren, während das quarternäre Amin Trospiumchlorid die intakte Blut-Hirn-Schranke nicht permeiert. Experimentelle Untersuchungen mit Liquorpunkti- Fazit onen beim Menschen sowie Tierexperimente [13] zeigen Von allen Anticholinergika ist Trospiumerwartungsgemäß die geringsten ZNS-Konzentrationen chlorid die einzige nicht ZNS-gängige für das hydrophile Trospiumchlorid [13, 76]. Damit liegt Substanz und damit mit der geringsten Gefahr von ZNS-Nebenwirkungen wie z. B. Sturzdas geringste Nebenwirkungspotential für ZNS-Nebenneigung behaftet. wirkungen und damit für Stürze für diese Substanz vor. Trospiumchlorid wird renal eliminiert und muss bei Niereninsuffizienz in der Dosis angepasst werden; der Abbau der tertiären Amine unterliegt dem Zytochromsystem. Diese mischfunktionellen Oxidasen der Leber unterliegen genetischen Variabilitäten, die die Enzymaktivität bei den sogenannten ultraschnellen Metabolisierern oder langsamen Metabolisierern schwanken lassen [65]. Weiterhin lässt sich die Enzymaktivität durch eine Fülle von Medikamenten aus der Begleitmedikation, ja sogar aus der Selbstmedikation mit Johanniskraut oder dem Verzehr von Grapefruitsaft induzieren und hemmen [53]. Interaktionsdatenbanken wie www.drugs.com zeigen z. B. für die kombinierte Einnahme von tertiären Aminen und Ketoconazol, einem CYP-3A4-Inhibitor, dass die area under the curve, d. h. der wirksame Plasmaspiegel, etwa 3-mal so hoch ist wie ohne die gleichzeitige Einnahme von CYP-Inhibitoren. Als Synopsis des Gesagten können die Schlaflaboruntersuchungen von Konstanze Diefenbach gelten: Sie sah Verschlechterungen in der Schlafqualität gemessen im Anteil des Rem-Schlafes nur bei tertiären Aminen und dies nur bei Probanden, die als sogenannte langsame oder intermediäre Metabolisierer höhere Plasmaspiegel aufwiesen [26, 27, 28]. Einen Versuch, die Arzneimittelsicherheit in diesem Punkt zu verbessern, stellen sogenannte PIM-Listen dar. Diese selektieren für ältere Patienten potentiell inadäquate Medikamente und lassen Gesichtspunkte wie den Abbau, die ZNS-Gängigkeit oder pharmakologische Phänomene wie eine Kumulation etc. einfließen. Z. B. werden in der PRISCUS-Liste alle tertiären Amine als risikobehaftet angesehen und Trospiumchlorid als empfehlenswerte Alternative für den über 65-jährigen Patienten klassifiziert [40]. Die Heidelberger FORTA-Liste bewertet die tertiären Amine mit einem ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis für ältere Patienten. Es wird die Empfehlung ausgesprochen, bei der Einnahme von mehr als 3 Medikamenten diese als erste abzusetzen [50, 83]. Bei jeder anticholinergen Therapie empfiehlt sich Fazit die Kontrolle des Restharns. Dies gilt insbesondere für Bei Männern mit Symptomen einer Männer mit Prostatahyperplasie. In dieser Situation ist Überaktiven Blase und einer Blasenauseine Kombinationstherapie aus einem Anticholinergikum lassobstruktion empfiehlt sich eine und einem prostataselektiven Alpha-Blocker sinnvoll Kombinationstherapie aus einem Anticholinergikum und einem prostataselektiven [86]. Wegen des geringsten Nebenwirkungspotentials Alpha-Blocker. hinsichtlich der Blutdruckdysregulation und des als Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 19

Generikum günstigen Preises hat sich Tamsulosin von allen prostataselektiven Alpha-Blockern durchgesetzt. An Reserveverfahren für die therapierefraktäre Überaktive Blase stehen z. B. die Botulinum-Toxin-Injektion in den Detrusor zur Verfügung; diese sehr wirksame Methode ist jedoch invasiv (Narkosezystoskopie erforderlich), nur im Mittel 6 Monate wirksam und mit dem Risiko einer Restharnbildung vergesellschaftet [72]. 6.2.3 Mirabegron in der Therapie von Patienten mit Überaktiver Blase Seit Sommer 2014 steht mit Mirabegron erstmals ein ß3-Adrenorezeptor-Agonist zur Therapie der Überaktiven Blase zur Verfügung. Anders als Anticholinergika (syn. Antimuskarinika) dämpft diese Substanz nicht antagonistisch die über M3-Rezeptoren vermittelte Detrusorkontraktilität, sondern verstärkt die über ß3-Sympathorezeptoren gewährleistete Detrusorrelaxation in der Speicher- oder Ruhephase der Blase. Nach urodynamischen Studien wird dabei die Detrusorkontraktilität nicht beeinflusst, was bei Männern mit Blasenauslassobstruktion die Gefahr einer Restharnbildung minimiert [62]. Auch die typische anticholinerge Nebenwirkung einer Augeninnendruckerhöhung bzw. GlaukomAuslösung kann substanzbedingt nicht auftreten [63]. Die Quote der Patienten mit Mundtrockenheit liegt auf Placebo-Niveau [20, 47, 61]. Attraktiv erscheint besonders das Konzept der dualen Therapie durch eine kombiniert antimuskarinerge/sympathomimetische Therapie [2]. Mirabegron hat sich in randomisierten Phase-III-Studien in der Therapie der Überaktiven Blase Tolterodin gegenüber als überlegen gezeigt [19, 39, 47]; als typische Nebenwirkung eines Sympathomimetikums ist bei etwa 9% der behandelten Patienten mit einer arteriellen Hypertonie zu rechnen [20]. Problematisch ist die VerFazit längerung der QT-Zeit, die in Studien in 0,4% der Fälle Mirabegron eröffnet als ß3-Sympathoauftritt [20], sodass Patienten mit nicht frequenzkontrolmimetikum eine neue Therapieoption für die Überaktive Blase, z. B. auch für eine liertem Vorhofflimmern, tachykarden Herzrhythmusstöantimuskarinerge/sympathomimetische rungen oder weiteren Risikofaktoren für das Auftreten Kombinationstherapie. Im Neben- dieser potenziell gefährlichen Herzrhythmusstörung (Hywirkungsprofil gilt es besonders, die kardio- pokaliämie, Therapie mit Antiarrhythmika wie Amiodavaskulären Nebenwirkungen (Hypertonie, ron, Antihistaminika, Antimuskarinika, ß2-Mimetika, QT-Zeit-Verlängerung) zu beachten. Neuroleptika, bestimmten Antibiotika wie Erythromycin, Gyrasehemmer, TMP-SMZ) zurückhaltend bzw. erst nach kardiologischer Untersuchung mit Mirabegron behandelt werden sollten. Daten zu geriatrischen Patienten liegen nicht vor; eine Subanalyse der vorliegenden Phase-III-Studien im Hinblick auf ältere Patienten zeigt eine vergleichbare Wirksamkeit und Verträglichkeit [82]. Mirabegron wird über das hepatische Zytochromsystem abgebaut, sodass die hierfür typischen Serumspiegelschwankungen durch Substanzen der Co-Medikation, die die Enzymaktivität hemmen oder beschleunigen, wie bei den tertiären Aminen aus der Reihe der Antimuskarinika auf- 20 Andreas Wiedemann

treten können [52]. Besonders im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risikoprofil muss damit der Stellenwert der Substanz für die Geriatrie noch definiert werden. 6.3 Therapie bei Belastungsinkontinenz Prinzipiell sind bei der weiblichen Belastungsinkontinenz konservative Maßnahmen wie Gewichtsreduktion, aktive und passive Beckenbodenpyhsiotherapie und eine Pessarbehandlung (diese ggf. bei Genitalatrophie nach Vorbehandlung mit einer lokalen Östrogenisierung) möglich. Da diese Verfahren bei geriatrischen Patienten schlecht anwendbar sind und operative Methoden wie die Implantation suburethraler Polypropylenbänder im Hinblick auf die Multimorbidität häufig nicht gewünscht werden, kann hier auch eine Versorgung mit aufsaugenden Hilfsmitteln in Erwägung gezogen werden. 6.4 Therapie bei Mischinkontinenz Liegt eine Mischinkontinenz aus Überaktiver Blase und Belastungsinkontinenz vor, sollte zunächst die konservativ besser behandelbare Drangkomponente anticholinerg behandelt werden. Dies hilft häufig schon entscheidend, den Leidensdruck zu senken und Folgeerscheinungen der Überaktiven Blase, z. B. die Sturzgefährdung bei Nykturie, zu vermeiden [8, 9]. 6.5 Therapie bei extraurethraler Inkontinenz bzw. neurogener Inkontinenz Die genannten Inkontinenzformen sind häufig komplex; hier empfiehlt sich bei Therapiewunsch und -fähigkeit die erweiterte Diagnostik vor Beginn einer empirischen Therapie. 7 Blasenentleerungsstörungen 7.1 Akute Harnverhaltung Das Unvermögen, Wasser zu lassen, ist bei der akuten Harnverhaltung gefolgt von einem starken Harndrang und dem Gefühl der unvollständigen Blasenentleerung. Vegetative Begleitsymptome mit Tachykardie, Schweißausbruch und motorischer Unruhe sind häufig und bei Patienten mit kognitiven Veränderungen oftmals die einzigen Zeichen für das Geschehen. Differentialdiagnostisch ist eine Anurie abzugrenzen. Ursächlich für die akute Harnverhaltung sind ErkranGeriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 21

kungen, die zu einem subvesikalen Abflusshindernis führen (Übersicht 4). Übersicht 4. Erkrankungen mit Erhöhung des subvesikalen Widerstandes Prostatahyperplasie, Prostatakarzinom, akute Prostatitis, Harnröhrenstriktur, Blasenstein, Fremdkörper, Phimose, Lichen sclerosus der Glans penis; Meatusstenose/Craurosis vulvae der Frau. 7.2 Chronische Blasenentleerungsstörung Eine chronische Blasenentleerungsstörung ist von steigenden Restharnmengen bei noch erhaltener Spontanmiktion gekennzeichnet. Endstadium ist die Überlaufinkontinenz, bei der passiv in kurzen Abständen kleine Urinmengen überlaufen. Bedingt durch die chronische Distension der Harnblase sind sekundäre Symptome häufig: Sub-Ileuszustände, motorische Unruhe, Bettflucht und eine neu aufgetretene Inkontinenz sind besonders bei kognitiv eingeschränkten Personen schwer zuzuordnen. Im Endstadium einer Überlaufinkontinenz resultiert eine Stauung der oberen Harnwege, die in ein postrenales Nierenversagen münden kann und nur im Initialstadium reversibel ist. Klinisch imponieren dann Symptome des Nierenversagens mit Müdigkeit bis hin zur Somnolenz, Ödeme, Juckreiz und andere Zeichen der terminalen Niereninsuffizienz. Ursächlich wird eine obstruktive (Ursachen wie oben) von einer hypotonen Blasenentleerungsstörung abgegrenzt. Letztere wird durch Erkrankungen hervorgerufen, die zu einer Kompromittierung der Detrusorkontraktilität führen (Übersicht 5), oder ist iatrogen als Folge einer medikamentösen Detrusordämpfung (Übersicht 6) entstanden. Übersicht 5. Erkrankungen mit Kompromittierung der Detrusorkontraktilität (Auswahl) Polyneuropathie, Diabetes mellitus, Cauda-Syndrom, tethered chord, Hirninfarkt. In der Geriatrie sind vor allem bei Männern Mischbilder aus subvesikaler Obstruktion und einer reduzierten Detrusorkontraktilität häufig zu beobachten. Zur Erfassung des Blasenauslasswiderstands stehen (invasive) urodynamische Untersuchungen zur Verfügung. Alternativ lässt sich der Widerstand auch mit der Messung des urethrovesikalen Winkels per rektaler Prostatasonographie zuverlässig vorhersagen. So korreliert ein urethrovesikaler Winkel von mehr als 35 statistisch signifikant mit urodynamischen Parametern wie dem Detrusordruck bei maximalem Harnstrahl [49]. Übersicht 6. Detrusoraktivität-dämpfende Medikamente (Auswahl) Morphine, Neuroleptika, Antidepressiva, Benzodiazepine, Corticoide, (urologische) Anticholinergika. 22 Andreas Wiedemann

Versorgung von Patienten mit Blasenentleerungsstörung Die Primärversorgung von Patienten mit Blasenentleerungsstörung richtet sich nach deren Genese, nach der Einschätzung der Chancen zur Blasenrehabilitation, nach den Patienten- und Angehörigenwünschen sowie dem Allgemeinzustand des Patienten. Sie sollte in einem interdisziplinären Setting besprochen werden. Prinzipiell sind ein Einmalkatheterismus, die Anlage eines transurethralen Dauerkatheters oder das Einbringen eines suprapubischen Fistelkatheters möglich. Die Wahl des Verfahrens richtet sich nach der Einschätzung der Chance auf eine Restitution der Blasenfunktion, nach der potenziellen Ursache und nach praktischen Erwägungen hier insbesondere die Kontraindikationen gegen den suprapubischen Katheter (Übersicht 7). Übersicht 7. Kontraindikationen gegen die Anlage eines suprapubischen Katheters Blutverdünnung, Narben im Unterbauch, extreme Darmüberblähung, extreme Adipositas, Blasenkapazität <300 ml, Blasentumor in der Anamnese. Patienten mit obstruktiver Blasenentleerungsstörung sollten nach einer Harnverhaltung am ehesten einer operativen Therapie zugeführt werden; bei einem akuten Geschehen bedingt durch eine Prostatahyperplasie erhöht die Gabe eines prostataselektiven Alpha-Blockers die Chance auf einen erfolgreichen Katheterauslassversuch [41, 54]. Die Dauerkatheterentfernung nach 48 Stunden ist in rund 60% (versus 35% 30%) der Fälle erfolgreich, wenn simultan ein uroselektiver Alpha-Blocker (z. B. Tamsulosin 0,4 mg 1-mal 1) gegeben wird. Da eine bei der Erstdiagnose festgestellte besonders hohe Restharnmenge auf eine Blasendilatation hinweisen Fazit Bei der Anlage eines Blasendauerkatheters kann und hinsichtlich der Chance auf Wiederherstellung oder eines Blasenfistelkatheters ist es günstig, der Blasenfunktion aussagekräftig ist, sollten die Rest- die Indikation, das Restharnvolumen und harnmenge, die Indikation zur Katheteranlage und die das Datum der Anlage sowie die erfordergründe für die Wahl der Art der Harnblasenentlastung lichen Wechselintervalle zu dokumentieren. dokumentiert werden. Besonders hohe Restharnvolumi- Die genannten Informationen sollten in Arztbriefen oder Pflegeüberleitungen etc. na >1000 ml sprechen für eine chronische BlasendistenErwähnung finden. sion und gegen eine einfache, schnelle Restitution der Blasenentleerung. Wird eine Blasenentleerungsstörung durch eine Fazit (medikamentöse) Detrusordämpfung hervorgerufen, kann Ist eine chronische Harnverhaltung durch unter einer cholinergen Therapie versucht werden, eine eine medikamentöse Detrusordämpfung, Detrusorstimulation zu erreichen. Dies ist dann erfolgver- etwa durch Morphine, mitbedingt und diese sprechend, wenn die detrusordämpfende Medikation ab- nicht absetzbar, kann dies durch eine gesetzt oder reduziert werden kann. Zuvor sollte aber die cholinerge Therapie antagonisiert werden (z. B. mit Distigminbromid). distendierte Blase zuverlässig entleert werden. Geriatrische Urologie am Beispiel der Blasenfunktionsstörung 23

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