Medikamentenmissbrauch. Vortrag im Sozialverband VdK München Dr. Christoph Schwejda



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Transkript:

Medikamentenmissbrauch Vortrag im Sozialverband VdK München Dr. Christoph Schwejda

Medikamentenmissbrauch Themen: 1.Phänomen: Missbrauch 2.Medikamente, Missbrauch in Zahlen 3.Die wichtigsten Gruppen: Schlaf- und Schmerzmittel 4.Abhängigkeit 5.Diskussion kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 2

Von der Einnahme zum Missbrauch nach ICD 10: Die Einnahme von Substanzen, die zu einer Gesundheitsschädigung führt, ist als Missbrauch definiert: kann körperliche Folgen haben: z.b. Nierenschädigung durch ein Schmerzmittel kann psychische Folgen haben z.b. Entstehung einer Depression nach Alkohol Gebrauch kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 3

Gebrauch und Missbrauch von Medikamenten SUCHT 2008 (54 Sonderheft) 12-Monatsprävalenz der Einnahme Schmerzmittel 62,1 % Schlafmittel 5,3 % Beruhigungsmittel 5,1 % Antidepressiva 3,7 % Neuroleptika 1,1 % Appetitzügler 0,9 % Anregungsmittel 0,7 % weitere: Laxantien, Schilddrüsenhormone, Diuretika kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 4

Gebrauch und Missbrauch von Medikamenten, Epidemiologischer Suchtsurvey 2003 (8061 Erwachsene) Einnahme eines psychoaktiven Medikamentes jeder 8. Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren einmalig jeder 2. Erwachsene bis 59 Jahre einmal pro Jahr 5% der 46-79-jährigen Frauen und 2 % der Männer dieser Altersgruppe täglich (Psychopharmaka bzw. Beruhigungsmittel) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 5

Medikamentenabhängigkeit - Epidemiologie 5-6% der Medikamente besitzen ein eigenes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial 1,4 Millionen der 18-59-jährigen Bevölkerung sind abhängig von Medikamenten (nach DHS, 2005) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 6

Medikamentenabhängigkeit - Epidemiologie Schätzung: Circa jede 3. Verordnung von Medikamenten mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial erfolgt nicht wegen akuter medizinischer Probleme, sondern langfristig 4 zur Suchterhaltung, oder 4 zur Vermeidung von Entzugserscheinungen (nach DHS, 2005) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 7

Medikamentenabhängigkeit - Epidemiologie Industrieumsatz für Arzneimittel in 2003 in Deutschland 19,9 Milliarden Euro (davon 16,2 Milliarden für rezeptpflichtige Arzneimittel) davon: für: - 527 Mio. Schmerzmittel - 146 Mio. Schlaf- u. Beruhigungsmittel - 29 Mio. Anregungsmittel - 4 Mio. Benzodiazepine (nach DHS, 2005) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 8

Medikamentenabhängigkeit - Versuch einer Patiententypologie Durchschnittsalter: über 50 Jahre Frauen deutlich überrepräsentiert In der Regel sozial integriert Hauptsächlich bei: Schmerzzuständen, Depressionen, Schlafstörungen, Angstzuständen Am häufigsten: Benzodiazepine und Opioide kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 9

Ursachen für den hohen Frauenanteil bei den Medikamentenabhängigen Medikamentenkonsum ist relativ unauffällig Psychosomatische Beschwerden häufiger Doppelbelastung durch Beruf und Familie Schönheitsideal Leistungsansprüche (Stimulanziengebrauch) Bereits vorliegender Missbrauch von Koffein und Nikotin Verlangen nach Hypnotika und Sedativa wegen Ängsten bei sozialer Abhängigkeit kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 10

Symptome des Benzodiazepin-Langzeitkonsums Gefühlserleben abgeschwächt gereizte Verstimmungszustände Fähigkeit zur Selbstkritik abgeschwächt Vergesslichkeit und geistige Leistungsminderung Konfliktvermeidung Überforderung in bzw. Vermeidung von neuen oder belastenden Situationen gestörtes Körpergefühl / verminderte körperliche Energie muskuläre Schwäche, ggf. mit Reflexverlust Appetitlosigkeit Vermeidung des Themas Tabletten / heimliche Einnahme kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 11

Benzodiazepine: Verordnung 2003 Meist verkaufte Benzodiazepin enthaltende Schlaf- und Beruhigungsmittel: u.a. Noctamid,Lendormin,Flunitrazepamratiopharm, Remestan, Planum, Rohypnol, Dalmadorm Die zehn meistverkauften Benzodiazepine: Diazepam-ratiopharm, Adumbran,Tavor,Oxazepam-ratiopharm, Bromazanil Hexal, Normoc, Lexotanil, Faustan, Lorazepam neuraxpharm und Tranxilium Vgl. DHS kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 12

Medikamentenabhängigkeit - Benzodiazepine Low-dose-Abhängigkeit: iatrogene Benzodiazepin-Abhängigkeit i.e.s., im allgemeinen über Rezept, oft über Jahre, selten Dosissteigerungen, aber deutliche Entzugssymptome (Schlafstörungen!) bei Absetzversuchen High-dose-Abhängigkeit: exzessiver Konsum, vor allem als Beikonsum bei polytoxikomanen Personen (oft über den Schwarzmarkt) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 13

Medikamente mit Suchtpotential bei Schlafstörungen - Besondere Probleme wegen der langen Halbwertszeit unter Umständen: 4 Kombination mit aufputschenden Substanzen bei Kombination mit Alkohol zur Wirkungsverstärkung: 4 erhöhte Intoxikationsgefahr kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 14

Behandlung mit Analgetika - Risiken 1. Peripher wirksame Analgetika: Vertreter: Paracetamol (Markenname z.b. Benuron ) Metamizol (Markenname z.b. Novalgin ) Ibuprofen (Markenname z.b. Nurofen ) Diclofenac (Markenname z.b. Voltaren ) bei Missbrauch dumpf-drückender Dauerkopfschmerz Teufelskreis führt zu weiterem Konsum bei langjährigem Missbrauch Gefahr der Analgetika- Nephropathie (Nierenschädigung) kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 15

Behandlung mit Analgetika - Risiken 2. Zentral wirksame Analgetika: Vertreter: Codein (Markenname z.b. Gelonida ) Tramadol (Markenname z.b. Tramal ) Tilidin (Markenname z.b. Valoron N ) Morphin (Markenname z.b. MST ) Oxycodon (Markenname z.b. Oxygesic ) Fentanyl (Markenname z.b. Durogesic ) bei nicht-sachgemäßer Anwendung hohes Suchtpotential Handel auf dem illegalen Markt kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 16

Behandlung mit Analgetika - Angst vor Suchtentwicklung WHO-Stufenschema Stufe Medikamente Stufe 1 Nicht-Opioidanalgetika Stufe 2 Niederpotente Opioidanalgetika + Nicht-Opioidanalgetika Stufe 3 Hochpotente Opioidanalgetika + Nicht-Opioidanalgetika In jeder Stufe sollen bedarfsadaptiert unterstützende Maßnahmen wie Physiotherapie, Balneotherapie etc. und eine so genannte Co-medikation eingesetzt werden. Möglichst Verwendung von Monopräparaten! kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 17

Formen ärztlichen Fehlverhaltens mit der Folge iatrogener Abhängigkeit Vorsätzliches Rezeptieren von Substanzen mit Abhängigkeitspotential aus gewinnsüchtigen Motiven Unsachgemäße Verordnung auf Wunsch des Patienten (evtl. auch zur Weitergabe an andere) Zu große Mengen, zu lange Zeiträume, keine Indikation Selbstverordnung und Einnahme durch suchtmittelabhängige Ärzte kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 18

Charakteristika der süchtigen Einnahme (von Medikamenten) 1.Patient ist nicht in der Lage, auf Anraten des Arztes die Einnahme des Mittels zu beenden oder zumindest die Dosis zu reduzieren 2. Starke Einengung der Patienten auf die Beschaffung (=Verordnung) des betreffenden Arzneimittels und zwanghafter Gebrauch, auch bei unerwünschten Nebenwirkungen 3. Rückfallverhalten kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 19

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit "Also gut, kommen Sie herein, ich verschreibe Ihnen Tabletten!" Medical Tribune, 2004 kbo-isar-amper-klinikum Medikamentenmissbrauch September 2011 20