Schutzziele bei gravitativen Naturgefahren



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Transkript:

Kanton Bern Arbeitsgruppe Naturgefahren Schutzziele bei gravitativen Naturgefahren 8. September 2010 1. Idee und Adressaten 1.1. Erläuterung der Risikostrategie des Kantons Bern vom 2005 In der Risikostrategie des Kantons Bern hat der Regierungsrat am 24. August 2005 Folgendes verabschiedet: - Das individuelle Todesfallrisiko durch gravitative Naturgefahrenprozesse darf nicht grösser als 10-5 bis 10-6 pro Jahr sein. - Wenn die Verhinderung eines Todesfalls durch Schutzmassnahmen weniger als 5 Mio. Fr. kostet, so sollte die Massnahme umgesetzt werden. - Im Anhang zur Risikostrategie sind verschiedene Schutzziel-Matrizen enthalten, welche für unterschiedliche Objektkategorien einen möglichen Handlungsbedarf für Schutzmassnahmen je nach Auftretenswahrscheinlichkeit und Intensität oder Auswirkung eines Prozesses darlegen. Seit 2005 sind die Definition und die Verwendung von Schutzzielen in der schweizerischen und der kantonalen Praxis konkretisiert worden. Mit diesem Papier wird die Risikostrategie bezüglich Schutzzielen und deren seither erfolgte Konkretisierung erläutert. 1.2. Adressaten Das Papier richtet sich an die kantonalen Fachstellen und die im Kanton Bern tätigen Fachbüros im Bereich Schutz vor gravitativen Naturgefahren. 2. Schutzziele 2.1. Definition Schutzziele grenzen akzeptable von nicht akzeptablen Risiken ab. Ein Risiko ist das Produkt aus Eintretenswahrscheinlichkeit und Schadenausmass eines Ereignisses. Als Schaden wird die Tötung oder Verletzung von mindestens einer Person oder die durch ein Ereignis verursachte Vermögensverminderung verstanden. Das Ausmass wird häufig in der Einheit Todeswahrscheinlichkeit pro Jahr oder Fr./Jahr ausgedrückt. Schutzziele gelten für verschiedene Schutzgüter (z.b. Menschen, Tiere, Gebäude, Infrastrukturanlagen) und sind für alle Naturgefahrenprozesse gleich. 2.2. Wo gelten Schutzziele? Im Naturgefahrenmanagement werden drei Bereiche unterschieden: Bereich Umschreibung Beispiele Institutioneller Bereich In öffentlichen Bereichen können die vom Risiko Betroffenen davon ausgehen, dass eine Institution das Risiko für sie begrenzt. Bauzone, Kantonsstrasse, Eisenbahnlinie, Bergbahn, Skipiste. Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 1 von 7

Professioneller Bereich Individueller Bereich Hier übernehmen die vom Risiko Betroffenen bewusst ein hohes Mass an Eigenverantwortung, indem sie einen Beruf ausüben, der mit erhöhten Naturrisiken verbunden ist. In Bereichen ausserhalb des Siedlungsgebietes bzw. abseits von überwachten Verkehrswegen können die vom Risiko Betroffenen nicht davon ausgehen, dass eine Institution das Risiko für sie begrenzt. Sie sind daher für ihren Schutz selbst verantwortlich. Rettungsdienst, Strassenunterhalt, Forstdienst, Pistendienst Tourenskirouten, Kanugewässer, Touren im Hochgebirge, Kletterrouten Die Schutzziele gelten nur für den institutionellen Bereich. 2.3. Welche Schutzziele gibt es? Im Schutzziel-Modell der PLANAT werden drei verschiedene Schutzziele beschrieben: Gültigkeit Menschen Sachwerte Gebäude Schutzziel max. toleriertes individuelles Todesfallrisiko 10-5 pro Jahr max. toleriertes Sachrisiko in Fr./Jahr, kein konkreter Grenzwert und somit kein allgemein gültiges Schutzziel bestimmt, Verpflichtung zu ökonomischer Optimierung Häufigkeit eines schweren Schadens am Gebäude kleiner als 5 10-3 pro Jahr Der Schutz von Menschen hat klar erste Priorität vor den beiden anderen Schutzzielen. Es sind auch weitere Schutzziele denkbar wie z.b. die Verfügbarkeiten von Verkehrswegen oder Infrastrukturanlagen. Dazu liegen jedoch keine allgemein anerkannten Werte vor. Die oben aufgeführten Schutzziele stammen aus einem Berichtsentwurf der PLANAT von Ende 2009 und sind bis anhin noch nicht konsolidiert. Einzig beim max. individuellen Todesfallrisiko dürfen sich keine Änderungen mehr ergeben, da dieser Wert bereits weit verbreitet ist und seit längerem angewendet wird (BUWAL Risikoanalyse 1999, Risikostrategie Kanton Bern 2005, PLANAT RIKO 2009, BAFU EconoMe). Der Wert von 10-5 pro Jahr lässt sich so erklären: Ausgegangen wird vom normalen Sterberisiko. Laut Bundesstatistik sterben von 100'000 fünfzehnjährigen Schweizerinnen und Schweizern in einem Jahr ca. zehn bis zwanzig. Das totale und durchschnittliche Sterberisiko (alle Todesursachen berücksichtigt) liegt also ca. bei einem Zehntausendstel oder 0.0001 pro Jahr (10-4 / Jahr). Der bezüglich Naturgefahren festgelegte Standard, das Schutzziel individuelle Todesfallwahrscheinlichkeit kleiner 10-5 pro Jahr sagt nun, dass durch eine Naturgefahr dieses Ausgangsrisiko um nicht mehr als 10% erhöht werden darf. 3. Schutzziele im Kanton Bern 3.1. Übergeordnetes Schutzziel Mensch Das Schutzziel des max. tolerierten individuellen Todesfallrisikos von 10-5 pro Jahr wird als übergeordnetes Schutzziel Mensch festgelegt. Dieses ist allgemein verbindlich und nicht verhandelbar. Wenn der Grenzwert von 10-5 pro Jahr überschritten wird, besteht ein Schutzdefizit und somit ein Handlungsbedarf für die verantwortliche Stelle (vgl. Kap. 5). Ein übergeordnetes Schutzziel bezüglich kollektiven Todesfallrisikos besteht nicht. Hingegen hat sich folgende Regel als adäquat gezeigt: Wenn eine Massnahme zur Vermeidung eines Todesfalls weniger kostet als fünf Mio. Fr., wird sie als sehr wirksam bezeichnet und sollte ausgeführt werden. Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 2 von 7

3.2. Schutzziel-Matrizen Im Unterschied zum Grenzwert des individuellen Todesfallrisikos, beziehen sich die Schutzziel-Matrizen auch auf Sachwerte und nicht nur auf Personen. Es dürfte kaum je möglich sein, einen akzeptablen Grenzwert für ein Sachrisiko zu definieren, da anders als beim Personenrisiko insbesondere die Bezugsgrösse (Gebäude, Quartier, Dorf, Region, Kanton) nicht allgemeingültig festgelegt werden kann. Daher kann aus den Schutzziel-Matrizen nicht ein unmittelbarer Handlungsbedarf abgeleitet werden, sofern nicht gleichzeitig ein Schutzdefizit bezüglich des individuellen Todesfallrisikos vorliegt. Die Matrizen dienen v.a. dazu, die Fälle abzugrenzen, wo kein Anspruch auf Schutzmassnahmen bzw. kein Anspruch auf Subventionen besteht (z.b. HQ 100 bei Landwirtschaftsland). Die in den Matrizen enthaltenen Werte können und dürfen somit projektspezifisch verändert werden, solange kein übergeordnetes Schutzdefizit bezüglich des individuellen Todesfallrisikos bestehen bleibt (vgl. Kap. 4.1). 3.3. Risikokultur Allgemein ist auch im Umgang mit Schutzzielen die Risikokultur zu leben. Das heisst, dass die erkannten Risiken kommuniziert werden und dass akzeptiert wird, dass ein Nullrisiko meist nicht möglich und vor allem ökonomisch nicht verhältnismässig wäre ( Welche Sicherheit ist für welchen Preis zu haben und welche Restrisiken werden in Kauf genommen? ). Beispielsweise besteht selbst für Siedlungen kein Anspruch auf vollständigen Schutz vor sehr seltenen Ereignissen oder sogar Extremereignissen. 3.4. Zielebenen Abbildung 1 Übersicht über die verschiedenen Zielebenen bei Naturgefahrenprojekten 4. Projektspezifische Ziele 4.1. Projekt- und Massnahmenziele Massnahmenziele beziehen sich auf die Dimensionierung von Schutzmassnahmen. Sie zeigen, welchen Schutz durch eine Massnahme erreicht werden soll. Häufig sind die Grössen gleich wie bei den Schutzzielen (max. zulässige Risiken), im Gegensatz zu den Schutzzielen sind die Massnahmenziele jedoch verhandelbar. Besteht ein Projekt aus verschiedenen Massnahmen, ist es möglich, Projekt- und Massnahmenziele zu unterscheiden. Projekt- und Massnahmenziele sind den Schutzzielen untergeordnet. Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 3 von 7

Beispiel: Der Hochwasserschutz beim Dorfbach soll im Siedlungsgebiet dazu führen, dass ein HQ 100 im Gerinne abläuft und bei HQ 300 keine starken Intensitäten bei Gebäuden auftreten. Dies stellt ein Projektziel dar. Der Ausbau der Strassenbrücke auf Energielinie HQ 300 ist ein Massnahmenziel für die Massnahme "Vergrösserung Kapazität Strassenbrücke". Die Dimensionierung des Gerinnes auf Energielinie HQ 100 ist ein Massnahmenziel für die Erhöhung der Ufermauern und die Dimensionierung der Sekundärmauern auf HQ 300 Wasserspiegel ist ein Massnahmenziel für den Abflusskorridor. Mit der Umsetzung aller Massnahmen werden das Projektziel und damit die übergeordneten Schutzziele erfüllt. 4.2. Nutzen-Kosten-Faktoren Nutzen-Kosten-Faktoren sind keine Schutzziele. Es sind ökonomische Kennwerte und häufig Subventionskriterien von Bund und Kanton oder können Bestandteil von Projekt- oder Massnahmenzielen sein. 5. Umsetzung von Schutzzielen 5.1. Wann ist die Institution zuständig, wann Individuum / Bürger / Nutzer / Eigentümer? Es ist unbestritten, dass die Institution / das Gemeinwesen nicht die Verantwortung für sämtliche Personenrisiken bezüglich gravitativen Naturgefahren übernehmen kann und muss. Selbstverständlich trägt beispielsweise der Eigernordwand-Besteiger das dortige Steinschlagrisiko in Eigenverantwortung; er geht dieses Risiko freiwillig ein. Ebenso selbstverständlich ist aber, dass sich der Benutzer einer Bahnstrecke bezüglich der (ihm wahrscheinlich gar nicht bekannten) Naturgefahren-Risiken auf die Gewährleistung der Sicherheit durch die Bahnbetreiberin verlässt; der Bahnbenützer geht das Risiko unfreiwillig ein. Im Siedlungsbereich hat das Gemeinwesen eine grosse Verantwortung für die Sicherheit der sich dort aufhaltenden Personen (vgl. Art. 30 KWaG). Die Schutzziele gelten nur für den institutionellen Bereich (vgl. Kap. 2.2). 5.2. Was heisst Handlungsbedarf für Verantwortliche? Wenn das übergeordnete Schutzziel Mensch nicht erfüllt ist, muss sich die verantwortliche Institution (häufig die Gemeinde oder der Verkehrswegbetreiber) dem erkannten Problem annehmen und sich um eine Lösung kümmern. Dies heisst aber nicht automatisch, dass das Risiko umgehend durch aufwendige technische Schutzmassnahme durch die Institution reduziert / eliminiert werden muss und dass deren Finanzierung durch sie selbst bzw. durch Gemeinde / Kanton / Bund zu erfolgen hat. Die verantwortliche Institution muss ihre Sorgfaltspflicht erfüllen. Beim Auftreten / Erkennen eines Risikos sollte sie im Regelfall eine vertiefte Analyse vornehmen (lassen) und zusammen mit den Betroffenen die Lösungen diskutieren bzw. zu suchen. Falls sie überzeugt ist, dass in einer bestimmten Situation ein direkt Betroffener (z.b. Hauseigentümer) in eigener Verantwortung zu handeln hat, muss sie allermindestens den Betroffenen informieren und wenn sie das Problem nicht selbst lösen muss / will / kann - die Problemlösung klar delegieren (z.b. an den Hauseigentümer oder den Verkehrswegbenutzer). Die Abgrenzung der Verantwortungslage ist bei den Fuss- und Wanderwegen besonders schwierig. Die AG Nagef hat deshalb 2002 die Broschüre Naturgefahren bei Fuss- und Wanderwegen herausgegeben. Hier werden - abgestuft nach Wegkategorien - Standards vorgeschlagen, die aufzeigen Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 4 von 7

- welche Risiken der Wegbenutzer bzw. die Wegbenutzerin zu erwarten und in Eigenverantwortung zu bewältigen hat sowie - welche Sicherungs- und Signalisationspflichten der Wegbetreiber oder die Wegbetreiberin erfüllen muss. In vielen, aber nicht allen Fällen muss die verantwortliche Institution selbst weitergehende Massnahmen ergreifen und auch (mindestens teilweise) finanzieren, dies unter Berücksichtigung der zu erreichenden Schutzziele, aber auch im Rahmen der Zumutbarkeit und nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit. Als Massnahmen zur Reduktion des Risikos kommen dabei in Frage: - Raumplanung: angepasste Landnutzung (= prophylaktisch), Objektschutzauflagen, im Extremfall freiwillige oder baupolizeiliche Umsiedlung - Organisatorische Massnahmen: Interventions-Massnahmen unmittelbar vor, während und nach Ereignis (Sperrung, Evakuation usw., evtl. mit technischen Warnanlagen), Information, Signalisation - Operationelle Massnahmen (z.b. Sicherheitssprengung) - Bautechnische Massnahmen (im Entstehungs-, Transit- oder Auslaufbereich, Objektschutz) - waldbauliche Massnahmen (Schutzwaldpflege) Im Rahmen einer integralen Massnahmenplanung müssen die für den Einzelfall (auch ökonomisch) optimalen Massnahmen, bzw. Massnahmenkombinationen evaluiert und realisiert werden. Weiterführende Informationen zur Zuständigkeit oder zum Handlungsbedarf finden sich in der für Gemeinden und weitere interessierte Dritte verfassten Neuauflage der Broschüre Achtung Naturgefahr der AG Nagef (erscheint Ende 2010). 5.3. Schutzziele bei der Umsetzung von Schutzmassnahmen Bei erkanntem Schutzdefizit sind in erster Priorität die individuellen Todesfallrisiken auf ein zulässiges Mass zu reduzieren. Die Reduktion kann mit der gesamten Palette der oben aufgeführten Massnahmen erfolgen. Die Wirkung von einzelnen Massnahmen darf kumuliert werden. Die Zuverlässigkeit einer Massnahme ist in die Risikoberechnung jedoch zu integrieren. Beispiel: Mit dem Bau eines Geschiebesammlers reduziert sich das individuelle Todesfallrisiko durch Murgang auf einem Kantonsstrassenabschnitt von heute 10-2 auf 10-4 pro Jahr. Damit ist das übergeordnete Schutzziel noch nicht erreicht. Das Massnahmenziel für den Geschiebesammler lautet, dass die Strasse bis HQ 100 nicht mehr verschüttet werden soll. Trotzdem wird der zulässige Grenzwert des Todesfallrisikos immer noch überschritten. Als weitere Massnahmen wird eine Frühwarnanlage mittels Reissdraht und Ampel aufgebaut, welche die Strasse sperrt, wenn ein Murgang im Gerinne losgeht. Das Massnahmenziel der Frühwarnanlage besteht darin, Personen vom gefährdeten Gebiet bei grossen Murgängen fernzuhalten. Da die Anlage nicht 100% zuverlässig funktioniert, wird das Todesfallrisiko damit nicht auf Null, sondern auf 10-7 pro Jahr gesetzt. Somit kann mit beiden Massnahmen, welche unterschiedliche Massnahmenziele haben, letztendlich das übergeordnete Schutzziel für das Todesfallrisiko des Menschen eingehalten werden. Die Schutzziel-Matrizen müssen nicht 1:1 in den Projekten umgesetzt werden. Ohne wichtige Gründe sollten jedoch die Schutzvorgaben der Schutzziel-Matrizen in etwa übernommen werden. Sie können projektspezifisch angepasst werden, wenn z.b. der Überlastfall auf eine Gerinneseite dazu führt, dass nicht ein einheitliches Schutzziel vorliegt (wobei das übergeordnete Schutzziel Mensch für alle gleichermassen erfüllt sein muss). Ein anderer Grund kann sein, dass aus Nutzen-Kosten-Überlegungen oder aus den negativen Auswirkungen einer Massnahme (z.b. Landschaftsbild, Erschliessung) das Schutzniveau reduziert wird (aber auch hier unter der Berücksichtigung des übergeordneten Schutzzieles Mensch). Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 5 von 7

5.4. Schutzzielumsetzung beim Vorliegen neuer Gefahrenkarten resp. Gefahrenabklärungen Sobald eine neue Gefahrenkarte oder Gefahrenabklärung vorliegt, sollte die Gemeinde mit der zuständigen kantonalen Fachstelle (Wasserbau OIK oder Abt. Naturgefahren) und allenfalls mit denjenigen, die die Gefahrenkarte erstellt oder die Abklärung vorgenommen haben, beurteilen, ob Schutzdefizite bezüglich individuellem Todesfallrisiko vorhanden sind, wo diese liegen und welches Ausmass sie haben. Kritische Bereiche sind: - Murgangprozesse im Siedlungsgebiet (egal welche Intensität und Wiederkehrperiode) - dynamische Überschwemmung mit starker Intensität und beliebiger Wiederkehrperiode - statische Überschwemmung mit starker Intensität und Wiederkehrperiode von 30 Jahren - Lawinen- und Massenbewegungsprozesse insbesondere in roten, teilweise in blauen Gefahrengebieten Besondere Objekte wie z.b. Campingplätze, Leichtkonstruktionen (Baracken, Fahrnisbauten etc.) und sensible Objekte sind im Detail gesondert zu betrachten. 5.5. Schutzzielumsetzung bei Zonenplanänderungen und Ortsplanungsrevisionen Für die Beurteilung von Zonenänderungen im Zusammenhang mit Naturgefahren dient die AHOP Richtlinie Berücksichtigung von Naturgefahren in der Ortsplanung. In der Publikation Raumplanung und Naturgefahren 2005 (ARE, BWG, BUWAL) ist klar festgehalten, dass Schutzziele Rahmenbedingungen darstellen, welche bei der Nutzungsplanung zu beachten sind. Dies bedeutet, dass neben den Kriterien in der AHOP auch geschaut werden muss, ob eine Zonenänderung zu einer Schutzzielverletzung führt oder nicht. Als Schutzziel-Verletzung wird hier lediglich das übergeordnete Schutzziel eines Todesfallrisikos kleiner als 10-5 pro Jahr betrachtet. Ist dies der Fall, so darf die Zonenänderung aus Sicht Naturgefahren nicht bewilligt werden. Kritische Neueinzonungen bezüglich Naturgefahren sind insbesondere: - Campingplätze auch im gelben (nicht nur im blauen und roten) Gefahrengebiet - Alle Zonenänderungen, welche einen Aufenthalt von Personen im blauen und roten Gefahrengebiet Murgang, dynamische Überschwemmung, Lawine, Sturz oder Hangmure / spontane Rutschung zur Folge hätten. 5.6. Schutzzielumsetzung bei der Beurteilung von Baugesuchen Bei Neu-, An- und Umbauten sowie Umnutzungen sind Objektschutzmassnahmen auf die Intensitäten eines 300-jährlichen Ereignisses zu dimensionieren. Sofern es sich nicht um Bagetellvorhaben handelt, sind keine Ausnahmen zulässig (vgl. Arbeitshilfe zu Art. 6 BauG, Bauen im Gefahrengebiet). 5.7. Finanzierung der Massnahmen Es ist nicht von vorneherein klar, dass die Institution (also z.b. die Gemeinde) die Massnahme überhaupt oder voll finanzieren muss. Es sind je nach Situation alle Möglichkeiten denkbar: Brutto-Finanzierung durch Gemeinde, Gemeinwesen (z.b. Schwellengemeinde) oder Verkehrsträger; Subventionierung durch Kanton und Bund; gegebenenfalls finanzielle Beteiligung der Hauseigentümer oder der direkten Nutzniesser. Brutto-Finanzierung durch Hauseigentümer oder direkte Nutzniesser; Subventionierung durch Kanton sowie Bund; Übernahme der Restkosten durch Hauseigentümer oder direkte Nutzniesser; gegebenenfalls finanzielle Beteiligung der Gemeinde. Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 6 von 7

Falls Subventionsbedingungen nicht erfüllt sind: Finanzierung durch Gemeinwesen, Hauseigentümer oder direkte Nutzniesser; gegebenenfalls finanzielle Beteiligung der Gemeinde Die Massnahmen müssen nicht in jedem Fall umgehend ausgeführt werden. Falls nicht eine zeitliche Dringlichkeit besteht (unmittelbare Gefahr), kann je nach ökonomischen Randbedingungen, bzw. der wirtschaftlichen Tragbarkeit / Zumutbarkeit der unmittelbaren Ausführung auch ein späterer Zeitpunkt für die Realisation der Schutzmassnahme gewählt werden. Schutzziele_Erläuterungen_2010 Seite 7 von 7