Entwicklung, führende Institutionen und Charakteristika der Europa-Studien in China Von Prof.Dr. Quancheng Song The Institute for European Studies of Shandong University I. Die Entwicklung der Europa-Studien in China 1840 wurde das bis dahin verschlossene Tor nach China durch die Vormacht Westeuropas, Großbritannien, aufgestoßen. In der Folge wurde eine Reihe von Verträgen zwischen den westeuropäischen Staaten und der Regierung der Qing-Dynastie unterzeichnet, die zu einer politischen, ökonomischen und sozialen Invasion Chinas führten. Weitsichtige Chinesen, darunter viele Politiker und Gelehrte, erkannten, dass China im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern in allen Bereichen der Politik, Wirtschaft, des Militärischen, der Kultur, Naturwissenschaft und Technologie ins Hintertreffen geraten war. Von Westeuropa zu lernen war das Gebot der Stunde. Abgesehen von den Studenten, die von der Regierung der Qing-Dynastie nach Westeuropa geschickt wurden, und den Politikern begann eine große Anzahl chinesischer Gelehrter ihre Aufmerksamkeit auf das Studium des politischen und wirtschaftlichen Systems, der Wissenschaften, Technologien und Kultur der westeuropäischen Großmächte zu richten. Das politische System der westeuropäischen Staaten und die europäische Kultur wurden in jener Zeit zum Hauptarbeitsgebiet der chinesischen Europa-Studien. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1930er Jahren, wurde das Studium der europäischen Politik, Wirtschaft und Kultur den Erfordernissen des Widerstands gegen die japanische Invasion zeitweise untergeordnet. Auch zwischen 1949 und 1960 setzten die chinesischen Forschungseinrichtungen und Akademien, ungeachtet der prosowjetischen Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik und der Mentalität des Kalten Krieges, ihr Studium der Politik, Wirtschaft, Naturwissenschaften, Technologien und Kultur der westeuropäischen Länder fort. Doch noch weit stärker fesselte seit den 1960er Jahren die Entwicklung der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Europäischen Gemeinschaften die Aufmerksamkeit der chinesischen Institutionen. 1981 wurde das European Studies Institute (früher Institute of Western European Studies) an der China Academy of Social Science eingerichtet, das sich auf das Studium der europäischen Länder, insbesondere der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, internationalen Beziehungen, Technologie und
2 Jahrbuch für Europäische Geschichte 6 (2005) Kultur der Mitglieder der Europäischen Union, spezialisierte. 1983 wurde das European Literature Center an der Universität Sichuan ins Leben gerufen. 1985 folgte an der Universität Nankai das European Information Center. Seit 1992 hat die Begründung und Entwicklung der EU in besonderer Weise das Interesse der Forschungsinstitute an Chinas höheren Bildungsanstalten auf sich gezogen. 1993 wurde das European Issues Study Center an der Universität Fudan gegründet. 1994 folgten das European Studies Institute der Universität Shandong und das EC Information and Study Center der Chinesischen Volksuniversität. 1996 wurden das European Issues Study Center der Universität Wuhan und das European Study Center der Universität Beijing eingerichtet. 1997 kam es dann zur Gründung der European Study Centers an den Universitäten Nankai und Sichuan. Im Mai 1996 wurde das Sino-European Higher Education Collaboration Project zwischen der EU und der chinesischen Regierung unterzeichnet, das 1997 in Kraft trat. In Übereinstimmung mit dem im Projektrahmen aufgestellten Plan wird das Projekt vierzehn Einrichtungen für Europa-Studien in China zugute kommen. Es ist zu erwarten, dass die Umsetzung des Projekts sich positiv auf die Zusammenarbeit europäischer und chinesischer Institutionen für Europa-Studien auswirken und diese vertiefen wird. II. Führende Institutionen für Europa-Studien in China und ihre Charakteristika 1. Das European Studies Institute der China Academy of Social Science Es verfügt über Abteilungen für Wirtschaftsforschung, für Rechts- und Verfassungsstudien, für Forschungen zu Politik und internationalen Beziehungen, Gesellschaft und Kultur sowie für Studien zur Osterweiterung der Europäischen Union, dazu die Redaktionsabteilung für die European Studies sowie ein Bibliotheks- und Informationszentrum. Um die Forschungen zu den größeren europäischen Ländern und Regionen sowie einigen Spezialthemen zu intensivieren, wurden 2001 sieben Forschungszentren für einzelne Staaten bzw. Regionen (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, EU, östliches Mitteleuropa) und zwei thematische Forschungszentren (asiatisch-europäische Zusammenarbeit, EU) eingerichtet. Das European Studies Institute der China Academy of Social Sciences ist eine maßgebliche Autorität in Sachen Europa-Studien. Es bringt umfassende Studien über europäische Staaten hervor, insbesondere in den Feldern Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der EU und ihrer Mitgliedsländer, und ist zu einer wichtigen nationalen Beratungseinrichtung für policy making geworden. Von besonderer Bedeutung sind die Forschungen Zhou Hongs über die Politik der europäischen Wohlfahrtsstaaten sowie die europäische Zivili-
Song, Europa-Studien in China 3 sation und die Arbeiten Luo Hongbos über europäische Unternehmen sowie die italienische Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Das European Study Center der Chinesischen Volksuniversität Im Jahr 2000 ernannte das Erziehungsministerium das European Study Center der Chinesischen Volksuniversität zur zentralen Forschungseinrichtung für Human- und Sozialwissenschaften und damit zur ersten zentralen Forschungseinrichtung für Europa-Studien überhaupt. Zu seinen Forschungsgebieten gehören: 1. Europäische Politik und Außenpolitik: a. Gemeinsame europäische Außenpolitik und Sicherheitsmechanismen; b. Multilaterale und bilaterale Beziehungen zwischen der EU und den wichtigsten Drittländern; c. Das politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Verhältnis zwischen der EU und China; d. Die Rolle und der Stellenwert der EU im Vergleich mit den wichtigsten internationalen Organisationen. 2. Europäische Sozialpolitik: a. Arbeitsmarktgesetzgebung und Beschäftigungspolitik; b. Theorie und Praxis des Managements; c. Gesetzgebung, Politik und Umsetzung sozialer Sicherheit; d. Frauenfragen; e. Entwicklung der Bevölkerung und der Sozialhilfe etc. 3. Europäische Wirtschaft: a. Theorie und Praxis der europäischen ökonomischen Integration; b. Der Euro und seine Auswirkungen auf das internationale Währungssystem; c. Gemeinsame europäische Außenhandelspolitik; d. Chinesisch-europäische Handels- und Wirtschaftsbeziehungen; e. Asiatisch-europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit; f. Die Auswirkungen der Osterweiterung auf die Außenwirtschaftsbeziehungen der EU. Zu den prominentesten Forschern am European Study Center gehören Song Xinning (Europapolitik und Außenpolitik) und Zhang Xiaojin (europäische Parteienpolitik). 3. Das European Issues Study Center der Universität Fudan Diese Institution blickt auf eine lange Geschichte der Erforschung der europäischen Wirtschaft und Staaten zurück. Angesichts der sich beschleunigen Integration der EU hat das Zentrum seit den 1990er Jahren begonnen, die europäische Integration aus dem Blickwinkel der Politik- und Wirtschaftswissenschaften zu untersuchen. Diese Arbeiten sind zu seinem neuen Markenzeichen geworden. Es publiziert zudem eine Zeitschrift, die European Integration Studies. Führende Wissenschaftler sind Dai Bingran (europäische Integration) und Zhang Jikang (Weltwirtschaft).
4 Jahrbuch für Europäische Geschichte 6 (2005) 4. Das European Studies Institute der Universität Shandong Seit den 1990er Jahren untersucht das Institut den Integrationsprozess der EU und ihre Mitgliedsländer aus der Perspektive der Politikwissenschaften. Themenschwerpunkte sind 1. Europäische politische Integration, insbesondere der politische Integrationsprozess der EU, Souveränitätsaufgabe und europäische Verfassung. 2. Politik der europäischen Parteien, insbesondere die multinationalen Parteien im Europaparlament, die Integration der Parteien und die Arbeitsmechanismen der Parteien im Europaparlament 3. Europäische Einwanderungspolitik, insbesondere Geschichte der Immigration im Kontext der europäischen Integration, Gesellschaftsfragen, Einwanderungsrecht, politische Implikationen von Immigration und europäischer Integration, und zwar aus dem Blickwinkel der Sozialwissenschaften. Bekannt sind Song Quanchengs Forschungen zur europäischen Immigration und Integration sowie Huan Quingzhis Arbeiten zur europäischen Partei der Grünen. 5. Das European Study Center der Universität Wuhan Es verfügt über sechs Forschungsabteilungen: für Europarecht, für europäische Umweltplanung, für europäische Wirtschaftsforschung, für europäische Geschichte und internationale Beziehungen, für europäische Philosophie sowie für übergreifende Themen, dazu ein europäisches Informationszentrum und eine Redaktionsabteilung für die France Studies. Hervorzuheben sind die Arbeiten Li Quiangs über westliche politische Philosophie und Politikwissenschaft und Song Yings Studien zum Europarecht. 6. Das European Study Center der Universität Nankai Diese Einrichtung gliedert sich in Forschungseinheiten zur europäischen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Philosophie und zu übergreifenden europäischen Fragen sowie ein europäisches Informationszentrum. Die Hauptaufgaben des Zentrums sind die Erforschung von Wirtschaft, Management, Umweltplanung, Erziehung und Sprachen in Europa. Zu den profiliertesten Forschern am European Study Center zählen Tong Jiadong (internationale Wirtschaft und europäische ökonomische Integration) und Guan Xinping (Gesellschaftspolitik). 7. Das European Study Center der Universität Sichuan Die Hauptforschungsfelder dieser Einrichtung sind die Geschichte, Gedankenwelt, der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund der europäischen Integration und der diesbezüglichen Gesetzgebung; regionale Wirtschaftsstrukturen in der EU; höhere Bildung und Humankapital in der EU; multikulturelle Gesellschaften und interkulturelle Vergleiche zwischen der EU und
Song, Europa-Studien in China 5 China. Große Beachtung gefunden haben die Studien von Shi Jian zum europäischen Arbeitsmarkt und von Li Zhuyu über Bildung und multikulturelle Gesellschaft in Europa. Veröffentlicht unter Jahrbuch für Europäische Geschicht Deutschland 6. 2005