Erkundung und Erforschung. Die Einheit von Reisen und Forschen als Alexander von Humboldts. Wissenschaftsprogramm.



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Transkript:

1 Erkundung und Erforschung Die Einheit von Reisen und Forschen als Alexander von Humboldts Wissenschaftsprogramm Eberhard Knobloch Zusammenfassung Am 5. Juni 1799 verließ der Forscher und Wissenschaftler Alexander von Humboldt La Coruña in Spanien, um nach Cumaná in Venezuela zu segeln. Am 3. August 1804 kehrte er nach Bordeaux in Frankreich zurück. Der Aufsatz beschäftigt sich mit fünf Aspekten dieser berühmten Reise: der Route der amerikanischen Reise, den wissenschaftlichen Zielen: Humboldts Reisen und wissenschaftliche Aktivitäten waren zwei Seiten derselben Medaille; der Methodologie: Humboldt erklärte ausführlich seine positivistische, wissenschaftliche Methodologie in seiner Abhandlung Über die isothermen Linien und die Wärmeverteilung auf der Erde (1817); den Errungenschaften und Ergebnissen: der alte Humboldt beanspruchte nur drei Verdienste: die Pflanzengeographie, die Theorie der isothermen Linien und den Geomagnetismus; den Isothermen als einer Fallstudie: Humboldt sprach umfangreich über Fehler, Grenzen und Vorteile der Methode der Mittelwerte. 1. Einleitung Alexander von Humboldt war sozusagen ein global player, der es vorzog, in Paris zu leben, und der 1827 nur widerwillig nach Berlin zurückkehrte, wo er geboren wurde. Als er noch sehr jung war, wollte er reisen. Sein Wunsch blieb nachhaltig bis zum Ende seines Lebens. Seine Pariser Bekannte Elisabeth de Pommard nannte dies seine maladie centrifugue, seine zentrifugale Krankheit (Moheit 1993, 246; Moheit 1999, 182). Er begann seine erste berühmte Reise durch die Neue Welt, als

2 er 30 Jahre alt war. Er führte seine zweite, nicht so berühmte Reise durch Russland durch, das heißt durch die Alte Welt, als er 60 Jahre alt war. Er arbeitete noch an seinem Werk Kosmos, in dem er seine weltweiten Erfahrungen beschrieb und interpretierte, als er 90 Jahre alt war. 2. Die Route von Humboldts amerikanischer Reise Humboldts Reiseroute war das Ergebnis einer fortwährenden Improvisation. Am 5. Juni 1799 verließ er La Coruña in Spanien, um nach Cumaná in Venezuela zu segeln, wo er am 16. Juli 1799 ankam. Mehr als fünf Jahre war er von Europa fort. Abb. 1 Während dieser Zeit reiste er nach Kuba, Kolumbien (das damals Neu-Granada hieß), Ecuador, Peru, Ecuador (zum zweiten Mal), Mexico (das damals Neu-Spanien

3 hieß), Kuba (zum zweiten Mal) und die USA. Am 30. Juni 1804 verließ er Newcastle in den USA und erreichte Bordeaux in Frankreich am 3. August. Ursprünglich plante er, zwei oder drei Jahre zu verreisen: von La Coruña zu den Kanarischen Inseln, nach Havanna, Mexico, Ecuador (Quito), Panama und zurück nach Spanien (Humboldt 2003b, 176). Weder Venezuela noch Kolumbien oder Peru waren ursprünglich einbezogen. In Venezuela verließ er das Schiff wegen einer Epidemie. Erst daraufhin beschloss er, das Gebiet des Orinoco und Casiquiare zu erforschen (Humboldt 1814-1825 I, 217). Um von Venezuela nach Panama zu gelangen, wollte er ursprünglich über Land reisen. Seine Reise auf dem Rio Magdalena, über die Anden war nicht geplant. Seine völlige Unabhängigkeit von finanzieller Hilfe ermöglichten ihm, seine Reiseroute entsprechend den jeweiligen Umständen zu wählen. Darin lag ein entscheidender Unterschied zwischen seiner eigenen Reise und derjenigen seiner Vorgänger La Condamine, Bouguer, Malaspina, Cook und Bougainville. Während er die gesamte Reiseroute improvisierte, wurde sein Forschungsprogramm sorgfältig geplant und verwirklicht. Man nehme eine beliebige Seite aus seinem Journal de route, das die Messdaten seiner Kreuzfahrt von Spanien nach Venezuela aufzählt.

4 Abb. 2 Humboldts Daten belegen, dass er Tag und Nacht maß, was immer gemessen werden konnte, die Temperatur von Luft und Meer, die Feuchtigkeit der Luft, die Bläue des Himmels, die magnetische Inklination usf. 3. Wissenschaftliche Ziele

5 Humboldt verfolgte ausdrücklich ein doppeltes Ziel: über die besuchten Länder zu berichten und Fakten zu sammeln, um die physikalische Geographie zu verbessern (Humboldt 1814-1825 I, 2f.). Für ihn waren Reisen und Forschen zwei Seiten derselben Medaille. Bereits Kepler (1609, 33) hatte astronomische Forschung mit einer Reise um die Welt gleich gesetzt: Qui vero hebetior est, quam ut Astronomicam scientiam capere possit, vel infirmior, quam ut inoffensa pietate Copernico credat, ei suadeo, ut ab hac peregrinatione mundana desistens, domum ad agellum suum excolendum se recipiat. Wer aber zu schwach ist, um die astronomische Wissenschaft verstehen zu können oder zu kleinmütig, um Copernicus zu glauben, ohne Schaden an seiner Frömmigkeit zu nehmen, dem rate ich, von dieser Weltreise abzusehen und sich nach Hause zurückzuziehen, um sein kleines Landgut zu pflegen. War Kepler Theoretiker, so war Humboldt Empiriker, der Daten, Fakten sammelte. Was war sein Ziel? Er teilte es seinen Briefpartnern mit. Am 5. Juni 1799 schrieb er an Karl Ehrenbert von Moll (Jahn und Lange 1973, 682): Ich werde Pflanzen und Foßilien sammeln, mit vortreflichen Sextanten von Ramsden, einen Quadrant von Bird, und einen Chronometer von Louis Berthoud werde ich nüzliche astronomische Beobachtungen machen können; ich werde die Luft chemisch zerlegen,- dieß alles ist aber nicht Hauptzwek meiner Reise. Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluß der unbelebten Schöpfung auf die belebte Thier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stäts meine Augen gerichtet seyn. Für das Zusammenwirken der Kräfte diente Laplace (1835, 377) als Modell:

6 Tout est lié dans la nature, et ses lois générales enchaînent les uns aux autres, les phénomènes qui semblent les plus disparates. Alles ist in der Natur untereinander verbunden, und ihre allgemeinen Gesetze verketten wechselseitig die scheinbar ungleichsten Phänomene miteinander. Laplace gründete seine Überzeugung auf Newtons universelles Gravitationsgesetz. Kein Wunder, dass Humboldt seine Relation historique dem französischen Mathematiker widmete. Er übertrug sogar die Überzeugung von den natürlichen Phänomenen auf die Naturwissenschaft selbst (Humboldt 1814-1825 I, 3): Les sciences physiques se tiennent par ces mêmes liens qui unissent tous les phénomènes de la nature. Die Naturwissenschaften halten sich durch dieselben Verbindungen, die alle Phänomene der Natur vereinigen. Seine Reise nach Amerika war das ideale Experimentierfeld. Das Ziel seiner Reise, seine Überzeugungen, Methoden und Forschungsprogramme bedingten einander wechselseitig. Mathematisierung war nicht sein Ziel, er war sich seiner begrenzten mathematischen Kompetenz wohl bewusst. An Jean Baptiste Delambre schrieb er am 24. November 1800 (Moheit 1993, 118; Moheit 1999, 82f.):... les instrumens que j ai (des sextans de Ramsden et Troughton, un quart de cercle de Bird, un horizon de Carochez,... vous savez que je ne suis pas très-savant en mathématiques, et que l astronomie n est pas le but de mon voyage; cependant avec du zèle et de l application, et en maniant journellement les mêmes instrumens, on parvient à faire quelque chose et à le faire moins mal. die Instrumente, die ich habe (Sextanten von Ramsden und Troughton, ein Quadrant von Bird, ein Horizont von Caroché,..., Sie wissen, dass ich in der Mathematik nicht sehr gelehrt bin, und dass die Astronomie nicht der Zweck meiner Reise ist; aber mit Eifer und Fleiß und

7 durch tägliche Handhabung derselben Instrumente gelangt man dazu, etwas zu tun und es weniger schlecht zu tun. Am 27. Januar 1804 schrieb Humboldt aus Puebla, Mexico, an Juan José Oteyza (Moheit 1993, 267; Moheit 1999, 202): Usted sabe que nadie admira más que yo los profundos conocimièntos matemáticos de los cuales usted está adornado y tendré motivos de elogiarlos públicamente. Sie wissen, dass niemand mehr als ich die tiefen mathematischen Kenntnisse, deren Sie sich rühmen können, bewundert und ich habe Gründe, diese öffentlich zu preisen. Humboldt weinte über seine Dummheit (stupidité), die ihm vom Verständnis der Laplaceschen Himmelsmechanik fernhielt, obwohl er den Autor wie das Werk bewunderte (Moheit 1993, 205f.; Moheit 1999, 148). 4. Methodologie J ai la fureur des chiffres exactes, schrieb Humboldt an Johann Gotthilf Fischer von Waldheim am 20. März 1837, ich bin ganz wild auf genaue Zahlen (Handschrift: Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften F. 260, op. 2, Nr. 50, l. 11). Er maß, was immer er messen konnte. Auf seine Instrumente war er besonders stolz. Bevor er Deutschland verließ, lernte er, diese zu handhaben.

8 Abb, 3 Das berühmte Bild von Friedrich Georg Weitsch aus dem Jahre 1810 zeigt ihn mit einem Indianer, der einen Sextanten trägt, in der Ebene von Tapi am Fuße des Chimborazo. Seine Methodologie kann als eine Reduktion der Phänomene auf empirische Gesetze beschrieben werden, die aus drei Schritten bestand: Zunächst sammelte er Beobachtungen, das heißt Messdaten. Auf diese Weise erhielt er numerische Elemente, die er zweitens visualisieren konnte. So hoffte er, drittens, empirische Daten zu entdecken, wobei er sich streng auf Tatsachenfeststellungen beschränkte. Jabbo Oltmanns arbeitete den astronomischen Teil von Humboldts Reisebericht aus. Sie widmeten dessen deutsche Version Franz Baron von Zach und Carl Friedrich Gauss. Und sie fügten ein Zitat aus Zachs Schrift De vera longitudine et latitudine Erfordiae, Über die wahre Länge und Breite Erfurts, hinzu (Humboldt und Oltmanns 1810, Erster Theil, Titelseite): Quantum ad geographiae et astronomiae incrementum intersit, veras locorum positiones geographicas nosse, neminem latere potest nisi eum qui, quem scientiae illae cum populi et patriae, emolumento nexum habeant, plane ignorat.

9 Wie sehr es im Interesse des Fortschritts von Geographie und Astronomie ist, die wahren geographischen Ortspositionen zu kennen, kann nur dem verborgen sein, der nicht die geringste Ahnung davon hat, welche Verbindung jene Wissenschaften mit dem Wohlergehen von Volk und Vaterland haben. Humboldt wurde von einem unstillbaren Wissensdurst angetrieben, von einer unbeschreiblichen geistigen Wissbegierde, wie er sie nannte (curiosité). Sie spielte in seinem Verhalten eine entscheidende Rolle und wurde nicht immer von seinen Gastgebern gut verstanden. Ein aufdringlicher Missionar von San Fernando frage ihn nach dem wahren Zweck seiner Reise, die ihm gefährlich und jedenfalls sehr nutzlos zu sein schien (Humboldt 1814-1825 I, 374). Er zog gutes Fleisch von Kühen vor, für ihn waren die Reisenden nur bedauernswerte Narren. 5. Errungenschaften und Ergebnisse Vor einigen Jahren boten Fritscher und Urbani (2000) einen Überblick über Humboldts bedeutende geologische Leistungen Pieper (2006) hat vor kurzem ein Heft über Humboldts Geognosie der Vulkane veröffentlicht : vulkanische Phänomene (Vulkane, heiße Quellen, Geysire, Dampf- und Gasausdünstungen), ein vergleichender geologischer und mineralogischer Überblick über Südamerika, Erdölgeologie, Paläontologie und Mineralogie von Südamerika. Der alte, selbstkritische Humboldt beanspruchte freilich nur drei Verdienste. Am 31. Oktober 1854 schrieb er an seinen Verleger Georg von Cotta (Biermann 1971, 95): Der wichtigsten und eigentümlichsten Arbeiten von mir gibt es nur drei: die Geographie der Pflanzen und das damit verbundene Naturgemälde der Tropenwelt, die Theorie der isothermen Linien und die Beobachtungen über den Geomagnetismus, welche die über den ganzen Planeten auf meine Veranlassung verbreiteten magnetischen Stationen zur Folge gehabt haben.

10 Seine geophysikalischen Ergebnisse waren also in seinen Augen seine bedeutendsten Errungenschaften. Deshalb habe ich seine Erfindung der Isothermen als ein Beispiel ausgewählt, um seine wissenschaftlichen Aktivitäten zu veranschaulichen. Gegenüber demselben Cotta beklagte er sich über das unbefriedigende Schicksal seines Reiseberichtes in Deutschland am 20. September 1847 (Leitner 1995, 20): Das beste, was ich in meiner amerikanischen Reise geliefert, hat nie Leben in Deutschland gehabt, weil ich leider nicht deutsch geschrieben, schlecht übersezt worden bin und weil die lebendige Naturbeschreibung nicht von rein wissenschaftlichen und langweilig statistischen Elementen getrennt worden ist. Was immer Humboldt und Bonpland leisteten, sie leisteten es unter Inkaufnahme vieler Risiken, wobei sie beständig von Moskitos gequält wurden. Mehrere Male war Humboldt in Lebensgefahr: Humboldt konnte nicht schwimmen, als das Schiff auf dem Orinoco umzukippen drohte. Er wurde von wilden Tieren bedroht, einmal auch von einem Eingeborenen (Humboldt 2000, 249, 258; Humboldt 1814-1825 I, 508f.). Die Moskitos stellten die normale Situation dar. In dieser Hinsicht erzählte Humboldt eine charakteristische Geschichte (Humboldt 1814-1825 II, 581f.). 1795 waren plötzlich alle Moskitos für 20 Minuten in Esmeralda am oberen Orinoco verschwunden. Aber anstatt sich über diese ungewöhnliche Situation zu freuen, befürchteten die Einwohner das Ende der Welt und waren überzeugt, dass sie sich auf das Schlimmste gefasst machen mussten. In den Jahren 1805-1807 veröffentlichte Humboldt den ersten Teil seines Reiseberichtes in Paris, das heißt seinen Essai sur la géographie des plantes. Die deutsche Version erschien 1807 (Humboldt 1807). Im Februar 1803 schrieb er den ersten Entwurf seines Buches in Guayaquil nieder. Etliches fügte er am Fuße des Chimborazo hinzu. Sein Naturgemälde umfasste die Hauptergebnisse der von ihm beobachteten Erscheinungen in einem

11 allgemeinen Bild. Es sollte nur allgemeine Ansichten, bestimmte faktische Feststellungen niederlegen, die durch Zahlen ausgedrückt werden konnten: die optische Metapher ist bei Humboldt allgegenwärtig (Knobloch 2004, 14; Knobloch 2005, 13). Sein Naturgemälde der tropischen Länder umfasst alle natürlichen Erscheinungen der Erdoberfläche und der Atmosphäre zwischen dem 10. nördlichen und 10. südlichen Breitengrad. Abb. 4 Es war ein Schnitt durch die Anden von West nach Ost. Alle Erscheinungen waren auf die Idee von Messung und Höhe bezogen: Lufttemperatur, Luftdruck, chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, Höhe des ewigen Schnees, Siedepunkt von Wasser, geognostische Ansicht der tropischen Welt, Abschwächung der Lichtstrahlen, horizontale Strahlenbrechung, Bodenbedingungen usf. 6. Fallstudie: Die Isothermen

12 Humboldts Theorie der isothermen Linien war auf der sorgfältig angewandten Methode von Mittelwerten gegründet. Viele Einflüsse steuerten zur gemessenen Temperatur der Luft bei: Winde, die eine Mischung von Temperaturen aus verschiedenen Breiten verursachten, die Nähe von Seen oder Meeren, die Neigung, chemische Qualität, Farbe, Strahlung und Ausdünstung des Bodens und die Richtung der Berghänge. Die Messungen offenbaren nicht die Anteile der verschiedenen Ursachen: Unter den möglichen verschiedenen Methoden, Mittelwerte zu berechnen, bevorzugte Humboldt diejenige, dass man täglich zwei Beobachtungen macht: das Minimum und das Maximum, von denen angenommen wird, dass sie bei Sonnenaufgang und um 2 Uhr nachmittags auftreten. Auf diese Weise hat man 730 Wärmebeobachtungen im Laufe eines Jahres zu kombinieren. Humboldt verwandte das einfache arithmetische Mittel, ohne irgendeine Hypothese über das Verhalten der Zahlenverhältnisse vorauszusetzen. Abb. 5 Die Karte überdeckt den größeren Teil der nördlichen Hemisphäre, von Amerika bis China reichend. In seinen De distributione geographica plantarum secundum coeli temperiem et altitudinem montium, prolegomena, seinen Einführenden Bemerkungen über die geographische

13 Verteilung der Pflanzen gemäß dem Wetter des Klimas und der Höhe der Berge kommentierte er (Humboldt 1817b, 70): Ita videmus circulos aequalis coloris annui sive, ut novo vocabulo utamur, isothermos, haud aequatori parallelos esse sed, ut lineas magneticas, angulo variabili parallelos geographicos transversim intersecare. So sehen wir, dass die Kreise jährlicher gleicher Wärme oder, um eine neue Bezeichnung zu verwenden, Isothermen, nicht zum Äquator parallel sind, sondern wie die magnetischen Linien die geographischen (Breiten-)Parallelen unter wechselndem Winkel schräg schneiden. Abb. 6 Humboldts zweite kleinere Figur bezog die Höhen der Kordilleren auf die geographischen Breiten. Die Kurven stellen Längsschnitte durch die Erde oder die Atmosphäre dar und verbinden Punkte mit derselben jährlichen mittleren Temperatur. Ist eine spezielle Temperatur gegeben, so nimmt die Breite ab, wenn die Höhe zunimmt. 7. Epilog

14 Abb. 7 1829, als Humboldt 60 Jahre alt war, unternahm er seine zweite ausgedehnte Reise, dieses Mal durch Russland. Man könnte glauben, dass es in seinem Leben ein Moment der Beschleunigung gab. Während seine Lebenszeit ablief, reiste er neun Monate statt 5 Jahre mehr als 15.000 km durch Russland. Eine freundliche Karikatur von Herbert König aus dem Jahre 1853 zeigte Humboldt nicht groß und schlank, sondern eher als klein und untersetzt. Dies war tatsächlich der Fall (Humboldt 2003a, 92):

15 Abb. 8 Politicus in dem Salon, Kosmopolit, mais de bon ton. Zählt er zu Deutschlands Helden. Wir seh n ihn fest am Throne steh n, Noch fester auf des Erdballs Höh n, als Bürger beider Welten. Humboldt steht auf der Alten Welt mit seinem linken Bein und auf der Neuen Welt mit seinem rechten Bein. 150 Jahre später, am 28. April 1997, schrieb die British Library an Alexander von Humboldt (Knobloch 2004, 15; Knobloch 2005, 15): Dear Alexander von Humboldt, Thank you for your inquiry received 26/03/97, details of which are listed below usf. Es gibt zwei mögliche Schlussfolgerungen, die man aus diesem Brief ziehen kann (er wird von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt): entweder ist das Vertrauen in Humboldts Langlebigkeit unbegrenzt oder sic transit gloria mundi, so vergeht der Ruhm der Welt.