Lebenshilfe. Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im SGB VIII. (sogenannte große Lösung nach SGB VIII)



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Transkript:

Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im SGB VIII (sogenannte große Lösung nach SGB VIII) Ein Positionspapier der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.v. Lebenshilfe

Kinder und Jugendliche im SGB VIII Das Positionspapier wurde von Bundesvorstand und Bundeskammer der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung am 21.03.2012 verabschiedet.

Vorwort Praxis der Gedanke der Inklusion. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat sich von Anfang an in die fachliche Diskussion eingebracht und unternimmt mit dem vorliegenden Papier eine Positionsbeschreibung. Der 13. Kinder- und Jugendbericht und ihm folgend eine Vielzahl politischer Stellungnahmen sprechen sich dafür aus, allen behinderten Kindern und Jugendlichen Leistungen der Eingliederungshilfe auf der Basis des Jugendhilferechts zu gewähren, unabhängig davon, ob ihre Behinderung körperlicher, geistiger oder seelischer Natur ist. Gegenwärtig werden Eingliederungshilfeleistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach Maßgabe des Jugendhilferechts erbracht. Eingliederungshilfe für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche dagegen leistet die Sozialhilfe auf der Grundlage des SGB XII. Ausschlaggebend für die erneute Diskussion einer Großen Lösung nach SGB VIII, unter der die Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Eingliederungshilfeleistungen für junge Menschen verstanden wird, war neben Problemen der 3

Lebenshilfe Zusammenführung aller Leistungen für 1. Standortbestimmung Im Jahr 1958 auf Bundesebene von betroffenen Eltern und Fachleuten als Bundesvereinigung Lebenshilfe gegründet, vereinigt die Lebenshilfe heute 135.000 Menschen in ihren verschiedenen Mitgliedsorganisationen. 523 Orts- und Kreisvereinigungen und 16 Landesverbände, die alle jeweils rechtlich eigenständig sind, sind als Mitgliedsorganisationen in der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.v. zusammengeschlossen. Die Lebenshilfe versteht sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien. In ihren verschiedenen Funktionen begleitet sie Familien von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung sowie erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung in ihrem Bestreben, gleichberechtigt am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen und tritt für die barrierefreie Gestaltung aller Lebensbereiche ein. Als solidarisch handelnde Selbsthilfeorganisation ist sie Träger von qualifizierten Beratungs- und Betreuungsangeboten, differenzierten Einrichtungen und zukunftsweisenden Projekten auch für den Lebensabschnitt von Kindheit und Jugend. Diese Angebote, Einrichtungen und Projekte sind im Wandel begriffen, um den Bedürfnissen nach inklusiven Angeboten und einer Öffnung nach außen Rechnung zu tragen. 4

2. Verbandspolitische Bedeutung der Großen Lösung nach SGB VIII Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu begleiten und ihre Familien zu unterstützen ist selbstverständliches Anliegen der Lebenshilfe. Die heute bestehenden Leistungsgesetze für Menschen mit Behinderung und ihre Familien wurden unter Beteiligung der Lebens hilfe entwickelt. Als großer Träger von Angeboten und Diensten auch für Kinder und Jugendliche wie Frühförderung, Kindertagesstätten, Schulen, Offenen Hilfen, Freizeitangeboten, Werkstätten und Wohnangeboten übernimmt die Lebenshilfe selbst Verantwortung für die Leistungserbringung. Jede Veränderung in den Leistungsgesetzen für Menschen mit Behinderung und ihre Familien kann große Auswirkungen auf die davon betroffenen Menschen haben. Die Lebenshilfe sieht sich in der Pflicht, Gesetzgebungsprozesse zu begleiten und kritisch zu kommentieren. Ebenso ist es Aufgabe der Lebenshilfe, über beschlossene gesetzliche Veränderungen zu informieren und die Umsetzung mit zu gestalten. Dabei ist die Situation von Familien mit behinderten Kindern unbedingt zu beachten. Eine Behinderung löst häufig einen lebenslangen Bedarf an Eingliederungshilfeleistungen, die für die unabhängige Lebensführung und die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft unerlässlich sind, aus. Diese Lebenslage darf nicht dazu führen, dass eine Familie mit einem behinderten Kind finanziell schlechter gestellt ist als andere Familien. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf die Feststellung des 5. Familienberichts, wonach Familien mit behinderten Kindern vielfältigen Belastungen ausgesetzt sind. In dieser Lebenssituation müssen Eltern umfangreiche zusätzliche Aufgaben bewältigen. Sie sind daher oftmals in ihren Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt und können häufig nicht in gleichem Umfang wie andere Eltern erwerbstätig sein. Bei einer Realisierung der Großen Lösung nach SGB VIII würden die Mittel für die Eingliederungshilfeleistungen in der Regel an die Kommunen als Träger der Jugendhilfe fließen. Wie aus einzelnen Bundesländern berichtet wird, haben aber bereits jetzt viele Kommunen aufgrund ihrer schwierigen finanziellen Lage große Schwierigkeiten, bereits die Pflichtaufgaben der Jugendhilfe zu erbringen. Bei einer Zusammenfassung aller Eingliederungshilfeleistungen unter dem Dach der Jugendhilfe steht zu befürchten, dass die Kommunen sich zu Einsparungen gezwungen sehen würden, die zu Lasten der inhaltlichen Ausgestaltung der Eingliederungshilfeleistungen gehen könnten. Dies wäre inakzeptabel. Die Lebenshilfe beschäftigt sich schon seit Langem mit den problembehafteten Schnittstellen zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Die aktuelle Entwicklung nach der Veröffentlichung des 13. Kinder- und Jugendberichtes im November 2009 und der Beschlüsse der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, zuletzt im November 2011, macht es erforderlich, die Anliegen der von der Lebenshilfe vertretenen Kinder und Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Familien in der politischen Diskussion zu vertreten. Dabei sieht es die Lebenshilfe als dringende Aufgabe, auch die Gefahren und Risiken einer Neuregelung aufzuzeigen und im Sinne der Eltern behinderter Kinder Position zu beziehen. In der öffentlichen Debatte werden verschiedene Lösungen zur Bereinigung der Schnittstellenproblematik zwischen SGB VIII und SGB XII betrachtet. Die Stellungnahme beschränkt sich auf die Zusammenführung aller Leistungen für Kinder und Jugendliche im SGB VIII, weil diese die meistdiskutierte Variante ist. 5

3. Allgemeine Begründung für die Große Lösung nach SGB VIII Auch die geltende Rechtslage mit ihrer Aufspaltung der Zuständigkeit für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche auf die Sozialhilfe und für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche auf die Jugendhilfe führt in der Praxis zu einer Vielzahl von Schwierigkeiten bei der Leistungsgewährung. Deshalb besteht ganz überwiegend Konsens, dass die Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme, die aus der Aufspaltung herrühren, durch eine Zusammenführung aller Leistungen in einer Hand behoben werden sollten. Zuordnungsschwierigkeiten zum Bereich der Jugendhilfe einerseits und dem Bereich der Sozial hilfe andererseits ergeben sich in den Grenzbereichen zwischen geistiger und seelischer Behinderung, zwischen geistiger und Lernbehinderung, zwischen Eingliederungshilfebedarf und erzieherischem Bedarf und bei Mehrfachbehinderungen. Trotz der klaren Vorrang-/Nachrangregelung des 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII ist die Zuordnung zu einem System problematisch, wenn sich der Hilfebedarf nicht allein wegen der Behinderung, sondern auch aus anderen Gründen, wie z.b. einer Überforderung der Eltern mit der Erziehung, problembehafteten Familienverhältnissen, Ablehnung etc. ergibt. Weitere Bedarfe, deren Zuordnung zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe teilweise sogar in der Rechtsprechung umstritten ist, betreffen die Hilfe für junge Volljährige nach 41 SGB VIII, gemeinsame Wohnformen für behinderte Müt- ter oder Väter mit ihrem nichtbehinderten Kind, die Betreuung körperlich oder geistig behinderter Kinder in Pflegefamilien und die Elternassistenz/ begleitete Elternschaft. Die sich aus den rechtsnormativen Unklarheiten ergebenden Zuständigkeitsstreitigkeiten binden Ressourcen in der Jugendhilfe und der Sozialhilfe und setzen jeweils Anreize, eine mögliche eigene Zuständigkeit zu umgehen. Dies kann zu einer verzögerten Leistungsgewährung oder sogar zu einer Leistungsverweigerung führen. Leidtragende sind die Familien, die ihre berechtigten Leistungsansprüche notfalls gerichtlich durchsetzen müssen. Auch unter den Bedingungen der geltenden Rechtslage finden sich in einigen Bundesländern gute Beispiele für länderspezifische Lösungen oder gelungene Kooperation, für vernünftige Kostenteilungen oder die Übernahme der alleinigen Verantwortung eines der Leistungsträger, um die genannte Zuständigkeitsproblematik zu vermeiden. Jedoch ersetzen diese Insellösungen nicht eine bundeseinheitliche Regelung. Ziel einer Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe für alle behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen im SGB VIII ist es einerseits mit einer möglichst klaren Regelung der Zuständigkeiten, etwaige Zuständigkeitsstreitigkeiten zu vermeiden. Andererseits soll dem Inklusionsgedanken der UN- Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen werden. 6

4. Vorbedingungen einer Großen Lösung nach SGB VIII Für eine Große Lösung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe sind aus der Sicht der Lebenshilfe folgende Vorbedingungen zu erfüllen, damit durch die Zuständigkeitsverlagerung nicht die berechtigten Interessen der Betroffenen und ihrer Familien verloren gehen. Hierfür ist es unerlässlich, dass die Kinder und Jugendhilfe als Ganzes ihre Verantwortung auch für behinderte Kinder und Jugendliche (an-)erkennt. Der besondere Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sollte in einen engen Kontext mit der für das Alter typischen Lebenswelt aller Kinder gesetzt werden. Dabei ist das Recht auf Teilhabe an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen strukturell ebenso wichtig wie das Recht auf eine der Behinderung angemessene Förderung. Erforderlich ist auch, dass die zuständigen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe über die notwendige fachliche Expertise für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen verfügen. Hierfür bedarf es eines umfassenden Qualifizierungskonzeptes. Die Lebenshilfe fordert daher insbesondere, dass 1. alle Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe inklusiv ausgestaltet werden. Hierfür sind Änderungen im SGB VIII erforderlich. 1 SGB VIII, der das Programm der Jugendhilfe aus der Sicht des jungen Menschen entfaltet, sollte in Absatz 3 um die inklusive Leistungserbringung als Teil des allgemeinen Auftrags der Jugendhilfe ergänzt werden. Darüber hinaus muss die Ausgestaltung der Leistungen als inklusive Angebote zwingend bei der Jugendhilfeplanung, 80 SGB VIII, Aufnahme finden. 2. bei einer Verlagerung in die Kinder- und Jugendhilfe alle Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII im SGB VIII übernommen werden. Es darf in keinem Fall zu einer Leistungsverschlechterung für Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung kommen. Dies gilt auch für die Einbeziehung von Kindern mit drohender Behinderung, wie sie im SGB XII geregelt ist und für die Leistungen der Frühförderung, wie sie in den 30, 56 SGB IX festgelegt sind. 3. die Eingliederungshilfeleistungen bei einer Neuregelung im SGB VIII mindestens im bisher gewährten Umfang und der bisherigen Qualität erhalten bleiben. Hierfür ist es unbedingt erforderlich, die für die Leistungsgewährung nach dem SGB VIII zuständige Ebene finanziell entsprechend auszustatten. 4. keine Ausweitung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern behinderter Kinder insgesamt erfolgt. Die zuvor schon genannte besondere Situation einer oft lebenslangen Verantwortung von Eltern mit behinderten Kindern gebietet es, finanzielle Mehrbelastungen unbedingt zu verhindern. Bei der notwendigen Neuregelung der Kostenheranziehungsvorschriften ist 7

ferner auf eine bundeseinheitliche und transparente Regelung zu achten. 5. klare Kriterien für Krippen und Kindertagesstätten geschaffen werden, die Voraussetzung für eine Anerkennung als inklusive Einrichtung sind. Zur Ausarbeitung dieser Kriterien stellt sich die Lebenshilfe mit ihrem Fachwissen gerne zur Verfügung. 6. für den Übergang zum Erwachsenenleben und damit zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII Übergangsregelungen geschaffen werden, die einen an den Erfordernissen des Einzelfalls orientierten, zeitlich flexiblen Übergang vom System der Kinder- und Jugendhilfe in das System der Sozialhilfe erlauben. Gewährleistet werden muss ein Übergangsmanagement unter Beteiligung des jungen Menschen. 9. ein Beteiligungsmanagement auf kommunaler Ebene eingeführt wird, in welches die betroffenen Menschen und ihre Interessensvertreter eingebunden werden, um die Entwicklung der Strukturen und der Leistungserbringung mit zu gestalten. 10. das Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen in den beteiligten Ämtern, das eines Dienstleisters ist, der den Eltern und den betroffenen Kindern und Jugendlichen mit ihren Kompetenzen auf Augenhöhe begegnet und Verständnis für die Situation einer Familie mit einem behinderten Kind entwickelt. 7. auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene die Zuständigkeitsveränderungen in einem nachvollziehbaren Verfahren umzusetzen sind, welches durch ein qualifiziertes Prozessmanagement zu steuern, auszuwerten und gegebenenfalls zu verändern ist. 8

5. Chancen einer großen Lösung nach SGB VIII Mit der Verankerung aller kindbezogenen Leistungen im System der Kinder- und Jugendhilfe könnte die vielerorts bestehende Trennung der Lebenswelten von behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen durch die Gestaltung inklusiver Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe aufgehoben werden. Hierfür müsste die Kinder- und Jugendhilfe jedoch insgesamt unter dem Leitgedanken der Inklusion umgebaut werden. Die Kinder- und Jugendhilfe würde dann auch Familien mit körperlich und geistig behinderten Kindern wahrnehmen und sie in ihr Beratungsangebot einbeziehen. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die Beobachtungen vieler Frühförderstellen zeigen, dass der Anteil von Kindern, die mit einer klassischen geistigen Behinderung in die Frühförderung kommen, eher abnimmt und dafür der Anteil von Kindern steigt, die infolge benachteiligender Lebensumstände behindert sind. Ein systemischer Ansatz würde diesen Kindern auf ihrem Weg durch Kindheit und Jugend besser gerecht werden. Ein Leistungsangebot für behinderte Kinder und Jugendliche, das sich primär an der Lebenslage Kindheit und Jugend orientiert, entspräche darüber hinaus dem Inklusionsgedanken der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Alle jungen Menschen sind zunächst einmal Kinder und Jugendliche und haben erst in zweiter Linie eine Einschränkung. Die Leistungen, die sie aufgrund ihrer individuellen Situation benötigen, sollten sich daher an ihrer Lebenslage orientieren und sie nicht einem Sondersystem zuordnen. Gleichzeitig würden mit der Zusammenfassung aller Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche im SGB VIII bürokratische Hürden abgebaut, die u.a. durch Doppelbegutachtungen der unterschiedlichen Leistungsträger entstehen. Der systemische Blick der Jugendhilfe auf die Familie als Ganzes ist zudem oft besser für die Beantwortung der Frage geeignet, welche Bedingungen ein Kind für seine Entwicklung braucht als der isolierte Blick der Sozialhilfe, der auf die Behinderung des Kindes fokussiert ist. Eine Leistungsgewährung aus einer Hand bei einem Nebeneinander von erzieherischen und behinderungsbedingten Leistungen würde ermöglicht. 9

6. Fazit zulasten von Familien mit behinderten Kindern könnten angesichts der Tatsache, dass eine Behinderung einen in der Regel lebenslangen Bedarf an Eingliederungshilfeleistungen auslöst und die Eltern betroffener Kinder gegenüber anderen Familien zusätzliche Aufgaben und Belastungen schultern müssen, nicht akzeptiert werden. Die Zusammenfassung aller Eingliederungshilfeleistungen für Kinder und Jugendliche im SGB VIII und insbesondere der Umbau des SGB VIII zu einem inklusiven Leistungssystem kann zu einer bedeutenden Weiterentwicklung der Unterstützung behinderter Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien führen. Damit die Chancen einer solchen Reform zum Tragen kommen, beteiligt sich die Bundesvereinigung Lebenshilfe am Diskussionsprozess. Mit der großen Lösung nach SGB VIII, deren rechtliche Normierung noch nicht absehbar ist, sind auch zahlreiche Unwägbarkeiten und große Risiken verbunden. Diese sind im vorliegenden Positionspapier als notwendige Vorbedingungen benannt worden und müssen unbedingt einer Klärung im obengenannten Sinne zugeführt werden, damit die Bundesvereinigung Lebenshilfe einer Großen Lösung nach SGB VIII zustimmen könnte. Wesentlich ist, dass die Verlagerung der Leistungen aus dem SGB XII keine Verschlechterung für die davon betroffenen Kinder und Jugendliche mit sich bringt. Kostenverschiebungen 10

Kinder und Jugendliche im SGB VIII Impressum Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.v. Leipziger Platz 15, 10117 Berlin Tel.: 030 206411-0, Fax: 030 206411-204 Raiffeisenstraße 18, 35043 Marburg Tel.: 06421 491-0, Fax: 06421 491-167 Bundesvereinigung@Lebenshilfe.de www.lebenshilfe.de Autoren: Dr. Bettina Leonhard Rainer Dillenberg Gestaltung: Heike Hallenberger Fotos: Hans D. Beyer, Berlin Ort: Berlin/Marburg, März 2012