Fallstudie und Musterlösung Fallstudie VI: Bewerberauswahl 1
Der Maschinenbaukonzern, für den Sie seit mehreren Jahren erfolgreich tätig sind, hat Ihnen die Führung eines Unternehmens übertragen, das neu in den Konzernverbund übernommen wurde. Das Unternehmen ist auf die Produktion von Spezialmaschinen für die Lebensmittelindustrie konzentriert. Bislang wurde das Familienunternehmen, das auf eine über 100jährige Tradition zurückblicken kann, vom Alleineigentümer geführt. Aus Altersgründen verkaufte der charismatische Unternehmer, der vor allem auch alle Vertriebsaktivitäten fest in der Hand hielt, seinen Betrieb an Ihren Konzern. Sie stehen nun vor der Aufgabe aus dem etwas angestaubten, patriarchalisch geführten Unternehmen ein Vorzeigemitglied in der Konzernfamilie zu entwickeln, das sich durch modernes Management, innovative Produkte und eine vorherrschende Marktstellung auszeichnen soll. Zur Unterstützung Ihrer Arbeit brauchen Sie ein neues Führungsteam für den Vertrieb. Der Konzernvorstand hat Ihnen bei der Personalauswahl zwar weitgehend freie Hand gelassen, möchte aber bei wichtigen Personalentscheidungen für Top- Führungskräfte eine nachvollziehbare Entscheidung von Ihnen. Im Konzern ist es üblich, anhand eines definierten Kriterienkatalogs die verschiedenen Bewerber/innen miteinander zu vergleichen und die geeignete Kandidatin bzw. den besten Kandidaten auszuwählen. Nicht allen Kriterien kommt dabei das gleiche Gewicht zu. Dem Vorstand ist es äußerst wichtig, dass die zukünftige Vertriebführungskraft Fach-Know-how aus der Lebensmittelindustrie mitbringt. Auch ist es aus seiner Sicht sehr bedeutsam, dass der Vertrieb von einer charismatischen Persönlichkeit geführt wird. Natürlich sollte die Person auch über sehr herausragende vertriebliche Fähigkeiten verfügen. Fremdsprachenkenntnisse sind eher weniger erforderlich, da die Exportquote Ihres Unternehmens nur 12 % beträgt. Im Hinblick auf die bisherige berufliche Erfahrung sollte nach Ansicht des Vorstandes die Führungskraft über die durchschnittliche Erfahrung eines 35- bis 40-Jährigen verfügen. Sehr wichtig sind die Präsentations- und Kommunikationsfähigkeiten der Bewerber, da sie viel im Kundenkontakt stehen werden. Flexibilität, Belastbarkeit und Engagement werden als selbstverständlich vorausgesetzt, über die jeder Bewerber gleichermaßen verfügen sollte. Kaum von Bedeutung sind nach Auffassung des Vorstands produktspezifische Kenntnisse, da sich jeder der Kandidaten darin einarbeiten kann. Auch Fragen der Marktforschung spielen eher eine weniger wichtige Rolle. Sympathie ist dem Vorstand äußerst wichtig. Das Einfühlungsvermögen wird eher als durchschnittlich bedeutsam für die Zukunftsaufgabe gesehen. Der äußerst wichtige Schlüssel zum Erfolg liegt für den Vorstand in der Fähigkeit der zukünftigen Vertriebsführungskraft, die Probleme des Unternehmens entschlossen und lösungsorientiert anzugehen. 2
Neben den Erwartungen des Vorstands sollten Sie auch Ihr eigenes Anforderungsprofil an die Stelle formulieren, denn schließlich brauchen Sie ein sehr loyales Mitglied in Ihrem Führungsteam, mit dem Sie äußerst verlässlich, sehr vertraulich und in der Regel auch harmonisch zusammenarbeiten können. Die Identifikation mit dem Konzern ist Ihnen weniger wichtig. Was erwarten Sie zudem? Stellen Sie bitte eine Entscheidungsgrundlage zusammen, die für den Vorstand nachvollziehbar ist und in der sich seine und ihre Anforderungen an die Bewerber ihrer Bedeutung angemessen wieder finden. Nach den ersten Schritten des Auswahlprozesses durch die Personalabteilung stehen zwei Kandidaten in der engeren Auswahl: Frau Dr. Schnell und Herr Dipl.-Kfm. Mühsam. Frau Dr. Schnell, 37 Jahre alt, ledig, hat bereits mehrere Jahre in verschiedenen Führungspositionen im Vertrieb von Lebensmittelkonzernen gearbeitet. Sie hat sehr zügig Karriere gemacht, überdurchschnittlich viel Erfahrung sammeln können und verfügt über ein äußerst umfangreiches Know-how in der Lebensmittelindustrie. Sie ist eine blendende Erscheinung, die mit ihrer sehr ausgeprägten Persönlichkeit und ihren äußerst beeindruckenden Fähigkeiten zu überzeugen vermag. Sie beherrscht vier Fremdsprachen und ist sehr redegewandt und präsentationsstark. In den Assessment Centern hat sie sich wie alle Bewerber als flexibel, belastbar und engagiert erwiesen. Da Frau Dr. Schnell bislang im Vertrieb von Lebensmittelkonzernen gearbeitet hat, verfügt sie kaum über Produktwissen. Dafür ist sie in den Grundlagen der Marktforschung durchschnittlich bewandert. Ebenso einfühlend wie sympathisch wie andere Mitbewerber versteht sie es, mit sehr viel Entschlossenheit ihre Ziele zu verfolgen. Dabei ist es ihr äußerst wichtig, stets die Lösung und ihre Realisierung im Auge zu behalten. Sie hat jedoch in der Vergangenheit öfter als andere die Arbeitgeber gewechselt, da sie nach eigenen Angaben oftmals weniger mit den direkten Vorgesetzten auskam. Mit den Unternehmen habe sie sich jedoch immer sehr identifizieren können. Ihre Zeugnisse bestätigen ihr eine sehr hohe Verlässlichkeit. Die Zusammenarbeit sei von Vertrauen und Harmonie gekennzeichnet gewesen. 3
Herr Dipl.-Kfm. Mühsam ist 32 Jahre alt und verheiratet. Er hat zwei Kinder. Die Familie und seine Freizeit sind ihm sehr wichtig. Er bereits seit einigen Jahren bei einem Konkurrenten in einer gehobenen Fachposition gearbeitet und ebensoviel Erfahrungen sammeln können wie viele seiner Kollegen. Während seiner vor allem vertriebsorientierten Tätigkeit konnte er sehr gute Einblicke in die Lebensmittelindustrie gewinnen. Er ist zwar kein überdurchschnittlich charismatischer Verkäufertyp, kann aber auf sehr solide Vertriebskenntnisse zurückgreifen. Aufgrund seiner ausgedehnten Reisetätigkeit hat er sich sehr fundierte Fremdsprachenkenntnisse angeeignet. Seine Auftritte bei Präsentationen und in Gesprächen sind von weniger Geschick gekennzeichnet, als es von einer Vertriebsführungskraft erwartet werden kann. Dennoch ist er äußerst flexibel, äußerst belastbar und sehr engagiert. Seine Produktkenntnisse sind äußerst wertvoll, da er nicht nur die eigenen Produkte, sondern auch die der Konkurrenz genau kennt. In etlichen Weiterbildungsmaßnahmen hat Herr Mühsam sich auch sehr gute Marktforschungskenntnisse angeeignet. Trotz seiner etwas verschlossenen Art ist er sehr sympathisch und zeigt sich im Umgang mit Mitarbeitern/innen sehr einfühlsam und versucht ihre Problemsicht immer auch zu verstehen. Dafür ist er bei der Durchsetzung von Lösungen etwas weniger entschlossen, obwohl er sich stets äußerst lösungsorientiert zeigt. Sein vorheriger Arbeitgeber schreibt in seinem Zeugnis, dass sich Herr Mühsam immer als sehr verlässlich erwiesen hat, sich durch eine hohe Integrität auszeichnete, so dass er alle Geschäftsangelegenheiten sehr vertraulich behandelt hat und immer äußerst loyal zu seinen Vorgesetzten war. Die Zusammenarbeit sei stets von sehr großer Harmonie geprägt gewesen und es sei durchgängig zu spüren, dass sich Herr Mühsam sehr mit dem Unternehmen identifiziere und der Weggang ihm sehr schwer falle. Wen der beiden Kandidaten schlagen Sie dem Vorstand zur Besetzung nun vor? Wie begründen Sie Ihre Entscheidung? Gehen Sie dabei in folgenden Schritten vor: a) Wie lautet die Beurteilung der Bewerber allein aus der Sicht des Vorstandes? b) Wie sieht die Beurteilung der Bewerber allein aus Ihrer Sicht aus? c) Wie könnte das aggregierte Ergebnis aussehen? 4
Schritt 1 in der Fallstudie: Analyse der Fallbeschreibung Identifikation und Abgrenzung von Kriterien und Bedingungen Bedingungen (nicht Kriterien) an die Bewerber: Berufliche Erfahrung Flexibilität, Belastbarkeit, Engagement 5
Ergebnis der Analyse von Bedingungen und Kriterien: a) Nur Vorstandssicht: 6
Ergebnis der Analyse von Bedingungen und Kriterien: b) Nur eigene Sicht: Kriterium 1: Loyalität, mit den Unterkriterien Verlässlichkeit Vertraulichkeit Harmonie Kriterium 2: Identifikation mit dem Konzern 7
Schritt 2 in der Fallstudie: Transformation der Zielgewicht- Attribute in eine Rangfolge (nur Vorstandssicht) Anmerkung: Reihenfolge kann auch anders definiert werden; ist im konkreten Problemfall aber unbedingt notwendig! 8
Schritt 3 in der Fallstudie: Ermittlung der Zielgewichte durch Matrix-Verfahren (nur für Vorstandssicht) 9
Zielgewichte für die eigene Sicht können durch simultanen Vergleich gewonnen werden, z.b.: Kriterium 1: Loyalität, mit den Unterkriterien 80% Verlässlichkeit 35% Vertraulichkeit 25% Harmonie 20% Kriterium 2: Identifikation mit dem Konzern 20% 10
Schritt 4 in der Fallstudie: Festlegung von Wertetabellen und Wertefunktionen (letztere hier nicht relevant) Beispiel einer generischen Wertetabelle Merkmalsausprägung Teilnutzen Kriterium wird hervorragend erfüllt 5 Kriterium wird überdurchschnittlich erfüllt 4 Kriterium wird durchschnittlich erfüllt 3 Kriterium wird unterdurchschnittlich erfüllt 2 Kriterium wird schlecht erfüllt 1 11
Schritt 5 in der Fallstudie: Bewertung der Bewerber a) Prüfung der Zulässigkeit (Bedingungen) Bedingungen (nicht Kriterien) an die Bewerber: Berufliche Erfahrung Flexibilität, Belastbarkeit, Engagement Nach Fallbeschreibung für Dr. Schnell und Dipl.-Kfm. Mühsam erfüllt, beide sind zulässige Entscheidungsalternativen! 12
b) Beurteilung der Bewerber aus Vorstandssicht: 13
b) Beurteilung der Bewerber aus Vorstandssicht: Zwischenergebnis: Beide Bewerber sind aus Vorstandssicht praktisch gleichwertig. 14
c) Beurteilung aus der eigenen Sicht Zwischenergebnis: Dipl.-Kfm. Mühsam zu bevorzugen. 15
Schritt 6 in der Fallstudie: Aggregation von Vorstandssicht und eigener Sicht a) Zielgewichte könnten z.b. sein: Vorstandssicht 80% Eigene Sicht 20% b) Bewertung der Bewerber: 16
b) Bewertung der Bewerber: Endergebnis: Unter den gesetzten Annahmen und Beurteilungen ist Dipl.-Kfm. Mühsam zu wählen. Die Gesamtnutzenwerte liegen aber dicht beieinander; eventuell Sensitivitätsanalyse hilfreich! 17
Abschließende Bemerkungen: Zielgewichte, Wertetabellen und Beurteilungen der Bewerber können auch anders festgelegt bzw. vorgenommen werden. Fallstudie verdeutlich die Notwendigkeit von Entscheidungskriterien und Zielgewichten. Simultane Festlegung von Zielgewichten gelingt nur bei wenigen Kriterien. Trotz diverser Kritikpunkte ist das Matrixverfahren bei vielen Entscheidungskriterien das einzig wirklich praktikable Verfahren. 18