Dr. Andreas Eickhorst Pädagogische Psychologie Das System Familie Themen 1. Was ist eine Familie? 2. Formen und Ausgestaltungen von Familie 3. (Systemische) Betrachtungsebenen 4. Begriffe und Konzepte systemischer Psychologie 5. Chancen und Risiken systemischer Betrachtungsweisen 1
Was ist eine Familie? Ein Familiensystem ist eine besondere Gruppe von Personen, zwischen denen Beziehungen bestehen; diese Beziehungen werden durch die Mitglieder etabliert, aufrechterhalten und erkennbar gemacht, indem sie miteinander kommunizieren. (Bavelas & Segal, 1982) Aus: Oerter & Montada, 1995 Was ist eine Familie? Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie Verwandtschaft. (Kurt Tucholsky) Aus: Oerter & Montada, 1995 2
Warum eine Beschäftigung mit dem Thema Familie? Ort der Reproduktion und somit Fortbestandssicherung (noch immer) Kern der Gesellschaft Selbstkonzepte und (Erziehungs-) Ziele der Eltern wirken auf die Entwicklung der Kinder Ansatz- und Kristallisationspunkt für Veränderungen der Gesellschaft für die Psychologie Ansatzpunkt von Beobachtung und Intervention (Beratung/Therapie) Zwangsläufige Interaktion Schule - Familie Was ist eine Familie? Fünf Formen familialer Beziehungen 1. Die funktionale Familie 2. Die rechtliche Familie 3. Die wahrgenommene Familie 4. Die Familie langfristiger Verpflichtungen 5. Die biologische Familie 3
Was ist eine Familie? Definition abhängig von der jeweiligen historischen Zeit und dem kulturellen Kontext Die traditionelle Normalfamilie besteht aus einem Mann und einer Frau [...], die legal verbunden in einer dauerhaften und sexuell exklusiven Erstehe mit ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt leben. Dabei widmet sich der Mann voll dem Berufsleben, während die Frau sich weitgehend aus der Berufstätigkeit zurück zieht, um volle Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung zu übernehmen. (Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie nach Scanzoni et al., 1989) Aus: Oerter & Montada, 1995 Was ist eine Familie? Definition abhängig von der jeweiligen historischen Zeit und dem kulturellen Kontext westliche Kleinfamilie nur eine von vielen Normvorstellungen Kindheit und Jugend etc. ebenfalls keine objektiven Gegebenheiten (siehe Ariès, 1975) Notwendigkeiten der Gesellschaft (Wirtschaft, Bildung, Arbeitsmarkt ) als Anforderungsfaktor Schätzungen zufolge leben weltweit ca. 80 Mio. Kinder nicht in familialen Kontexten 4
Familiale Kontexte Westliche Kleinfamilie mit Vater, Mutter und wenigen Kindern; Intimität und Abgrenzung Großfamilie mit vielen Kindern, Großeltern, Onkeln, Tanten und evtl. weiteren Personen Familienähnliche Kommunen-Projekte (z.b. Kibbuz) Allein erziehende Eltern (freiwillig oder unfreiwillig) Eltern in Scheidung ohne ihre Kinder Patchworkfamilien Heimunterbringung Straßenkinder Formen familiärer Arbeitsteilung Ein Partner ist erwerbstätig, der andere zuhause heute in der BRD überwiegend der Mann erwerbstätig Elternzeit (und Erziehungsgeld), ein Elternteil oder beide Teilzeit- oder Heimarbeit Einbeziehung von Großeltern etc. Außerfamiliäre Betreuung der Kinder 5
Partnerschaft und Elternschaft Beide Lebensformen werden heute größtenteils gleichgesetzt das war nicht immer so und schafft Probleme Partnerschaft besteht prinzipiell auf Zeit, Elternschaft nicht Problem bei Trennungen Postmodernes Anything goes und Selbstverwirklichung versus Generativität und Familienorientierung Kinderanzahl Problem sinkender Kinderzahlen Veränderte Wertigkeit von Kindern Value of the child (VOC): Früher: materielle Versorgung und gesellschaftlicher Status Heute: emotionaler Wert; Sinnstiftung Daraus sich ergebendes späteres Erstgebärendenalter Gefährdung der Generativität? Rolle der Evolution in modernen Gesellschaften? 6
Betrachtungsebenen Individuum Beziehungen zwischen einzelnen Individuen Kleingruppen (z.b. Familien) Beziehungen zwischen Kleingruppen Beziehungen zwischen Individuen und der Kleingruppe Großgruppen (z.b. staatliche Gesellschaften) Beziehungen zwischen Großgruppen Beziehungen der Individuen und Kleingruppen mit der Großgruppe Kontext eines Schulkindes Freunde Geschwister Fußballtrainer Kind Lehrer Eltern Verwandte Fußballkollegen Klassenkameraden 7
Kontexte der Kontexte eines Schulkindes Freizeit Familie Stadt/ Gemeinde Erweiterte Verwandtschaft Freundeskreis Nachbarschaft Sport Schule Systemische (Familien-) Psychologie Entstanden in den 1950er Jahren als Familientherapie Später Ausweitung auch auf andere Systeme Erwachender Anspruch, mehr als nur Therapieform zu sein Gegenstand Die Frage, wie in sozialen Systemen Menschen gemeinsam ihre Wirklichkeit erzeugen und wie diese Wirklichkeit hinterfragt, verstört und verändert werden kann. Ursprünglich naturwissenschaftlicher Systembegriff: Regelkreise; Kybernetik; Autopoiese diese Begriffe dienen als Metapher für menschliche soziale Beziehungen 8
Systemische (Familien-) Psychologie Bekannte VertreterInnen: Paul Watzlawick, Lyman Wynne, Virginia Satir, Gregory Bateson, Salvador Minuchin (USA) Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo (Mailand) Horst Eberhard Richter, Helm Stierlin, Arist von Schlippe (BRD) Bert Hellinger??? Konzepte systemischer Psychologie Kommunikationen (erster und zweiter Ordnung) Wichtigste Verbindung zwischen Komponenten sozialer Systeme Kommunikation über Inhalte (1. Ordnung) Kommunikation über Kommunikation (2. Ordnung) 9
Konzepte systemischer Psychologie Bedeutung (von Kommunikation und Handlung) Bedeutung des Inhaltes ist oft wichtiger als der Inhalt selbst Gleicher Inhalt kann völlig verschiedene Bedeutungen haben je nach Absender, Kontext und Empfänger Kommunikationsmodelle (z.b. Schulz von Thun) Konzepte systemischer Psychologie Konstruktionen von Wirklichkeit Weniger Annahme einer objektiven und allgemeingültigen Wirklichkeit als vielmehr einer persönlichen Schaffung derselben so viele subjektive Wirklichkeiten wie Subjekte Der Alltag ist voller individueller und sozialer Konstruktionen (z.b. Geschlechterrollen; Persönlichkeitsmerkmale) 10
Konzepte systemischer Psychologie Beziehung, Wechselwirkung, Rückkopplung Individuen befinden sich in ständiger Beeinflussung von und durch andere(n) Positive und negative Rückkopplung (Eskalation und Ausgleich) Man kann nicht beobachten ohne zu beeinflussen und beeinflusst zu werden > man ist immer Teil des Systems Konzepte systemischer Psychologie Grenzen, Koalitionen Systeme grenzen sich von ihrer Umgebung und somit auch von anderen Systemen ab Flexibilität und Durchlässigkeit dieser Grenzen ist stark unterschiedlich Binnengrenzen und Koalitionen innerhalb des Systems (z.b. zwischen Familienmitgliedern) 11
Konzepte systemischer Psychologie Ordnung und Chaos Ordnungs- und Kontrollparameter strukturieren das System Bspw. (Natur-)Gesetze, Regeln, kognitive Strukturen Übergänge Ordnung > Chaos > Ordnung Chaos als System-Verstörung und Chance der Neustrukturierung Vorteile der systemischen Betrachtung Umfassender Blick auf Phänomene Keine Ausblendung wichtiger Kontextfaktoren Wird den komplexen Realität der heutigen Gesellschaft am ehesten gerecht Durch therapeutischen Entstehungshintergrund Präsenz möglicher Veränderungsmechanismen Keine objektiven Wahrheiten, sondern Fragen nach Zusammenhang und Bedeutung 12
Nachteile der systemischen Betrachtung Gefahr der Vernachlässigung des Individuums und seiner intrapsychischen Realität Gefahr einer zu mechanistischen Sichtweise Gefahr einer Relativierung objektiver Phänomene durch Überbetonung konstruktivistischer Elemente Fazit: Warum die systemische Perspektive für dieses Seminar? 13