Geschichte der deutschen Prosaliteratur 3 Vorlesung SoSe 2007/2008 Mittwoch 16.00-18.00
Prosaliteratur Erzählliteratur: ältere Formen Erzähltexte Prosatexte erste große Form: das Epos / Heldenepos wichtige Ereignisse aus der Geschichte eines Volkes, Sagen über Heroen, Mythologie und Götterwelt zunächst mündlich überliefert formale Elemente: metrische Gliederung, Epitheta, Vergleiche, charakteristische Szene, Muster der Schilderung von Gegenständen, Festen, Spielen, Kämpfen usw. gr. Antike: Homer: Ilias und Odyssee (entst. 8. Jh. v. Chr., aufgezeichnet 6. Jh. v. Chr.) römische Antike: Vergil: Aeneis (1. Jh. v. Chr.) Vorbild für das lateinische Epos des Mittelalters germanische und keltisch-romanische Völker England: Beowulf (um 730) ältestes, vollständig erhaltenes E., heidnische + christliche Züge Island /Norwegen: die Edda (9.-13- Jh.) altfrz. chanson de geste Übergang vom Heldenepos zum höfischen Epos
Prosaliteratur Erzählliteratur: ältere Formen das höfische Epos: ritterlich-höfische Standeskultur ähnliche Stoffe und Themen Held = Ritter ritterliche Tugenden in Konfllikten zu bewähren, Entfaltung zur dem höfischen Ideal entsprechenden neuen Attitude Frankreich: Chrétien de Troyes: Artusepen (Erec, Yvain, Perceval, Lancelot) ( 1170-1190) Deutschland: Hartmann von Aue (um 1200): Erec, Iwein (Artusepik), Gregorius oder Der gute Sünder, Der arme Heinrich (legendenhafte Erzählungen) Wolfram von Eschenbach: Parzival das Nibelungenlied (um 1200) Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde (um 1210)
Prosaliteratur Erzählliteratur: ältere Formen Weiterleben des Epos Renaissance: auf der Grundlage erwachenden bürgerlichen und nationalen Bewußtseins Italien: Dante: Divina Commedia (um 1320); Ariost: Orlando furioso (1516/32); Torquato Tasso: La Gerusalemme liberata (1581) 17.-18. Jahrhundert /Aufklärung: Übersetzungen griechisch-römischer Epen + Versuche, das Epos fortzuführen Milton: Paradise lost (1667) Voltaire: La Henriade (1723) Klopstock: Der Messias (1748/73) 19. Jahrhundert: Entstehung von Nationalepen in einigen Ländern (z.b. Miczkiewicz: Pan Tadeusz [18343], Lönnrot: Kalevala [1835/49] weitere Versuche oft ironisch Dominanz der Prosa und des Romans in der Erzählliteratur Ablösung des Epos durch den Roman langer Prozeß, z.t. auch Zusammenleben, bzw. parallele Existenz Niederschlag in der Ästhetik Hegel: Epos totale Welt vs. Roman private Welt Goethe/Schiller: Über epische und dramatische Dichtung epische Dichtung = Epos, der Romanschreiber = der Prosaist Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung Romanschreiber = Halbbruder des Dichters
Prosaliteratur Erzählliteratur: der Roman Prosaliteratur: historisch verfolgbar erste Quellen: Inschriften, Verwaltungstexte Prosa als Mittel des chronikalischen Berichts, der Beschreibung oder Erörterung (Prosa und prosaisch!) Entwicklung der literarischen Prosa in der Antike: seit dem 6. Jh. v. Chr. griechische Prosa: Geschichtsschreibung (Herodot, Thukydides), wissenschaftlichphilosophische Texte (Heraklit, Demokrit, Hippokrates), Rhetorik Philosophie (Demosthenes, Sokrates, Xenophon, Platon, Aristoteles) hellenistische Periode (Alexandrien): Gelehrsamkeit, Bücher Erscheinung von neuen Formen/Gattungen (Brief, Reisebeschreibung, Biographie, Memoiren, Aphorismensammlung, Roman) entscheidende Wirkung auf die europäische Literatur zum ersten Mal: Trennung von Literatur der Elite / Literatur des großen Publikums lateinische Prosa: Cato, Cicero, Caesar; Kaiserzeit: Roman Roman der Antike: Hauptelemente Abenteuer (Heliodor: Aithiopike) und Liebe (Longos: Daphnis und Chloe); Apuleius: Metamorphosen (Der goldene Esel), Amor und Psyche
Prosaliteratur Erzählliteratur: der Roman Mittelalter: Prosa = Chronik ahd. Zeit: Glossen, Glossaren, Urkunden, Gesetze, religiöse Traktate 13-14. Jh.: große Leistungen (Meister Eckhart; Johannes von Saaz: Der Ackermann aus Böhmen; Luthers Bibelübersetzung ab 1524) vollkommene Ausbildung deutscher Prosa andere Linie: mündlich tradierte Mythen, Märchen der Volksdichtung europäische Literatur: Frankreich: seit dem 13. Jh. umfangreiche Bearbeitungen antiker und mittelalterlicher Versdichtungen ( roman = Text in der lingua romana ) andere Art der Bearbeitung tradierter Stoffe: Volksbücher großer Schritt: Boccaccio: Decamerone (1349/53) Novellensammlung als Vorläufer des Romans danach: Welterfolg des spanischen Romans (höfisch-galanter Roman, Schäferroman, Schelmenroman) Cervantes: Don Quijote (Parodie der Amadis- Romane 18. Jh.: Durchbruch der Prosa (frz. Lit.: Fénelon: Les aventures de Télémaque [1699]; England: empfindsamer Roman) zusammenfassende Feststellung zu den Entwicklungslinien des Romans: durch das Epos durch die Prosa, durch kleine Prosagattungen
Vorläufer zum dt. Roman: höfische Epik (keine Prosa, bedeutend für die Entwicklung der Erzählliteratur) Prosaliteratur Entwicklung der deutschen Prosasprache, Entstehung der dt. Unterhaltungsprosa Übersetzung frz. ritterlicher Versepen Volksbücher (Eulenspiegel, Fortunatus, Dr. Faustus) frühester dt. Romanschriftsteller: Jörg Wickram (~1505-~1560): Autor von Ritterromanen, lehrhaften Romanen (Der jungen Knaben Spiegel, 1554) im 16. Jh.: neue Einflüsse Übersetzungen französischer und spanischer Werke Übernahme europäischer Tendenzen
Erzählliteratur: der Barockroman Barockroman in Europa 17. Jh.: neue Formen, Typen Verbindung verschiedener europäischer Literaturen (keine Nationalliteraturen im heutigen Sinne) A) Schäferroman Sir Philip Sidney: Arcadia (1590) Honoré d Urfé: Astrée (1607) B) höfisch-historischer (heroisch-galanter) Roman Madeleine de Scudéry: Clélie (1554-1660) C) Schelmenroman / pikaresker Roman unbekannter Autor: Lazarillo de Tormes (1554) Mateo Alemán: Guzmán de Alfarache (1599; 1604) Le Sage: Le diable boiteux (1707); Gil Blas (1715)
Deutsche Romanautoren: Philipp von Zesen (1619-1689), Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633-1714), Daniel Caspar von Lohenstein (1635-1683) Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1621-1676) verarmtes Adelsgeschlecht, protestantische Bürgerfamilie Lateinschule in Gelnhausen Wirren des 30jährigen Krieges: Elternhaus zerstört, Flucht, Armeedienst, ab 1643 Regimentsschreiber 1648: Westfälischer Frieden quittiert den militärischen Dienst Pferde- und Weinhändler, Burgvogt, Gastwirt 1667-1676: Schultheiß in Renchen schriftstellerische Tätigkeit: vom Anfang der 1660er Jahre an Pseudonyme (Anagramme seines Namens, z.b. German Schleifheim v. Sulsfort, Melchior Sternfels von Fuchshaim u.a.) umfangreiches Oeuvre, erst im 19. Jh. wiederentdeckt
Grimmelshausens Hauptwerk: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, d.h. die Beschreibung des Lebens eines seltsamen Vaganten, genannt Melchior Sternfels von Fuchshaim (1668, mit der Jahreszahl 1669) Spiel mit der Autorschaft/mit Pseudonymen unter dem Pseudonym: German Schleifheim v. Sulsfort im Abschluß (nach dem Continuatio): Samuel Greifsson v. Hirschfeld Unterschrift des Abschlusses: H.I.C.V.G (=Anfangsbuchstaben des richtigen Namens
Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch Geschichte eines Jungen im 30jährigen Krieg, erzählt in 5 Büchern ohne Kenntnis seiner Herkunft wächst er als Namenloser bei einem Bauern im Spessart auf, den er für seinen Vater hält fremde Reiter Tortur und Plünderung Flucht in den Wald Einsiedler, Namengebung (Simplicius) Unterricht (lesen, schreiben) Glaubensunterricht Tod des Einsiedlers Wirren des Krieges Hofleben Narr Krieger Verbrecher (Jäger von Soest) Wirren, Krieg, Umhertreiben in der Welt Einsiedler auf der Insel, Niederschreiben seiner Lebensgeschichte Fortsetzung - Rückkehr
Simplicissimus-Roman: Form des Schelmenromans weist darüber hinaus, komplexe Auseinandersetzung mit dem Erzählmuster Picaro-Roman Simplicius wird nicht aus Abenteuerlust zum Vaganten, sondern durch die Schicksale des 30jährigen Krieges satirische Züge: Parodie des Schäferromans (I,2), Ständesatire Einteilung in 5 Büchern: 1. Buch: naturhaft-fromme Simplizität eines Bauernjungen und eines frommen Knaben (Einsiedlerkleid) 2. Buch: gewaltsamer Eintritt in das Treiben der Welt durch die Narrenkappe (Narrenkleid) 3. Buch: der Jäger von Soest (das grüne Jägerkleid) 4. Buch: Heirat (Geld, Glück), Reise nach Paris; Erfolge Krankheit: das Schicksalhafte des Glücks 5. Buch: Bekehrung aus Weltüberdruß und Weltenttäuschung Rückkehr zum Einsiedlertum auf einer höheren Ebene als bewußte Entsagung von der Welt 5 Bücher = klare Abfolge von Dummheit, Narrheit, Sünde, Strafe, Buße
Simplicissimus Erzähltechnik mehrfach verdeckte Autorschaft und Erzähler- bzw. Figurenrolle einsträngig geführte Handlung (Abenteuer- u. Schelmenroman) Ich-Erzählung Verdopplung: das erzählende Ich: der ältere Simplicius, der seine Identität kennt das erzählte Ich: der junge Simplicius aus dem Unterschied der beiden: Mehrwissen Kommentare, Erklärungen, gelehrte Bemerkungen (I, 9) Abstand des erzählenden vom erzählten Ich Reflexionsebene die Hauptfigur: der einfältige Simplicius eigentlich von edler Abstammung: Melchior Sternfels von Fuchshaim (auch Anagramme aus Grimmelshausens Namen!) barocker Widerspruch zwischen Sein und Schein
Simplicissimus Ebenen der Bedeutung historischer Sinn (der Erzählinhalt: historischer Hintergrund, Deutschland im 30jährigen Krieg) allegorischer Sinn (die Bedeutung: Phasen/Entwicklungsstadien des Menschenlebens) moralischer Sinn (die Anwendbarkeit: Möglichkeiten des Individuums, sich in den Wirrungen des Lebens moralisch zu behaupten) anagogischer /tropologischer Sinn (die Heilsbedeutung) allegorisch-symbolhatfe Elemente: symmetrisch angeordnet Traum von Ständebaum (I, 15-18): Gesellschaftsstruktur Jupiter-Episode (III, 3-6): prophetische Aussagen eines Narren von einem Teutschen Helden (Wunderschwert); ein deutsches Arkadien / Friedensreich nationale und christliche Wunschträume der Zeit Mummelsee-Allegorie (V: 10-17): Naturphilosophie der Simplicissimus-Roman als Entwicklungsgeschichte: umstrittene Frage
Fortsetzungen des Simplicissimus 6. Buch Continuatio Pilgerfahrt, letzte Weltfahrt, endgültiges, gottgefälliges Einsiedlertum auf einer Insel Simplicianische Schriften Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courache (1670): Fortführung /Gegenstück des Simplicissimus Der seltzame Springinsfeld (1670): Fortuna-Motiv des wechselnden Glücks Das wunderbarliche Vogel-Nest (I: 1672; II: 1675): unsichtbarmachendes Wundermittel, um die verkehrte, scheinverfallene Welt zu demaskieren Zusammengehörigkeit des Simplicissimus mit den Simplicianischen Schriften: Kompositions- und Zyklusfragen thematische Zusammengehörigkeit
Nachwirkung des Simplicissimus 17. Jh.: Simplicianische Nachahmungen Anfang 18. Jh.: Geschmackswandel barocker Stil Klarheit, Deutlichkeit, moralische Nützlichkeit (Gottsched) in Vergessenheit Mitte des 18. Jh.s: neue Hinwendung aus aufklärerischem Bildungsstreben Lessing wahrer Name des Autors: unbekannt Romantik: Ausdruck altdeutschen Volkstums Ironie und Satire des Werks: Anerkennung Motivquelle für eigene Werke (z.b. Alraune) 19. Jh.: Popularisierung Grimmelshausens wissenschaftliche Werkausgaben 20. Jh.: Weltkriege Aktualisierung (Bertolt Brecht; Thomas Mann; Hermann Hesse; Günter Grass)