Einleitung Deutschlehrerinnen und -lehrer wissen aus ihrer Unterrichtspraxis, dass mit dem Ende der Grundschulzeit der Lese- und Schreiblernprozess keineswegs abgeschlossen ist. Gerade zu Beginn der Sekundarstufe I wird deutlich, dass die Rechtschreibkompetenzen und die Lesefertigkeit der Schüler/innen häufig sehr stark voneinander abweichen und dass es Schüler/innen gibt, die noch massive Schwierigkeiten in basalen Bereichen des Schriftspracherwerbs haben. Hinzu kommt, dass bei manchen Schülerinnen und Schülern durch andauernde Misserfolgserlebnisse das Selbstbewusstsein und die Motivation stark beeinträchtigt sind. Genau für diese Zielgruppe ist diese Ausgabe des Methoden-Magazins konzipiert. Einzigartig ist hierbei das Zusammenspiel der Autorengruppe: auf der einen Seite Wolfgang Endres, der als der Experte für die Themen Lernmethodik und Lernmotivation gilt, auf der anderen Seite Susanne Keßler und Ulrike Kretschmer- Tenholt, die mit Sabine Gartz seit 1998 in acht I.D.L.-Instituten professionelle Diagnostik und Lerntherapie für lese-rechtschreibschwache Schüler/innenausüben. Die Erfahrungen von Wolfgang Endres und dem I.D.L.-Team aus den Lerntherapien, zahlreichen Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen fließen in dieses Methoden-Magazin ein. Konkrete Übungen mit den entsprechendenkopiervorlagen sind das Ergebnis. Diese können sowohl im Klassenverbund als auch im schulischen Förderunterricht oder im Rahmen des häuslichen Übens eingesetzt werden. Da der Erfolg jeglicher Fördermaßnahme eng mit einer vorhergehenden Analyse des»problems«verbunden ist, stellt das vorliegende Methoden-Magazin den Lehrerinnen und Lehrern Diagnose-Instrumentarien auf der formellen, aber auch auf der informellen Ebene vor. Durch eine qualitative Fehleranalyse wird deutlich, welche Falschschreibung wie zu bewerten und einzuschätzen ist und welche Fördermaßnahmen sich daraus ableiten lassen. Checklisten runden die Analyse ab, sodass die Lehrkräfte Gespräche über die Schullaufbahn mit den Eltern sehr fundiert führen können. Neben konkreten Übungen zur Steigerung der Lese- und Rechtschreibkompetenz dürfen aber auch Maßnahmen zur emotionalen Förderung der Schüler/innen nicht außer Acht gelassen werden, denn nicht erkannte oder nicht geförderte LRS-Schüler/innen werden ein sehr geringes Selbstwertgefühl entwickeln aufgrund ihrer Misserfolge und der Reaktionen ihrer Umwelt. werden auch in den anderen Fächern Misserfolge erleben, wenn zum Beispiel eine schlechte Rechtschreibleistung die Zensur einer schriftlichen Arbeit negativ beeinflusst. werden häufig als störend, unkonzentriert oder zappelig auffallen. werden erheblich häufiger unter psychischen Problemen leiden als andere Schüler/innen. Daher enthält dieses Methoden-Magazin neben Anregungen und Übungen zur Steigerung der Lese-/Rechtschreibkompetenz auch umfassende Einheiten zur Verbesserung der Konzentration und Motivation. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Umsetzung der einzelnen Einheiten. 7
Das Autorenteam Wolfgang Endres Referent inderlehrerfortbildung, Gründer des Studienhauses St.Blasien (www. endres.de), Mitbegründer und Koordinator des BeltzForums (www.beltzforum.de) Susanne Keßler Germanistin, Autorin und Redakteurin von Unterrichtsmaterialien, Gründerin von I.D.L., Institut für Diagnostik und Lerntraining (www.idlweb.de) Sabine Gartz Dipl. Psych.mit Weiterbildung in Klärungsorientierter Psychotherapie, Legasthenietherapeutin, Konzeptentwicklung und Fortbildungsreferentin für LRS/Legasthenie Ulrike Kretschmer-Tenholt Gymnasiallehrerin, Referentin in der Lehrerfortbildung, Gründerin von I.D.L., Institut für Diagnostik und Lerntraining (www.idlweb.de) 8
LRS im Unterricht 1 Ein Weg durch den Dschungel der Begrifflichkeiten Legasthenie oder LRS? 1.1 Legasthenie ist eine Krankheit und nicht heilbar, habe ich gelesen. Wofür steht eigentlich das S in LRS? Für Schwäche, Schwierigkeit oder Störung? Zum Glück hat meine Tochter nur eine LRS und keine Legasthenie. Legastheniker ist mein Sohn nicht. Der verwechselt schließlich keine Buchstaben! Diese Aussagen verdeutlichen die Unsicherheit, die bei Lehrkräften oder Eltern häufig besteht, wenn ein Kind Probleme beim Schriftspracherwerb zeigt. Diese Probleme treten in aller Regel schon in der Grundschule auf, werden aber dort nicht immer erkannt. Manchmal wird erst mit Beginn der Sekundarstufe I deutlich, dass die Lese- und Rechtschreibleistung eines Kindes deutlich unter dem allgemeinen Klassenniveau liegt. Ist dies nun eine Legasthenie oder»nur«eine LRS? Gibt es Unterschiede zwischen den Begriffen, und wenn ja worin bestehen sie? Zur Klärung: Die Lese-Rechtschreib-Störung (gemeinhin als Legasthenie bezeichnet) beschreibt ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiertes Störungsbild. Die Kriterien hierfür sind in der sogenannten ICD-10 festgeschrieben. Wichtiges Merkmal und dabei Hauptkritikpunkt an diesem Begriff ist, dassdie Fähigkeiten im Lesen und Rechtschreiben deutlich unter dem Niveau liegen müssen, das aufgrund des Alters und der Intelligenz eines Kindes zu erwarten wäre (Diskrepanzkriterium). Das heißt: Legasthenie ist keine Mode-Erscheinung, sondern eine international anerkannte medizinische Diagnose. 9
Eine schlechte Lese- und/oder Rechtschreibleistung allein reicht für eine Legasthenie-Diagnose nicht aus. Vielmehr müssen unzureichende Begabungsvoraussetzungen, eine unzureichende Beschulung, Hör- oder Sehstörungen sowie neurologische Erkrankungen ausgeschlossen sein. Die zu Beginn des Kapitels skizzierten Kommunikationsprobleme beruhen in erster Linie darauf, dass es sich bei dem Begriff Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) umeinenmedizinischen Fachbegriff handelt, an den bestimmte Definitionskriterien angelegt werden. Dieser medizinisch-fachliche Kontext ist jedoch in der Alltagskommunikation oder im schulischen Umfeld in der Regel nicht präsent, was zu Fehlinterpretationen führt. Wir werden im Folgenden den allgemeinen Begriff Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) verwenden: Eine LRS liegt dann vor, wenn die Leistungen eines Kindes im Bereich Lesen und/oder Schreiben deutlich unter dem allgemeinen Klassenniveau liegen. Der Begriff LRS sagt somit weder etwas über die etwaigen Ursachen noch über das Ausmaß der Probleme aus. 1.2»Es ist erst der Leser, der das Buch zum Buch macht, indem er es liest.«francis Pange Schulische Richtlinien und Erlasse In Anlehnung an den Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 4.12.2003 hat sich im schulischen Kontext der Begriff LRS im Sinne von Lese-Rechtschreib- Schwierigkeit bzw. -Schwäche durchgesetzt. Alle Schüler/innen mit»besonderen Schwierigkeiten beim Erwerb des Lesens und Schreibens«haben Anspruch auf individuelle schulische Förderangebote. Auch ein Nachteilsausgleich oder ein Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung können laut Beschluss in Betracht gezogen werden. Die im KMK-Beschluss formulierten Kann-Bestimmungen werden in den entsprechenden Richtlinien und Erlassen der einzelnen Bundesländer sehr unterschiedlich umgesetzt. So hält beispielsweise Bayern an dem medizinischen Legasthenie-Begriff fest: Schüler/innen, die durch Gutachten bestätigt unter dieser»schwer therapierbaren Krankheit«leiden, genießen hinsichtlich der Förderung, Leistungsfeststellung und Benotung einen anderen Status als Schüler/innen, die nur unter einer»vorübergehenden Lese-Rechtschreibschwäche«leiden oder deren Lese- und Rechtschreibprobleme in Zusammenhang mit einem»sonderpädagogischen Förderbedarf«stehen. In Nordrhein-Westfalen hingegen genügt es für Schüler/innen, dass ihre»leistungen im Lesen oder Rechtschreiben über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten den Anforderungen nicht entsprechen«, um zur Zielgruppe des Erlasses zu gehören. Der Geltungsbereich der länderspezifischen LRS-Erlasse ist nicht auf die Grundschule und das Fach Deutsch beschränkt. In den meisten Bundesländern gilt der Erlass für Schüler/innen der Klassen 1 bis 6 und»in besonders begründe- 10 LRS im Unterricht
ten Ausnahmefällen«auch für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 dies sowohl im Fach Deutsch als auch im Fremdsprachenunterricht. Eine Übersicht deraktuellenschulrechtlichenbestimmungen in den einzelnen Bundesländern findet sich unter: www.bvl-legasthenie.de/index.php5?p=/schule/legasthenieerlasse Bevor sich ein Kollegium der Aufgabe stellt, individuelle Förderkonzepte für Schüler/innen mit besonderen Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb zu erstellen, sollte es sich mit dem für das Bundesland gültigen LRS-Erlass vertraut machen. Wie die dort formulierten Vorgaben in der schulischen Praxis umgesetzt werden, kann dann das Ergebnis eines Beschlusses der Fachkonferenz sein. In diesem Beschluss können beispielsweise Kriterien dafür festgelegt werden, welche Schüler/innen unter den LRS-Erlass fallen (Auswahlkriterien), ob es an der Schule eine/n speziellen LRS-Beauftragte/n gibt, nach welchem Förderkonzept gearbeitet wird, wie der Förderunterricht evaluiert werden kann und wie die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen aussieht. Abb. aus: Eller, U./Grimm, W. (2008): Individuelle Lehrpläne für Kinder. Weinheim und Basel: Beltz. 11