ROSAROT war ihre Brille...

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Transkript:

Anabella Freimann ROSAROT war ihre Brille... Engelsdorfer Verlag Leipzig 2017 3

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig. Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-96008-937-7 Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Titelbild Frank Boston Fotolia Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de 4 8,90 Euro (D)

Inhalt Wie alles begann... 7 Ich bin eine Tinnitussi... 9 Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi... 16 Rote Rosen... 18 Ein Wartezimmer... 23 Ein Lächeltest... 26 Obdachlos... 29 Lächeln verboten?... 34 Die Stunde ist kostbar... 40 Die Begegnung... 46 Es war einmal... 48 Der Beginn und das Ende einer Freundschaft... 52 Schulgeschichten... 64 Sauna ohne Smartphone... 70 Allein sein... 74 Ein ganz normales Telefonat?... 79 Rosarot war ihre Brille... 84 Schlussakkord... 96 Nimm ab deine Maske... 98 Ein etwas anderer Lebenslauf... 99 5

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Wie alles begann Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka D amals war s. Im Sommer 2004. Ich lag im Wellnessbereich eines Hotels in Boltenhagen in einer Wanne. Sie war gefüllt mit warmem Wasser und stand in einem von Sonne durchfluteten Raum. Es handelte sich um eine besondere Wanne. Ihr Körper diente gleichzeitig als Lautsprecher und erzeugte faszinierende Vibrationen an meinem Körper bis hinein in meine Seele. Damals wurde die Idee zu meinem ersten Buch geboren. Mitten in der vollkommenen Entspannung wusste ich plötzlich: Ich muss endlich alles aus mir herausschreiben. Dann wird es mir besser gehen. Zu Hause angekommen, setzte ich mich an den PC und begann. Das Buch nannte ich: Darüber schreibt man nicht. Mit der Veröffentlichung wartete ich allerdings, bis ich in den Vorruhestand gehen konnte. Nach dem Erscheinen des schmalbrüstigen Büchleins so nannte es ein Buchhändler erzeugte es in meinem damaligen Heimatort einigen Aufruhr. Auch eine Bekannte war schockiert und meinte: Noch nie wurde hier in unserem kleinen Ort ein Buch veröffentlicht. Dich wird keiner mehr anschauen, du wirst von vielen gemieden werden. Auch, weil du über Erotik und Sex geschrieben hast und Lehrerin warst. 7

Sie sollte zum Teil sogar Recht behalten. Auch jetzt noch, nach so vielen Jahren, spricht man über mich hinter vorgehaltener Hand, wenn ich mit meinem Mann unseren ehemaligen Wohnort besuche. Im Vorwort meines ersten Buch-Kindes schrieb ich: Glaubt nicht, dass es in meinem Buch eine chronologische Reihenfolge geben wird. Ich bin die unruhige Zwillingsfrau. Und so unruhig und von Begebenheit zu Begebenheit springend, so erzähle und phantasiere ich auch. Liebe und Enttäuschung, Wahrheit und Phantasie, Realität, Legende und Märchen. Alles gehört zu mir, zur Herbstfrau, zu autumn woman. Diese Herbstfrau, damals 59 Jahre alt, hat inzwischen das siebente Jahrzehnt überschritten. Ich begebe mich mit diesem neuen Buch auf eine spannende Reise. Ich schreibe nach all den Jahren ganz anders, mit neuen Erkenntnissen und ohne die rosarote Brille, die ich lange nicht gewillt war, freiwillig abzunehmen. Vielleicht wird es für mich nicht immer angenehm sein, ach was, vielleicht ganz sicher wird es nicht angenehm werden. Es werden Erinnerungen geweckt, die man lieber vergessen möchte. Denn die rosarote Brille war manchmal ganz praktisch. Mehr noch: Sie verschönerte und verschleierte die Wirklichkeit, sie ließ mich oft von etwas träumen, das es in der Realität nicht gibt. Ob es mir gelingt, sie für immer im Schubfach zu lassen? Ich kann es nicht versprechen. Weil ich nun mal eine Brillenträgerin und Träumerin bin. 8

V Ich bin eine Tinnitussi iele Wege führen nach Rom sagt ein altes Sprichwort. Ich möchte hinzufügen: Viele Dinge führen zu einem Tinnitus. Doch viele Wege führen auch zum Akzeptieren eines solchen Störenfriedes, ja, sogar zu einem Leben mit ihm! Als ich die erste Version dieses Buches schrieb, war ich 59 Jahre alt und hatte noch ein Jahr als Grundschullehrerin vor mir. Ich hatte vier Enkelkinder und ich besaß etwas, das den Namen Tinnitus trägt. Wobei dieser Besitz keiner ist, auf den wir unbedingt stolz sein können. Natürlich, Sie wissen, was oder wen ich meine, den Tinnitus. Dieser Störenfried, diese Nervensäge, dieser Quälgeist, aber auch dieser Mahner, dieser Helfer, dieser nötige Begleiter! Zu den ersten drei Bezeichnungen hätte ich vor Jahren noch hinzugefügt: Warum quälst du mich so? Lass mich doch endlich in Ruhe leben! Ich hasse dich! Du bist mein Feind! Wie ist es möglich geworden, dass ich ihn, den Tinnitus, heute als meinen Schatten, meinen Begleiter ansehen kann? Ja, wie bloß? Irgendwann, als ich wegen dieser hässlichen Geräusche wieder einmal keinen Schlaf fand, kam mir die Erleuchtung: Wenn man schon solch einen unliebsamen Untermieter im Haus sprich Ohr hat, der einfach nicht von allein 9

gehen will, dann muss man sich notgedrungen mit ihm arrangieren. Und so ging ich daran, mit ihm den Mietvertrag zu überarbeiten. Die ersten Impulse dazu erhielt ich durch die deutsche Tinnitus-Liga. Ein Bekannter gab mir einige Exemplare des Tinnitus-Forums zu lesen. Und siehe, ich war nicht mehr allein. So viele andere hatten die gleichen Probleme. Schon allein diese Tatsache baute mich ungeheuer auf. Doch das allein reichte natürlich auf Dauer nicht aus. Die nächsten Schritte ging ich mit Hilfe meiner Familie und meiner Freunde. Sie wurden mir aber auch erst möglich durch das Zusammenwirken fähiger Ärzte und Therapeuten, wobei jeder einzelne für den Erfolg der Therapie wichtig war. Besonders wirksam erwies sich für mich während einer Reha neben den übrigen wichtigen Anwendungen vor allem die Audiokommunikation. Denn schon immer war ich besonders ansprechbar, wenn es sich um die richtige Musik handelte. Ich hatte eine Gefühlsmauer um mich errichtet, wie das viele Tinnitus-Menschen zu tun pflegen. Einfach, um allen Anforderungen gerecht werden zu können, um perfekt zu sein, um in allen Lebenslagen möglichst optimal zu funktionieren. Auf unsere ureigenen Wünsche, auf unser Ich achten wir dagegen sehr wenig oder gar nicht. Ist es bei Ihnen ebenso? 10

Oder vielleicht sind Sie schon einen Schritt weiter auf Ihrem Weg? Die Musik, unter deren positivem Einfluss ich bei der Audiokommunikation stand, zeigte bei mir anfangs eine verheerende Wirkung. Sie brachte etwas zustande, wozu ein anderes Medium wahrscheinlich längere Zeit benötigt hätte. Ich möchte versuchen, das folgende Geschehen bildhaft darzustellen, aber nicht mit Pinsel und Farbe, sondern mit Worten: Meine Mauer hatte schon die ersten kleinen Haarrisse bekommen, bevor ich die Klinik betrat. Denn der Hausarzt, die Fachärzte und der Seelendoktor hatten vorgearbeitet. Als ich in der Empfangshalle der Klinik stand, bekam ich sofort das Gefühl, hier von allen Seiten weitere Hilfe zu erhalten. War ich darüber aber froh? Oh nein, ganz im Gegenteil, ich bekam es mit der Angst zu tun. Es war wohl Angst vor einem eventuellen Zulassen, oder einfach die Angst vor Veränderungen. Bei dieser ersten Audiokommunikationssitzung öffneten sich meine Tränenschleusen, die lange von mir zugestopft worden waren, wie von selbst. Die Morgenstimmung von Edward Grieg war der Auslöser dafür. Man sollte nach dem Anhören der Musik über seine aufkommenden Gefühle sprechen. Es schien allen anderen Patienten überhaupt nichts auszumachen. Und wie stand es mit mir? Einer nach dem anderen kam an die Reihe. Noch drei, noch zwei, noch einer 11

vor mir. Jetzt schauten alle auf mich. Ich spürte, dass da etwas aus mir herauswollte, ohne auf meine Zustimmung warten zu wollen. Nein, das musste ich verhindern. Mit allen Mitteln. Aufstehen und das Zimmer verlassen? Meine Beine gehorchten mir nicht. Ich schien wie durch eine imaginäre Gewalt auf meinem Stuhl festgebannt zu sein. Also andere Variante. Oft genug hatte ich sie erfolgreich angewendet. Wenn die Tränen wieder einmal ungerufen kommen wollten, versetzte ich mich stets künstlich in eine Art Faschingsstimmung. Ich reimte dann sogar: Regina singt, Regina lacht, die Tränen haben keine Macht! Doch es nützte diesmal nichts, rein gar nichts. Nichts war mehr mit Fasching, denn das Maß der ungeweinten Tränen war endgültig voll. Ich weinte und weinte und konnte vor diesen fremden Menschen nicht mehr aufhören zu weinen. Schrecklich fand ich das. Kein einziges Wort bekam ich über die Lippen. Oder doch, mühsam quälten sich drei Worte aus meinem Mund: Ich kann nicht!, hießen sie. Nun, ich musste auch nicht können. Ich durfte nach der Therapie weiterweinen. Sehr einfühlsam ging die Therapeutin auf mich ein. Trotzdem fühlte ich mich wieder einmal als rechter Waschlappen, als Heulsuse. In den weiteren Therapiestunden vertieften sich die kleinen Risse in meiner Gefühlsmauer schnell, und nach etwa zwei Wochen stürzte die Mauer vollends 12

ein. Meine Materialkenntnis erwies sich als ungenügend, zum Glück für mich. Jeder Maurer weiß: Ohne richtiges Fundament hält kein Stein auf dem anderen. Und dieser Gefühlsmauer fehlte von Anfang an das entsprechende Fundament. Ein Zugang zu meiner Seele wurde frei. Nun schaufelten alle Ärzte und Therapeuten der Tinnitus-Klinik, später noch einmal die der Klinik in Arolsen, gemeinsam die Steinreste beiseite. Einen nach dem anderen. Hartnäckig versuchte ich jedoch immer wieder, mich hinter der Mauer, die gar nicht mehr vorhanden war, zu verstecken. Denn ich hatte Angst vor dem, was da Neues auf mich zukommen könnte. Ich hatte Angst vor einem Leben mit mir selbst. Angst vor dem Etwas, das mir zuraunte: Lasse den Beruf nicht mehr zur Hauptsache in deinem Leben werden! Tu doch einfach, was dir Spaß macht! Oder: Heul doch los, wenn du traurig bist! Nein, nur das nicht! Tat man dies, könnte man ausgelacht, nicht mehr geliebt werden, es könnte schlecht über einen geredet werden, und man müsste sich wieder selbst beschimpfen. Diesen Teufelskreis kennen wir Tinnitusmenschen doch zur Genüge. Wenn aber die Seele den Körper um Hilfe anfleht und der Körper darauf mit Kranksein reagiert, muss man plötzlich Zeit für sich haben. Unter Umständen sogar viel davon. 13

All diese Warnsignale wollte ich nicht hören. Aber gesund wollte ich doch werden! Lange dauerte es, bis ich selbst mithalf, die Steine meiner Mauer wegzuräumen. Zuerst nur kleine Stückchen, dann auch größere, schwerere. Ich musste es tun, sonst wäre ich nie gesund geworden. Ich war nun bereit für eine Neuorientierung in meinem Leben. Es musste sehr vieles bei mir anders werden. Ich musste viel Geduld mit mir haben, bis ich meine Belohnung erhielt Meine Belohnung bestand darin, dass ich nach vielen Jahren plötzlich darangehen konnte, meinen Kindheitstraum zu verwirklichen: Ich wagte es einfach, ohne dass mir jemand half, Bilder zu malen. Nein, das wäre nur die halbe Wahrheit: Einer half schon, und das war der Tinnitus! Doch wie sah diese Hilfe aus? Nahm er mir meine Arbeit ab? Oh nein, er war unbequem, er ließ sich nicht verjagen, und er schwieg auch nicht auf Kommando. Aber er brachte mich auf meinen Weg. Geduldig, hartnäckig, fordernd. Je nachdem Durch das Malen und jetzt auch durch das Schreiben habe ich meine eigene Therapieform gefunden: Gesund werden durch Schreiben und Malen. Inzwischen bin ich 72 Jahre alt geworden. Die Enkelzahl hat sich auf sechs erhöht. Und das erste Urenkelchen erblickte vor einem Jahr das Licht der Welt. Ich schaue auf mein Leben zurück und freue mich über jeden neuen Tag. Mein Tinnitus begleitet 14

mich, aber oft werde ich von ihm ausgeschimpft. Er mag nämlich die rosarote Brille gar nicht leiden! 15

D 16 Leben ist Zeichnen ohne Radiergummi iesen Satz las ich unlängst irgendwo. Er hat mich zum Nachdenken gebracht. Wenn ich mit meinen Nachmittagsschülern ein Bild malte, versuchte ich sie langsam dazu zu bringen, wenig oder gar nichts vorzuzeichnen. Die wenigsten hielten sich daran. Nun, dazu sind es ja noch Kinder, schließlich wollen sie sich ausprobieren. Und das Wort der Lehrerin ist für sie nicht das Amen in der Kirche, zum Glück!. Ich gab ihnen praktischen Unterricht und zeigte ihnen, was passieren kann. Beim Radieren bekommt das Zeichenpapier Risse oder Knicke, im besten Fall bleibt das Papier heil, aber der Bleistiftstrich lässt sich nicht vollends löschen. Und dann probierten sie es selbst. Ich ließ sie gewähren. Sie mussten schließlich ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Das von uns selbst gezeichnete Leben, jeder einzelne Strich, jede Linie, ob nun gerade oder geschlängelt, Erlebnisse, die man gern ungeschehen machen möchte, egal was es ist, es lässt sich einfach nichts löschen. So ist es ja auch mit den Lebenslinien, die sich in die Handfläche eingegraben haben. Angeblich kann man da auch einiges erkennen, zumindest behaupten das die Wahrsager.

Ich denke aber, kein Mensch zeichnet nur Schönes, das er immer wieder gerne ansieht. Dazu ist er zu sehr Mensch. Irren ist menschlich, Fehler machen ist menschlich. Und aus Fehlern, sprich der jeweiligen Lektion, wird man klug oder zumindest klüger. Oder man muss sie immer und immer aufs Neue absolvieren, bis man daraus gelernt hat. Ich kann fürwahr davon ein Lied singen Also schauen wir ruhig unser Lebens-Zeichenblatt ab und zu kritisch an und sagen uns: Diese Linie sollte ich zukünftig möglichst vermeiden und an dieser Skizze könnte ich weiterarbeiten. Aber bitte vorher die sprichwörtliche rosarote Brille abnehmen. Wenn dann doch der eine oder andere Strich daneben geht was soll s! Das Leben geht weiter, aber eben ohne Radiergummi. Und mal ehrlich, wenn es ginge, ich meine, das Begebenheiten-Wegradieren, dann gäbe es sicher keine Radiergummis in den Geschäften zu kaufen, oder sie wären zu teuer oder ein Konzern hätte sich längst des Radiergummivertriebs bemächtigt. 17

18 Rote Rosen Es kann Dir jemand die Tür öffnen, aber hindurchgehen musst Du selbst. Konfuzius G estern hatte ich einen sehr schlechten Tag. Schon am Morgen kam ich nur mit Mühe aus dem Bett. Neun Uhr sollte der Reha-Sport im Nachbarort beginnen. Ich hatte keine rechte Lust, aber da ich schon das letzte Mal krank gewesen war, konnte ich doch nicht schon wieder kneifen? Also raus aus den Federn und erst mal frühstücken. Vielleicht würde dieses Mal alles für mich besser ablaufen. Dann schnell Tasche packen, die Hörgeräte nicht vergessen und das Auto starten. Ich kam als Letzte an. Gut, einer muss der Letzte sein. Aber mir war das peinlich. Denn alle standen schon in der Halle, schrieben sich in die Teilnehmerliste ein und legten ihre Matten und Trainingsgeräte bereit. Sie waren guter Dinge und schienen sich auf das Training zu freuen. Ich aber nicht. Im Stillen dachte ich nur das Eine: Hoffentlich geht die Stunde schnell vorbei und hoffentlich macht mein Gehör heute mit. Ich mag diese riesengroße Halle ohne die geringste Schallisolierung sowieso nicht. Seltsamerweise scheine ich die einzige zu sein, die dieser Umstand stört. Dann begann das Training. Für mich persönlich spricht Steffi zu leise. Auch deshalb hatte ich gleich

anfangs darum gebeten, den Platz ganz vorn neben ihr einnehmen zu dürfen mit dem Hinweis auf meine Hörprobleme. Doch das nützt nicht viel. Ich muss mich in dieser Stunde immer derart konzentrieren, dass Kopfschmerzen vorprogrammiert sind. Ich versuche krampfhaft, Steffi alle Anweisungen vom Mund abzulesen. Wenn sie mir den Rücken zuwendet, funktioniert das natürlich nicht. Und ich möchte auch keine Sonderstellung einnehmen. Christine, die neben mir steht, sagt: Guck dir doch einfach ab, was die anderen machen. Zwei, die die Situation wohl mitbekommen haben, mischen sich ein. Was du bloß immer hast mache einfach mit und wenn s falsch ist, dann ist das doch egal! Das kann ich nicht akzeptieren. Denn ich möchte doch alles richtig machen. Herr Tinnitus meldet sich nun auch noch mit seinen lauten Tönen. Ich weiß, es ist das alte Lied, das sich durch mein ganzes Leben zieht. So bin ich nun mal erzogen worden: Allem gerecht werden, was man von mir verlangt, alles hundertprozentig erledigen, nur nicht auffallen und so weiter. Ich fragte mich wieder einmal wie schon so oft: Warum können die anderen alles so gut verstehen? Warum stehe ich bei solchen Kursen immer außen vor? Schon so oft habe ich versucht, andere Kurse wie zum Beispiel Tai Chi oder Englisch bis zu Ende durchzustehen. Keine Chance. Nun also wieder das 19

gleiche Muster. Die Trainerin, die wohl meinen Kampf mit den Tränen erkannt hat, meint: Sieh das doch mal als Herausforderung an! Leicht gesagt. Eine Stunde lang versuche ich nicht zu weinen. Doch die Musik arbeitet dagegen. Ich verlasse die Halle vorzeitig, weil ich mich einfach meiner Tränen wegen vor den anderen schäme. Zu Hause wollte ich mich ablenken und versuchte, mich bei Secondlife einzuloggen. Das ist für mich immer Entspannung pur. Doch es gelang mir nicht. Ein Update hilft vielleicht? Fehlanzeige. Ich kam nicht hinein in meine virtuelle Welt. In dieser Situation rief meine große Enkelin an. Sie versuchte mich zu trösten, aber sie hatte mit ihren lieben Worten wenig Erfolg. Am Abend war dann alles wieder einigermaßen in Ordnung in Secondlife und in meinem Kopf ebenfalls. Internet- und Seelenprobleme ade. Und der Tinnitus schwieg. Am nächsten Tag belohnte ich mich selbst mit einem ausgedehnten Saunabesuch. Es war wieder wie immer Entspannung pur. Schöne Aufgüsse warteten auf mich und dann ab ins Tauchbecken einfach herrlich! Als ich nachhause kam, stand ein großes Paket in meinem Zimmer. Ich öffnete es mit Spannung. Mein Mann stand neben mir. Was kann das sein? Eigent- 20