Wissenswert. Kleiner Piks mit großen Folgen (2) Warum das Militär Impfstoffe entwickelt. Von Utz Thimm. Dienstag, 19.01.2010, 08.



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Transkript:

Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Kleiner Piks mit großen Folgen (2) Warum das Militär Impfstoffe entwickelt Von Utz Thimm Dienstag, 19.01.2010, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecher: Utz Thimm 10-007 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

Seite 2 Wenn es um Impfungen geht, beginnen die Geschichtsbücher immer mit Edward Jenner und seiner Pockenimpfung; die hatte er bereits 1796 entwickelt. Aber diese Pockenimpfung war eine spezielle Lösung für eine spezielle Krankheit, für die Pocken. Jenner und seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert war noch nicht klar, dass man auch gegen andere Krankheiten impfen kann, erzählt Wolfgang Eckart, Professor für Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. O-Ton 1, Prof. Wolfgang U. Eckart, 43 : Die ersten Impfversuche, die Edward Jenner gegen die Pocken durchgeführt hat, erfolgreich durchgeführt hat, basierten noch nicht auf der Vorstellung, dass es sich hierbei um ein allgemeines Prinzip der Immunisierung, so wie wir das heute verstehen, handeln würde. Jenner war ganz einfach nach dem empirischen Prinzip des trial and error vorgegangen, also des Versuchs und des Misserfolgs. Und er hatte Erfolg dabei. Er hat in den ersten Versuchen einen abgeschwächten Erregerstoff auf Kinder verimpft, der dann tatsächlich dazu geführt hat, dass diese Kinder vor der menschlichen Pockeninfektion geschützt waren ohne dabei aber zu ahnen, dass er damit die Geschichte eines Prophylaxe- Prinzips beginnt. Jenner hat die Pockenimpfung zwar bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. Aber warum sie funktioniert und was Pocken überhaupt sind, das blieb das ganze 19. Jahrhundert hindurch unklar. Deswegen gab es in den ersten achtzig Jahren nach Jenner auch keine weiteren Impfstoffe. Heute weiß man: Bei der Pockenimpfung werden abgeschwächte Pockenviren übertragen, an denen das menschliche Immunsystem die Konfrontation mit richtigen Pockenviren schon einmal üben kann. Die Impfstoffe, die dann Emil von Behring

Seite 3 mit seinem japanischen Mitarbeiter Kitasato Anfang der 1890er-Jahre gegen Diphtherie entwickelte, funktionieren dagegen nach einem ganz anderen Prinzip. O-Ton 2, Prof. Wolfgang U. Eckart, 45 : Die von von Behring entwickelten Impfstoffe, seine Serumimpfstoffe, bedeuteten gleichzeitig den Einstieg in eine neue Ära der Impfung, dadurch, dass hier zum ersten Mal passiv geimpft wurde. Passive Schutzimpfung bedeutet ja im Gegensatz zur aktiven Schutzimpfung, dass nun nicht mehr mit Toxinen oder mit abgeschwächten Erregern geimpft wird wie bei der aktiven Schutzimpfung, sondern dass mit den Antitoxinen, die entweder der menschliche Organismus gebildet hat oder ein tierischer Organismus, der vorher infiziert worden ist, dass man mit diesen Antitoxinen impft, das heißt, mit dem Serum, das der Körper selbst entweder ein menschlicher oder ein tierischer Körper produziert hat die Schutzstoffe gegen die Erkrankung auf den Menschen verimpft. Die Schutzstoffe sind in Blutserum enthalten. Um etwa einen Impfstoff gegen Diphtherie zu gewinnen, spritzte Behring Pferden Diphtherie-Erreger in ständig steigenden Dosen. Die Pferde produzierten Schutzstoffe gegen Diphtherie, die erwähnten Antitoxine. Dann nahm Behring den Pferden Blut ab und ließ die roten Blutkörperchen sich absetzen. Die darüber stehende gelbliche Flüssigkeit ist das Blutserum, das Behring als Impfstoff verwendete. Weil der erste passive Impfstoff sich gegen Diphtherie richtete, wurde Emil von Behring bald als Retter der Kinder gerühmt. Aber Behring kam vom Militär, er war Sanitätsoffizier im Rang eines Hauptmanns gewesen. O-Ton 3, Prof. Wolfgang U. Eckart, 26 :

Seite 4 Im militärischen Zusammenhang ist die Wundinfektion durch Tetanuserreger von besonderer Bedeutung nicht in Friedenszeiten, sondern in Kriegszeiten, in dem Moment, wo Soldaten massiv mit der Erde in Berührung kommen, wo sich Wunden infizieren können. Da können auch die Sporen eindringen in diese Wunden und dann zu dem gefürchteten Tetanus führen. Das passiert in Friedenszeiten nur relativ selten eigentlich, im Krieg ist das ein massives Problem. Behring hatte in den 1890-Jahren auch eine Tetanusimpfung entwickelt, aber die war in Friedenszeiten von untergeordneter Bedeutung geblieben. Das Problem mit solchen passiven Impfstoffen ist nämlich, dass der Körper des Geimpften die übertragenen Schutzstoffe nach ein paar Wochen bis Monaten abgebaut hat. Länger hält der Impfschutz nicht vor. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde dann für die Armeeführung unerwartet Tetanus plötzlich zu einem gewaltigen Problem, sagt Wolfgang Eckart. O-Ton 4, Prof. Wolfgang U. Eckart, 49 : Es bedurfte erst Hinweisen von Behring selbst an die Armeeführung, dass hier doch nun massiv seine Tetanusimpfung, sein Tetanusserum einzusetzen sei. Und zur Produktion hinreichender Mengen von Tetanusserum, die dann auch an der Westfront und an der Ostfront eingesetzt werden konnten, kam es dann erst im Verlaufe des zweiten Kriegsjahres, das heißt, im Verlaufe des Jahres 1915. Die große Schwierigkeit bestand darin, für die Truppen hinreichend viel Tetanusserum herzustellen. Die Serumproduktion, vor allen Dingen in den Marburger Behring-Werken, musste erst in Gang kommen. Und sie lief dann auf vollen Touren am Ende des Jahres 1915, im Übergang zum dritten Kriegsjahr. Und die Erfolge waren durchschlagend.

Seite 5 Die Tetanus-Schutzimpfung wurde zu einer großen Erfolgsgeschichte der Militärmedizin im Ersten Weltkrieg, Behring zum Retter der Soldaten. Und das nicht nur auf deutscher Seite: Auch die anderen Kriegsparteien begannen mit der Impfstoffproduktion. Auf allen Seiten der Front wurden Soldaten, sobald sie sich verletzt hatten, sofort und mehrfach geimpft; US-amerikanischen Soldaten wurde in diesem Fall mit Jod ein großes T für Tetanus auf die Stirn gemalt, kanadische Soldaten bekamen das Zeichen auf das Handgelenk gemalt. Allein vom britischen Heer sind während des Krieges zehn Millionen Dosen Tetanusserum ausgegeben worden. Unbefriedigend aber blieb, dass man die Soldaten erst nach ihrer Verletzung impfen konnte. Man konnte sie nicht vorab gegen Tetanus impfen und dann in den Krieg schicken. Eine aktive Impfung gegen Tetanus hat erst der Zweite Weltkrieg gebracht. Daher war die Schutzimpfung gegen Typhus die erste aktive Impfung, die in großem Maßstab angewendet wurde sieht man vom Sonderfall der Pockenschutzimpfung ab, von der auch im Ersten Weltkrieg immer noch nicht verstanden war, warum sie funktionierte. O-Ton 5, Prof. Wolfgang U. Eckart, 1'04 : Eine der großen Kriegsseuchen, die man in den Kriegen des 19. Jahrhunderts, vor allen Dingen dann auch im deutsch-französischen Krieg, gelernt hatte zu fürchten, das war der Typhus. Typhus das ist eine Infektion mit einem Salmonellen-Erreger entsteht immer dann, wenn die hygienischen Verhältnisse, eben besonders in Kriegszeiten, nicht so sind, dass man von Sauberkeit sprechen kann. Soldaten befinden sich permanent im Schmutz. Sie sind umgeben von Latrinen, wenn sie sich nicht schnell vorwärts bewegen. Das heißt, sie kommen mit ihren eigenen Ausscheidungen in Verbindung, die sie dann wieder an den Händen tragen,

Seite 6 damit Nahrungsmittel infizieren. Man stelle sich eine Feldküche vor, in der Soldaten arbeiten, die mit solchen Salmonellen in Berührung gekommen sind. Sie haben sehr schnell Masseninfektionen von Salmonellen. Und diese Masseninfektionen haben noch im deutsch-französischen Krieg dazu geführt, dass mehr Soldaten an den Infektionskrankheiten denn an den Verwundungen gestorben sind. Die Typhusschutzimpfung ist praktisch gleichzeitig in Deutschland von Richard Pfeiffer und Wilhelm Kolle sowie in Großbritannien von Sir Almroth Wright entwickelt worden, wobei Wright die deutschen Kollegen beschuldigte, seine Idee geklaut zu haben. Pfeiffer und Kolle wiesen in ihrer ersten Veröffentlichung sofort auf die militärische Verwendbarkeit hin, Wright arbeitete zu dem Zeitpunkt sowieso fürs Militär. Ausprobiert worden sind die neuen Impfstoffe eigentlich immer an zwei Bevölkerungsgruppen, die sich schlecht wehren konnten: an Soldaten und an den Bewohnern der Kolonien, die man in Europa für rassisch minderwertig hielt. O-Ton 6, Prof. Wolfgang U. Eckart, 45 : Impfversuche an Soldaten oder Impfversuche etwa an der kolonialen Peripherie verfolgen natürlich ein allgemeines Prinzip. Hier hat man eine Bevölkerung vor sich, die sich in einer ganz besonderen Situation befindet, nämlich in der Situation der Abhängigkeit. Das ist bei den Soldaten so. Soldaten funktionieren nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Das gilt auch auf dem Feld des medizinischen Experiments. Und diese ersten großen Einsätze von Impfstoffen seien es nun aktive oder passive Impfstoffe sind eigentlich als Großversuche zu werten an Menschen, die eines Teiles ihrer freien Willenskraft beraubt sind. Das sind Soldaten. Die Briten erprobten ihren Typhus-Impfstoff im Burenkrieg in Südafrika, dann in

Seite 7 Ägypten und Indien, die Franzosen verfuhren genauso in ihren Kolonien in Nordafrika. Und auch die Deutschen erprobten vor dem Ersten Weltkrieg die neue medizinische Technik in einer ihrer Kolonien. O-Ton 7, Prof. Wolfgang U. Eckart, 1'09 : nämlich in Deutsch-Südwestafrika. Deutschland war ja nicht völlig frei von Kriegen in der Zeit zwischen dem deutsch-französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg, sondern was wir immer vergessen, sind die vielen Kolonialkriege, die geführt worden sind. Und der größte Kolonialkrieg insgesamt, das war der Krieg gegen die Herero und Nama, der zwischen 1904 und 1907 in Südwestafrika stattfand. Da erinnerte man sich an die Versuche, gegen Typhus zu impfen, man befand sich auch in einer Region, in der Infektionen mit Typhus sehr häufig vorkamen. Und da sind zum ersten Mal deutsche Soldaten, Schutztruppensoldaten auf Befehl des Oberkommandos der Schutztruppen zu Tausenden gegen Typhus geimpft worden. Und tatsächlich ist es gelungen, mit dieser aktiven Impfmaßnahme die Typhusinzidenz, das heißt also die Anzahl der Soldaten, die dann wirklich an Typhus erkrankten, dramatisch zu senken. 65 Millionen Männer haben insgesamt im Ersten Weltkrieg gekämpft. Sieht man von den unvermeidlichen Anlaufschwierigkeiten der ersten Jahre ab, so wurden sie fast alle gegen Typhus geimpft, viele auch gegen Cholera. Russische und osmanische, deutsche und österreichisch-ungarische, französische, britische und US-amerikanische, australische, kanadische und neuseeländische Soldaten wurden geimpft. Dabei handelte es sich immer noch um einen Großversuch, denn die Impfstoffe waren anfangs unsteril und zeigten schwere Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen. Während des Krieges wurden sie laufend verbessert. Impfungen gegen Typhus und Cholera sind aktive Impfungen mit

Seite 8 abgeschwächten oder abgetöteten Krankheitserregern, also der Typ von Impfungen, der heutzutage vorherrscht. Sofern sich die Soldaten verletzten oder verwundet wurden, wurden sie aber auch mehrfach gegen Tetanus geimpft, also einer passiven Impfung. Der Erste Weltkrieg markiert den Zeitpunkt in der Geschichte, zu dem zum ersten Mal Millionen von Menschen geimpft worden sind, sieht man einmal von der ganz anders gearteten Pockenschutzimpfung ab, bei der der Impfstoff nicht mit einer Spritze injiziert, sondern mit einer Nadel in die Haut geritzt wird. O-Ton 8, Prof. Wolfgang U. Eckart, 1'16 : Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt tatsächlich eine neue Qualität in der Geschichte der Immunisierung gegen Infektionskrankheiten, einerseits durch den massiven Einsatz des bekannten Typhus-Impfstoffes, eines aktiven Impfstoffs, andererseits durch den ersten Masseneinsatz von passiven Immunisierungsmöglichkeiten, also von passiven Immunsera gegen den Tetanus. Das ist einerseits für die Medizin der Eintritt in eine neue Ära, andererseits auch für die Akzeptanz moderner Medizin eine vollkommen neue Ära. Diese Soldaten, die da zu Hunderttausenden, zu Millionen geimpft worden sind gegen Tetanus, brachten ja das Wissen um eine erfolgreich immunisierende, eine erfolgreich schützende Medizin, dann wenn sie überlebten aus den Schützengräben aus dem Ersten Weltkrieg mit in die Bevölkerung. So dass man sagen kann, dieser Erste Weltkrieg bedeutet auch einen massiven Schritt in eine Medikalisierung der Bevölkerung, Medikalisierung in dem Sinne, dass Soldaten in großer Zahl mit medizinischen Maßnahmen in Kontakt kamen, mit ihnen vertraut wurden und auch sehen konnten, dass sie erfolgreich waren. Im 19. Jahrhundert rechnete die Armeeführung auf einen Soldaten, der durch Waffen starb, sechs Soldaten, die an Krankheiten starben. Im Ersten Weltkrieg starben dagegen weitaus mehr Soldaten an ihren Wunden als durch

Seite 9 Krankheiten so zynisch das klingt: Aus Sicht der Militärmediziner war das ein gigantischer Erfolg. Mit dem Ersten Weltkrieg hat sich das Bild des Arztes gewandelt. Er war nicht mehr nur der Mensch, der Krankheiten behandelt. Ein Arzt konnte jetzt auch Krankheiten vorbeugen. Und das Militär ist seitdem ein bedeutender Auftraggeber für die Entwicklung neuer Impfstoffe geblieben. Die erste funktionierende Influenza-Schutzimpfung verdanken wir zum Beispiel der US-Armee, sie entstand im Zweiten Weltkrieg.