Kindeswohl und Kinderschutz in der Erziehungsberatung Fachtag der LAG Schleswig-Holstein 12.11.2015 1
Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Es gibt keine allgemeingültige Definition. Abhängig vom kulturell und historisch geprägten Menschenbild und Wertegefüge. Kindeswohl ist kein beobachtbarer Sachverhalt, sondern ein rechtliches und normatives Konstrukt. Eindeutigkeiten sind selten, Interpretationsspielräume groß. 2
Kindeswohl was gehört dazu? Körperliche Zufriedenheit durch Nahrung, Pflege und Versorgung Sicherheit in körperlicher und seelischer Hinsicht Emotionale Zuwendung in stabilen sozialen Beziehungen, im Kern sichere Bindungen Altersgemäße Förderung der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten (AGJ 2008) 3
Wer ist für Kindeswohl zuständig? Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (Artikel 6 Abs.2 GG, gleich lautend in 1 Abs. 2 KJHG) Annahme: (dass) in der Regel Eltern das Wohl ihrer Kinder mehr am Herzen liegt, als irgend einer anderen Person oder Institution. (BverfGE 1959) 4
Grenzen des Wächteramts Dabei gehört es nicht zum staatlichen Wächteramt, für eine den Fähigkeiten des Kindes angemessene Förderung zu sorgen; vielmehr gehören die Eltern und deren sozioökonomischen Verhältnisse zum Lebensrisiko eines Kindes. (Paland 2006, Randziffer 15 zum 1666 BGB) 5
Wo beginnt Kindeswohlgefährdung? Definition Kindeswohlgefährdung: Eine gegenwärtige in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei weiteren Entwicklungen eine erhebliche Schädigung voraussehen lässt. (BGH, FamRz 1956) 6
Prognosen und Vorhersagen Prognosen und Vorhersagen sind immer etwas unzuverlässig, vor allem, wenn sie sich mit Zukunft beschäftigen. Niels Bohr, Atomphysiker 7
Lebenslagen von Kindern Normale Lebenslage Das Wohl des Kindes ist ausreichend berücksichtigt belastende Lebenslage Nicht-Gewährleistung des Kindeswohls Anspruch auf Hilfen nach 27 SGB VIII (berechtigt, nicht verpflichtet) gefährdende Lebenslage Kindeswohlgefährdung Legitimationsgrundlage für staatliches Eingreifen 8
Vom Kindeswohl zur Kindeswohlgefährdung? Die Übergänge zwischen normalen, belastenden oder gefährdenden Lebenslagen eines Kindes sind fließend. Gefährdungseinschätzung als Versuch der Unterscheidung 9
Bundeskinderschutzgesetz Beratungsstelle BKiSchG Art 1 Art. 2 Art. 3 Art. 4 Art. 5 Art. 6 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Änderungen SGB VIII Änderung anderer Gesetze Evaluation des BKiSchG Bekanntmachung Inkrafttreten 10
Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) Frühe Hilfen als Kern der Angebote zur Unterstützung von Eltern Verbindliche Netzwerke Handlungsund Rechtssicherheit Verbindliche Standards im Kinderschutz
4 KKG: Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung Ausweitung des Schutzauftrages auf andere Berufsgruppen (Ärzte, Psychologen, Berater, Sozialpädagogen, Lehrer ) im Sinne einer Befugnisnorm. 12
4 KKG: Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung Handeln bei Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdung: Situation erörtern und auf Hilfen hinwirken. Anspruch auf Beratung durch insoweit erfahrene Fachkraft. Das Jugendamt darf informiert werden, wenn die eigenen Bemühungen erfolglos waren. Darüber sollen die Betroffenen informiert werden, sofern der Schutz des Kindes nicht in Frage gestellt ist. 13
Statistik zur Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung 2014 (Angaben in Prozent) 33,5 15,0 18,0 Anzahl Fälle gesamt: 124.213 Davon Anzahl der Fälle, in denen Beratungsstellen als bekanntmachende Institution beteiligt waren:1.385 33,4 Quelle: Bundesamt für Statistik Kindeswohlgefährdung mit akuter Gefährdung Kindeswohlgefährdung mit latenter Gefährdung keine Kindeswohlgefährdung aber Hilfe-/Unterstützungsbedarf keine Kindeswohlgefährdung und kein weiterer Hilfebedarf 14
Gefährdung des Kindeswohls als Anlass für die Hilfegewährung in Ebs 2013 Gesamt Hauptgrund 2. Grund 3. Grund 13.745* 9.245 2.946 1.554 Quelle: Bundesamt für Statistik * Anmerkung: Bei einer Gesamtzahl von 310.082 genannten Anlässen für die Hilfegewährung entspricht das einem Anteil von 4,43 %. 15
Was daraus folgt Gefährdungseinschätzung muss immer ergebnisoffen erfolgen. Nicht Verdacht, sondern Vermutung. Gefährdungseinschätzung muss immer so erfolgen, dass weitere Hilfen noch möglich sind. Beziehung halten Vertrauen stärken Hilfebedarf in den Vordergrund stellen 16
Ausgangssituation: Bauchgefühl Ich erfahre etwas, was mich besorgt sein lässt durch eine Information von den Eltern von dem Kind/ dem Jugendlichen von Dritten durch einen Eindruck von den Eltern von dem Kind/ dem Jugendlichen 17
18
Fragen für das World Café I Umgang mit der eigenen Wahrnehmung Welche Themen/ Informationen machen mir Druck? Wie gehe ich damit um? Was erlebe ich als unterstützend? Was erhöht oder mindert den Druck? Welche organisatorische Unterstützungskultur gibt es dafür in meiner Institution? 19
Vom Bauchgefühl zu strukturiertem Handeln Bildnachweis: www.ethz.ch 20
Bildnachweis: vaughanjordan.wordpress.com/2011/10/19/philippe-petit Beratung <=> Gefährdungseinschätzung Hermeneutisches Fallverstehen Handeln im Auftrag der Familie Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung Handeln in eigenem Auftrag Hilfe Kontrolle Familien-Unterstützer Kinderschützer Ich will etwas wissen, damit ich Sie besser beraten/ unterstützen kann. Ich will etwas wissen, damit ich die Gefährdung besser einschätzen kann. 21
Gefährdungseinschätzung Erfassen der Lebenslage eines Kindes/ Jugendlichen Einschätzung der Auswirkungen auf die zu erwartende Entwicklung eines Kindes 22
Die Einschätzung einer möglichen Kindeswohlgefährdung ist eine prognostische Einschätzung das Ergebnis von Wahrnehmungen und Bewertungen immer verbunden mit einem Risiko ein strukturierter Wahrnehmungs- und Bewertungsprozess => Anforderung an Professionelle: Minimierung des Risikos einer Fehleinschätzung => Standardisierte Vorgehensweisen als Versuch, Unsicherheit zu reduzieren 23
Gefährdungseinschätzung Eine Gefährdungseinschätzung berücksichtigt: a) Mögliche Anhaltspunkte beim Kind, bei der Familie und im Lebensumfeld b) Die Haltung der Familie
Problemakzeptanz Gefährdungseinschätzung - Haltung der Familie - Sehen die Sorgeberechtigten und die Kinder selbst ein Problem? Problemkongruenz Stimmen die Sorgeberechtigten und die beteiligten Fachkräfte in der Problemsicht überein? Hilfeakzeptanz Sind die Sorgeberechtigten und die Kinder bereit, die ihnen gemachten Hilfeangebote anzunehmen und zu nutzen?
Gefährdungseinschätzung als Prozess Bewertung gewichtiger Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung Einbeziehen des Kindes Einbeziehen der Personensorgeberechtigten Hinzuziehen des multidisziplinären Teams der EB Hinzuziehen einer Insoweit erfahrenen Fachkraft Hinwirken auf die Inanspruchnahme einer (anderen) Hilfe Abwägung, ob Information des Jugendamtes geboten 26
It Takes Two To Tango Beratungsstelle Bildnachweis: 32tango.com 27
Gefährdungseinschätzung im Dialog Kindeswohlgefährdung ist ein Konstrukt, das in den seltensten Fällen direkt beobachtet werden kann. Beobachtung ist abhängig vom Beobachter selbst. Notwendigkeit der gemeinsamen Problemkonstruktion Dialogische Gefährdungseinschätzung als sicherer und entwicklungsfördernder Rahmen. Auch Eltern mit möglicherweise gefährdendem Verhalten gegenüber ihrem Kind brauchen einen sicheren Rahmen, um dazulernen zu können. 28
Beratung als Schutzraum Vertraulichkeit als Türöffner Fragilität der Hilfebeziehung mit Möglichkeit verbindlicherer Gestaltung des Rahmens Schutzraum zur Klärung in Krisen Schutzraum nicht frei von Scham und Schuldgefühlen 29
Scham in der sozialen Arbeit (Thiersch 2008) Scham der Familie Kränkung in der Selbstzuständigkeit im Intimen und Privaten Kränkung im Eigensinn der Lebensführung Scham der HelferInnen Stellvertretend Für eigene Position Für Berufsstand
Strategien zur Bewältigung von Angst und Scham Verbergen Vorwärtsverteidigung Anpassung auf der Verhaltensebene Verleugnung von Verantwortung Verharmlosung Beziehungsabbruch bei Konflikten Veränderungswiderstand Spaltung: böse Helfer/ gute Helfer Verhinderung von Partizipation
Was kann ich persönlich beitragen eine wertschätzende und authentische Haltung Stärken im Blick behalten verständliche Sprache Klar, verbindlich und ehrlich sein Transparenz hinsichtlich Auftrag und Datenschutz schaffen Vertraulichkeit nicht nur zusichern, sondern auch einhalten zurückhaltend mit Interpretationen und Bewertungen sein 32
Fragen für das World Café II Umgang mit den Eltern - Kontaktgestaltung im Konflikt Wie spreche ich meine Wahrnehmung/ meine Sorge gegenüber den Eltern an? Was macht es mir schwer? Was ist hilfreich? 33
Hinzuziehen des Jugendamtes Warum Wann Wie 34
Mehrstufiges Verfahren und Offenbarungsbefugnis für Geheimnisträger ( 4 KKG) Befugnis Soweit erforderlich Hinweis ggü. den Betroffenen, dass das Jugendamt hinzugezogen wird Auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken Information des Jugendamtes Vielleicht gegen den Willen, aber nicht ohne das Wissen der Betroffenen Ausscheiden von Hilfen oder Erfolglosigkeit und Erforderlichkeit Erörterung mit dem Kind, dem Jugendlichen und den Eltern Wahrnehmung gewichtiger Anhaltspunkte für eine mögliche Kindeswohlgefährdung Anspruch auf Fachberatung durch insoweit erfahrene Fachkräfte (auch gegenüber dem Jugendamt, aber pseudonymisiert). 35
Der Rahmen der Kontaktaufnahme Die Mitteilung soll im Rahmen eines Gesprächs erfolgen, an dem die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche beteiligt werden sollen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. ( 8a Abs.5 SGB VIII) 36
Die Logik der Angst (Maier 2015) Angst vor Fehlern Null-Fehler-Toleranz Angst vor strafrechtlichen Folgen Angst, an den medialen Pranger gestellt zu werden (Neue) Angst vor dem Jugendamt Doppelte Verängstigung im Kinderschutz auf Seiten der Fachkräfte wie auf Seiten der Familien 37
Die Logik des Verdachts (Maier 2015) Eltern werden als potenzielle Gefährder für ihre Kinder wahrgenommen Eltern werden mit Meldungen konfrontiert Statt gemeinsamer Konstruktion der aktuellen Situation werden Beweise gesammelt Begleitdynamiken wie bei der Strafverfolgung Machtkämpfe zwischen Familien- und Helfersystem 38
Die Logik der Absicherung (Maier 2015) Standardisierung der Verfahren, teilweise mit Zeitvorgaben Risikoeinschätzung mit Checklisten Hoher Dokumentationsaufwand Eltern und Kinder werden zu Diagnoseobjekten: es wird mehr über und weniger mit den Familien gesprochen => Steigende Zahlen bei den Inobhutnahmen 39
Was die Kooperation fördern kann Grundlage für gute Zusammenarbeit schaffen Eine gemeinsame Sprache finden Rollen- und Auftragsklärung Gemeinsame Fallbesprechungen/ Fortbildungen Forum für Fachdiskussionen schaffen Verfahren der Gefährdungseinschätzung gemeinsam (weiter-) entwickeln Gute Dokumentation (auch gelungener Kooperation) 40
Fragen für das World Café III Kooperation Erziehungsberatungsstelle Jugendamt Welche Erfahrungen habe ich gemacht? Was erleichtert/ erschwert die Kooperation? Wie gehe ich mit unterschiedlichen Einschätzungen um? 41
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Klaus Machlitt k.machlitt@diakonie-slfl.de 04621-381122 42