Der Umgang mit Verlust und Trauer



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Transkript:

Der Umgang mit Verlust und Trauer Eine Studie des Psychologischen Instituts der Universität Zürich Zusammenfassung für die Studienteilnehmenden

Arbeitsgruppe Trauerforschung Prof. Dr. Dr. A. Maercker Rahel Bachem Rahel Meier Sandra Schaffert Michèle Kallenbach Psychologisches Institut der Universität Zürich Psychopathologie und Klinische Intervention CH 8050 Zürich 1

Danksagung Wir möchten uns ganz herzlich bei den vielen Menschen bedanken, die sich die Zeit genommen haben, unseren Fragebogen zu beantworten. Von Herzen hoffen wir, dass dabei nicht nur traurige Erinnerungen wach geworden sind, sondern auch Erinnerungen an schöne Momente, die Ihnen Kraft und Halt geben. Sie haben uns durch Ihre Bereitschaft, sich mit unseren Fragen auseinanderzusetzen, sehr unterstützt. Ein grosser Dank gilt auch den verschiedenen Trauergruppen, Trauerberaterinnen und Beratern sowie den Fachstellen, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen. Ihre kompetente Beratung war von grossem Wert für uns und hat wesentlich zum Gelingen dieser Studie beigetragen. Nicht zuletzt danken wir auch allen denjenigen Personen, die unseren Flyer an Betroffene weitergeleitet haben und uns dadurch die Suche nach Studienteilnehmerinnen und Teilnehmern sehr erleichtert haben. Vielen Dank Ihnen allen für Ihre wertvolle Unterstützung. Freundliche Grüsse Die Arbeitsgruppe Trauerforschung 1

Einführung Verlust und Trauer sind Themen, die den meisten Menschen im Laufe des Lebens begegnen. Sich von einem geliebten Menschen trennen zu müssen, sei es der Partner, ein Kind, Elternteil oder ein guter Freund, ist eine schwierige Erfahrung und führt in den meisten Fällen zu einem Zustand tiefer Trauer. Doch jeder Mensch trauert anders. Manche Menschen trauern nach einem schmerzlichen Verlust sehr intensiv und brauchen lange, bis sie wieder zum Alltag zurückkehren können. Andere können eigene Kraftquellen oder Ressourcen aktivieren, welche ihnen helfen, schneller über den Verlust hinwegzukommen. In dieser Studie setzen wir uns mit Erklärungen für den unterschiedlichen Umgang mit Verlusten auseinander. Wir beschäftigen uns mit den Fragen, wie man eine Trauerreaktion beschreiben kann und welche individuellen Merkmale den Verlauf der Trauer beeinflussen. Wir hoffen, dass die Erkenntnisse dieser Studie dazu beitragen werden, in der Zukunft frühzeitig einschätzen zu können, welche Personen nach dem Verlust eines geliebten Menschen wahrscheinlich Unterstützung benötigen und welche Personen aus eigener Kraft damit zurechtkommen. Mit dieser Broschüre richten wir uns in erster Linie an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie, aber auch an andere trauernde Personen und Interessierte. Wir möchten Ihnen hiermit einen Einblick in die bisherige psychologische Forschung im Bereich der Trauer geben und Ihnen die wichtigsten Ergebnisse unserer eigenen Untersuchung näher bringen. Im folgenden Text verwenden wir aus Gründen der Lesbarkeit jeweils die männliche Form. Selbstverständlich beziehen sich die Inhalte immer auf Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer, auf Leserinnen und Leser etc. 2

Die verschiedenen Ausprägungen von Trauer Wenn ein geliebter Mensch stirbt, so ist Trauer erst einmal eine normale Reaktion, die überall auf der Welt beobachtet werden kann. Jede Kultur hat ihre eigenen Rituale entwickelt, welche den Hinterbliebenen das Abschiednehmen erleichtern sollen. So wird in manchen Teilen der Welt zum Zeichen der Trauer weisse Kleidung getragen, in anderen Regionen kleidet man sich schwarz. In einigen Kulturen wird gesungen, in anderen wird geschwiegen. Gemeinsam ist allen, dass das Abschiednehmen ein schwieriger Prozess ist, der vielen Menschen Mühe bereitet. Angesichts dieser hohen Relevanz wurde das Thema Trauer in der Psychologie zu einem wichtigen Forschungsgebiet. Ein zentraler Aspekt der Trauerforschung ist dabei die Unterscheidung von sogenannten normalen Trauerreaktionen und von komplizierten, anhaltenden Trauerreaktionen. Von normaler Trauer wird gesprochen wenn ein Verlust zwar als schmerzhaft erlebt wird, die Person jedoch nach einiger Zeit zu ihrem Alltag zurückfinden kann. Dies ist die häufigste Form der Trauer. Besteht jedoch auch nach mehr als einem Jahr eine grosse Belastung für den Hinterbliebenen, die im täglichen Leben spürbar ist und welche eindeutig auf den Verlust einer nahestehenden Person zurückgeführt werden kann, deutet dies auf eine anhaltende Trauerreaktion hin. In der Psychologie wurde lange diskutiert, wo die Grenze zwischen normaler Trauer und anhaltender Trauer liegt und ob es ein psychisches Störungsbild braucht, welches die komplizierteren Verläufe der Trauer abbildet. Da es nicht einfach ist, zwischen normaler und anhaltender Trauer zu unterscheiden, sollen diese beiden Ausprägungen im Folgenden näher beschrieben werden. 3

Normale Trauer Auch bei der sogenannt normalen Trauerreaktion kommt es bei den Hinterbliebenen in den meisten Fällen zu Phasen tiefer Trauer und es kann sowohl die psychische als auch die körperliche Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen werden. Längere Zeit wurde davon ausgegangen, dass die stärkste Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen kurz nach dessen Tod empfunden wird, danach jedoch kontinuierlich abnimmt. Diese Vorstellung gilt heute als überholt. Die neuere psychologische Forschung hat gezeigt, dass der Trauerprozess komplex ist und von vielen Faktoren beeinflusst werden kann. In den heutigen Vorstellungen wird nicht mehr von einer kontinuierlichen Abnahme der Trauer über die Zeit hinweg ausgegangen, sondern von Phasen stärkeren Trauerns, die sich abwechseln mit Zeiten, in denen Betroffene weniger unter dem Verlust leiden. Zu gewissen Zeiten konfrontieren sich die Trauernden mit ihrem Verlust, in anderen Phasen gehen sie dem Gedanken daran aus dem Weg oder konzentrieren sich auf andere Aufgaben. Der amerikanische Psychologe George Bonanno hat durch seine Forschung im Bereich von Trauer und Verlusterlebnissen die individuellen Unterschiede im Trauerprozess in den Fokus der Aufmerksamkeit gestellt. Er geht davon aus, dass das Ausmass und die Dauer der Trauer nach dem Verlust einer nahestehenden Person sowie die Trauerverarbeitung bei verschiedenen Personen sehr unterschiedlich sind. George Bonanno hat in seinen Studien vier prototypische Verlaufsmuster der Trauer gefunden, welche in der Abbildung 1 auf der nächsten Seite veranschaulicht werden (Bonanno, 2011; Bonanno et al., 2004). Diese Kurven beschreiben, wie stark verschiedene Gruppen von Hinterbliebenen nach dem Verlust einer nahestehenden Person über die Zeit hinweg durch Ihre Trauer beeinträchtigt sind. 4

Beeinträchtigung im Alltag Wenig Mittel Stark 4 3 2 1 Verlust 1 Jahr 2 Jahre Abbildung 1: Prototypische Verläufe der Beeinträchtigung im Alltag über die Zeit hinweg. Bonanno (2004), S. 21. Verlaufsmuster 1: Dieses Muster widerspiegelt den Trauerverlauf von Menschen, welche ausgesprochen gut mit einem Verlust zurechtkommen. Nach einer kürzeren Phase der Belastung kehren die Personen wieder in den Alltag zurück und fühlen sich kaum mehr beeinträchtigt. Basierend auf den aktuellen Forschungserkenntnissen kann davon ausgegangen werden, dass dieser Verlauf nach einer Verlusterfahrung häufiger vorkommt, als bisher angenommen wurde. Früher wurde die Abwesenheit von intensiven Trauerreaktionen sogar für gesundheitsschädlich befunden, was heute als widerlegt gilt. Die Fähigkeit eines Erwachsenen, nach einem Verlust psychisch und physisch gesund zu bleiben wird in der Psychologie als Resilienz bezeichnet. Verlaufsmuster 2: Von solchen resilienten Personen kann man Menschen unterscheiden, die anfänglich mit deutlicher Trauer reagieren und in ihrem alltäglichen Leben mittelstark beeinträchtigt sind. Zum Beispiel erfahren sie in der ersten Phase nach dem Verlust starken Kummer, ruhelosen Schlaf oder depressive Symptome, was auch eine Einschränkung der körperlichen Gesundheit nach sich ziehen kann. 5

Nach einiger Zeit beginnen sich diese Menschen jedoch zu erholen und die Belastung nimmt ab. Diese Abnahme muss nicht gleichmässig sein, denn es kann zwischendurch immer wieder zu schwierigeren Zeiten kommen. Die Genesung kann entweder relativ schnell erfolgen oder bis zu einem oder zwei Jahre in Anspruch nehmen. Anhaltende Trauer Einem Teil der Trauernden auch wenn er glücklicherweise relativ klein ist gelingt es auch nach einer längeren Trauerphase nicht, in den Alltag zurückzukehren und die Trauersymptome sowie die damit einhergehende Beeinträchtigung bleiben weiter bestehen. Für die Betroffenen bedeutet dies einen starken psychischen Leidensdruck und deutliche Einschränkungen wenn es darum geht, die Aufgaben des täglichen Lebens zu bewältigen. Solche Entwicklungen sind in den Verlaufsmustern 3 und 4 dargestellt. Verlaufsmuster 3: Diese Verlaufsform beschreibt eine sogenannte verzögerte Belastungsreaktion. Die Belastungssymptome sind nach dem Verlust relativ niedrig, verstärken und erweitern sich jedoch über die Zeit hinweg. Derzeit ist noch umstritten, wie häufig eine verzögerte Belastungsreaktion nach dem Verlust eines nahen Angehörigen vorkommt. Um gesicherte Aussagen zu machen bedarf es weiterer Forschungsergebnisse. Verlaufsmuster 4: Die im vierten Verlaufsmuster dargestellte chronische Belastung ist charakterisiert durch ein über Jahre hinweg andauerndes Auftreten von stark ausgeprägten und belastenden Symptomen. Dadurch kommt es auch zu einer dauerhaften Einschränkung der Funktionsfähigkeit im Alltag. Diese chronische Trauerform ist eher selten und wurde bei weniger als 15% der Trauernden beobachtet (Bonanno& Kaltman, 2001). 6

Eine neue Bezeichnung: Anhaltende Trauerstörung Trotz jahrelanger Forschung zum Thema Trauer fehlt es bisher an einer spezifischen Diagnose, welche extrem ausgeprägte Trauerverläufe wie die chronische Trauerreaktion abbildet. Um diesem stark belasteten Teil der Trauernden angemessene Unterstützung bieten zu können, wurde die anhaltende Trauer-Störung vorgeschlagen, welche stark beeinträchtigende Trauerreaktionen beschreibt. Die Konsequenz eines solchen psychischen Störungsbildes ist, dass stark trauernde Menschen ein Anrecht auf professionelle Unterstützung im Trauerprozess erhalten. Welche spezifischen Symptome mit dieser Diagnose einhergehen, soll im Folgenden näher beschrieben werden. Je nach Forschergruppe wurden in der Literatur andere Begrifflichkeiten und auch unterschiedliche Diagnosekriterien für die anhaltende Trauerstörung verwendet. Die vorliegenden Diagnosekriterien sind zusammengesetzt aus Vorschlägen der Forschergruppen um Mardi Horowitz und Holly Prigerson (American Psychiatric Association, 2011). Von einer anhaltenden Trauerreaktion spricht man, wenn jemand auch 12 Monate nach einem Verlust noch eine anhaltende Sehnsucht nach dem Verstorbenen verspürt, unter intensiver Trauer und seelischem Schmerz leidet oder sich in Gedanken fast ausschliesslich mit der verstorbenen Person oder den Umständen des Todes beschäftigt. Im Folgenden finden Sie eine Liste mit Reaktionen auf den Verlust, die häufig bei chronisch trauernden Personen beobachtet worden sind. Zumeist treten jedoch nicht alle diese Reaktionen bei ein und derselben Person auf, obwohl sie alle typisch für komplizierte Trauerverläufe sind: Starke Schwierigkeiten, den Tod der nahestehenden Person zu akzeptieren Ein Gefühl des Schocks, der Benommenheit und der Gefühllosigkeit Schwierigkeiten, sich in positiver Weise an den Verstorbenen zu erinnern Verbitterung oder Wut im Zusammenhang mit dem Verlust 7

Negative Bewertung der eigenen Person in Bezug auf den Verstorbenen bzw. dessen Tod Übermässige Vermeidung von Erinnerungen an den Verlust (z.b. Vermeidung von Orten oder Personen, welche in Verbindung mit dem Verstorbenen stehen) Auch im sozialen Bereich und im Bereich der persönlichen Identität fallen Menschen, die an einer anhaltenden Trauerstörung leiden, auf. Folgende Charakteristika sind typisch: Der Wunsch, selbst nicht mehr zu leben um bei dem Verstorbenen zu sein Schwierigkeiten, seit dem Verlust anderen Personen zu vertrauen Ein Gefühl des Alleinseins oder Losgelöstseins von anderen Menschen Ein Gefühl, dass das Leben sinnlos oder leer sei ohne den Verstorbenen bzw. der Glaube, dass man ohne den Verstorbenen nicht funktionieren könne Durcheinander sein bezüglich der eigenen Rolle im Leben oder ein vermindertes Identitätsgefühl (z.b. das Gefühl haben, dass mit dem Verstorbenen ein Teil von einem selbst gestorben sei) Schwierigkeiten oder Widerstreben, eigene Interessen zu verfolgen bzw. die eigene Zukunft zu planen 8

Die vorliegende Studie Ziele den oben präsentierten Kriterienkatalog zur anhaltenden Trauer-Störung zu evaluieren persönliche Ressourcen, die den Umgang mit Verlusterfahrungen erleichtern können, zu untersuchen Wie wurde die Studie durchgeführt und wer nahm daran teil? In der Zeit von Oktober 2011 bis Juli 2012 konnte unsere Arbeitsgruppe insgesamt 119 Personen für die Teilnahme an dieser Studie zum Umgang mit Verlust und Trauer gewinnen. Die Studienteilnehmer stammten mehrheitlich aus der deutschsprachigen Schweiz, manche auch aus Deutschland oder aus Österreich. Die meisten Personen hatten über Selbsthilfeorganisationen, Trauerberatungen und Internetforen für Trauernde von der Studie erfahren. Der Fragebogen konnte entweder von Hand ausgefüllt werden oder online auf einer speziell dafür eingerichteten Internet-Seite. Alle Studienteilnehmer hatten entweder den Partner/die Partnerin, ein Geschwister oder ein Kind vor mindestens 6 Monaten und höchstens 5 Jahren verloren. Zu Beginn der Studie hatten wir den Zeitrahmen auf 3 Jahre nach dem Verlust begrenzt, was jedoch gemäss Rückmeldungen von Betroffenen zu kurz gewählt war. Daraufhin wurde der Zeitrahmen erweitert. 9

Der folgenden Tabelle kann die Zusammensetzung der Teilnehmer unserer Studie entnommen werden: Studienteilnehmer Anzahl Teilnehmer 119 Geschlecht weiblich: 87% männlich: 13% Durchschnittsalter 48 Jahre (20 Jahre bis 89 Jahre) Familienstand Ledig: 14% Verheiratet: 24% Geschieden/verwitwet: 62% Beziehung zur verstorbenen Person Zeit seit dem Verlust PartnerIn: 69% Kind: 23% Geschwister: 8% Durchschnittlich 28 Monate (5 Monate bis 60 Monate) Vorhersehbarkeit Unerwartet: 56% Vorhersehbar:44% Therapeutische Hilfe Ja: 53% Nein: 47% Insgesamt wurden 119 Personen (94 Frauen und 25 Männer) in die Studie einbezogen. Die Studienteilnehmer waren im Durchschnitt 48 Jahre alt, der jüngste Teilnehmer war 20 und der älteste Teilnehmer war 89 Jahre alt. Es hatten 69% der Studienteilnehmenden ihre Partnerin oder ihren Partner verloren, 23% hatten ihr Kind verloren und bei 8% bezog sich der Verlust auf ein Geschwister. Im Durchschnitt waren seit dem Verlust 28 Monate vergangen. Der Verlust war bei etwa der Hälfte (56%) der Teilnehmenden unerwartet und bei der anderen Hälfte (44%) absehbar aufgrund einer (längeren) Erkrankung. Rund die Hälfte der Studienteilnehmenden hat nach dem Verlust therapeutische Hilfe in Anspruch genommen. 10

Wie wurde die Trauerreaktion erhoben? Das Ausmass der Trauer nach dem Verlust eines nahen Angehörigen wurde in dieser Studie anhand der auf Seite 10 aufgeführten Kriterien eingeschätzt. Wir haben einen Fragebogen mit 20 Aussagen konzipiert, bei welchen auf einer 5-stufigen Skala angegeben wurde, wie sehr die einzelnen Aussagen für einen Studienteilnehmer zutreffen. Beispiele für solche Aussagen wären die folgenden Sätze: Ich kann nicht glauben, dass.. tot ist oder Ich mache sehr viel um Erinnerungen an auszuweichen. Jede dieser Fragen entsprach einem Merkmal der anhaltenden Trauerstörung. Wie hoch war die Trauerbelastung? Beim Beantworten des Fragebogens erreichte man minimal 20 und maximal 100 Punkte. Höhere Punktzahlen bedeuten eine stärkere psychische Belastung durch den erlebten Verlust während tiefere Punktzahlen von niedrigerer Belastung zeugen. Im Rahmen dieser Studie ergaben sich Werte zwischen 21 Punkten und 79 Punkten wobei die mittlere Ausprägung der Trauer bei 47,4 Punkten lag. Der folgenden Abbildung können Sie entnehmen, wie viele Personen ein bestimmtes Ausmass an Trauersymptomen zum Untersuchungszeitpunkt zeigten. Am häufigsten wurden Werte im mittleren Bereich (30 bis 60 Punkte) angegeben. 11

Abbildung 2: Die momentane Trauerausprägung der Teilnehmenden dieser Studie Die Berechnung eines diagnostischen Schwellenwerts bei dessen Überschreiten man sagen kann, dass eine anhaltende Trauerstörung vorliegt, war aufgrund der noch zu geringen Teilnehmerzahl nicht exakt möglich. Es liess sich jedoch mit Hilfe verschiedener Berechnungen eine Annäherung an einen Schwellenwert finden. Dieser ungefähre Schwellenwert liegt bei 50-60 Punkten. Das deutet darauf hin, dass ca. ein Drittel bis knapp die Hälfte der Studienteilnehmer durch die Trauer sehr stark belastet war. Da die meisten Teilnehmenden über Selbsthilfeorganisationen oder Trauerberatungen von der Studie erfahren hatten, konnte ein solches Resultat erwartet werden. Es widerspiegelt die Tatsache, dass in erster Linie diejenigen Menschen Hilfe suchen, welche sich durch den Verlust stark belastet fühlen. 12

Welche Faktoren beeinflussen die Ausprägung der Trauer? Gibt es Geschlechtsunterschiede? Frauen zeigten nach einem Verlust tendenziell höhere Werte der anhaltenden Trauer als Männer, jedoch ist dieser Unterschied statistisch knapp nicht signifikant. Dies bedeutet, dass die höheren Werte der Frauen im Trauerfragebogen auch zufällig entstanden sein könnten. Gibt es Altersunterschiede? Das Ausmass von verlustbezogenen Anzeichen der anhaltenden Trauerstörung war unabhängig vom Alter der Studienteilnehmer. Der Verlust einer nahestehenden Person trifft also jüngere und ältere Menschen gleichermassen. Spielt die Beziehung zur verstorbenen Person eine Rolle? Die Trauerausprägungen sind im Durchschnitt die gleichen, ob es sich bei dem Verstorbenen um den Partner, ein Kind oder ein Geschwister handelt. Spielt die Zeit seit dem Verlust eine Rolle? In dieser Studie hatte die Zeit seit dem Verlust im Durchschnitt keinen Einfluss auf die Höhe der Trauersymptomatik. Personen, die den Verlust schon vor längerer Zeit erlebt hatten, unterscheiden sich nicht signifikant von solchen, deren Verlust noch zeitnäher war. Obwohl für den Einzelnen die Zeit seit dem Verlust durchaus eine Rolle spielen kann und sich in den meisten Fällen die Trauersymptomatik über die Zeit hinweg verringert, gibt es zu jedem Zeitpunkt Personen die stärker beeinträchtigt sind und solche, die weniger unter dem Verlust leiden. Da diese demografischen Faktoren der Personen wie Alter, Geschlecht oder die Zeit nach dem Verlust wenig oder gar keinen Einfluss auf die Trauersymptomatik hatten, liegt die Vermutung nahe, dass andere Merkmale für den individuell unterschiedlichen Umgang mit Verlust und Trauer verantwortlich sind. Eines dieser Merkmale, eine Ressource, welche wir Kohärenzsinn nennen, soll im Folgenden genauer vorgestellt werden. 13

Der Kohärenzsinn als persönliche Schutzvariable nach dem Verlust einer nahestehenden Person Ein wichtiges Ziel der Trauerforschung ist es, diejenigen Personen zu erkennen, die nach einer Verlusterfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit Unterstützung bei der Trauerbewältigung benötigen. Doch was unterscheidet Menschen die keine Trauerstörung entwickeln von solchen, die Mühe haben sich an den Verlust anzupassen? Welche individuellen Merkmale sind für diesen Unterschied verantwortlich? Ein möglicher Schutzfaktor, der eine Person vor der Entwicklung einer chronischen Trauerreaktion bewahren kann, ist die Ressource des Kohärenzsinns. Der Kohärenzsinn ist ein Konzept, das in der Psychologie seit längerem bekannt ist, jedoch vor kurzem in unserer Arbeitsgruppe neu definiert wurde. Die Arbeitsdefinition lautet wie folgt: Der Kohärenzsinn ist die langfristige Fähigkeit 1. Phänomene in einem Zusammenhang zu sehen und 2. positive und negative Erlebnisse im Leben auszubalancieren Diese Fähigkeit hilft einer Person, die sich mit einer belastenden Situation konfrontiert sieht, mit dem psychischen Stress umzugehen. Wir nehmen an, dass ein hoher Kohärenzsinn bedeutet, dass nach schwierigen Verlusterfahrungen seltener eine anhaltende Trauerstörung entwickelt wird als wenn der Kohärenzsinn niedriger ist. In anderen Worten: das Konzept des Kohärenzsinns wird als ein Schutzfaktor angesehen, welcher nach dem Verlust einer nahestehenden Person dazu führen könnte, dass jemand gesund bleibt oder nach einer gewissen Trauerzeit wieder genest. Der Zusammenhang zwischen Kohärenzsinn und dem Ausmass der Trauerbelastung wird in Abbildung 3 auf der nächsten Seite verdeutlicht. Werden die Studienteilnehmenden in drei Gruppen eingeteilt solche mit tiefem, mittlerem und hohem Kohärenzsinn entsteht das untenstehende Bild. Diejenigen Menschen mit tiefem Kohärenzsinn leiden unter mehr Symptomen der anhaltenden Trauerstö- 14

rung während diejenigen Menschen mit hohem Kohärenzsinn die wenigsten Symptome zeigen. Abbildung 3: Graphische Darstellung des Zusammenhangs von Trauerbelastung und Kohärenzsinn. 15

Der Zusammenhang von Trauer mit anderen psychologischen Störungsbildern Wir haben in dieser Studie auch untersucht, wie der Zusammenhang der Trauerbelastung mit verschiedenen anderen Indikatoren der psychischen und körperlichen Gesundheit aussieht. Zu erwarten war, dass Personen die mehr Anzeichen einer anhaltenden Trauerstörung zeigen, auch in anderen Bereichen der psychischen Gesundheit auffällige Werte haben. Zusammenhang mit Depression Einer der Fragebögen, die in dieser Studie beantwortet wurden, war ein Instrument zur Erhebung von Depression. Es hat sich bestätigt, dass Menschen, die aufgrund des Verlustes eines nahestehenden Angehörigen mehr Trauersymptome zeigen, auch mehr depressive Anzeichen angeben. Zusammenhang mit subjektiv empfundener Gesundheit In einem weiteren Fragebogen haben wir die gesundheitsbezogene Lebensqualität aller Studienteilnehmer berechnen können. Anhand dieses Fragebogens können sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit einzeln dargestellt werden. Es wurde sowohl mit der allgemeinen psychischen Gesundheit als auch mit der körperlichen Gesundheit ein Zusammenhang gefunden. Der Zusammenhang von Trauer und der psychischen Gesundheit war erwartungsgemäss höher als jener mit körperlicher Gesundheit. Diese mittelhohen Zusammenhänge bestätigen unsere Annahme, dass die oben genannten Merkmale der anhaltenden Trauerstörung bei komplizierten Trauerverläufen eine Rolle spielen. Die Höhe der Zusammenhänge mit anderen psychischen Erkrankungen zeigt einerseits auf, dass die anhaltende Trauerstörung als eigenständige Diagnose gewertet werden kann, andererseits wird auch der bereits von anderen Forschergruppen gefundene Zusammenhang von anhaltender Trauer mit Depression erneut festgehalten. 16

Was können wir aus diesen Befunden ableiten? Die Resultate der vorliegenden Studie zeigen auf, dass eine neue Diagnose für chronische Trauerverläufe gerechtfertigt ist. Dieser Befund deckt sich mit dem Entschluss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die 11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen (ICD-11) die anhaltende Trauerstörung einzuführen. Des Weiteren zeigen die Resultate, dass bestimmte Merkmale von Menschen sogenannte Ressourcen oder Schutzfaktoren eine wichtige Rolle bei der Trauerverarbeitung spielen. Wird das Wissen über solche Merkmale erweitert und zusammengetragen, so können in der Zukunft jene Personen ausfindig gemacht und frühzeitig unterstützt werden, die bei der Konfrontation mit schwierigen Lebensereignissen wie Verlusterfahrungen Hilfe benötigen. Darüber hinaus wäre es auch denkbar, diese persönlichen Schutzfaktoren zu trainieren, damit Personen in Zukunft besser mit Belastungen umgehen können. Wir bedanken uns hiermit noch einmal bei allen, die bei der Studie mitgemacht haben und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute. 17

Literatur American Psychiatric Association (APA).(2011). DSM-5 Development. G 06 Adjustment Disorders. Zugriff am 05.03.2011 auf http://www.dsm5.org/proposedrevision/pages/proposedrevision.aspx?rid=367 Bonanno, G. A. (2004). Loss, Trauma, and Human Resilience. Have We Underestimated the Human Capacity to Thrive After Extremely Aversive Events? American Psychologist, 59(1), 20 28. Bonanno, G. A. & Field, N. P. (2001). Examining the delayed grief hypothesis across 5 years of bereavement. American Behavioral Scientist, 44 (5), 798-816. Bonanno, G. A., Westphal, M. & Mancini, A. D. (2011). Resilience to loss and potential trauma. Annual Review of Clinical Psychology, 7, 511-535. 18