Franz Roh Nachgelassene Texte zum Neopositivismus 1927 1945. Christian Damböck Institut Wiener Kreis christian.damboeck@univie.ac.



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Transkript:

Franz Roh Nachgelassene Texte zum Neopositivismus 1927 1945 Christian Damböck Institut Wiener Kreis christian.damboeck@univie.ac.at

Franz Roh (1890-1965) Studium der Philosophie, Literatur, Geschichte und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Basel 1916-1919 Assistent von Heinrich Wölfflin in München 1920 Dissertation Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts 1925 Organisation der Ausstellung Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim, gemeinsam mit Gustav Hartlaub 1925 Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei 1929 Ausstellung (und Katalog) Foto-Auge 1933 kurzzeitig inhaftiert, Berufsverbot bis 1945 1948 Der verkannte Künstler. Studien zur Geschichte und Theorie des kulturellen Missverstehens. Verfasst in den 1930er und 1940er-Jahren Hatte nie eine Stelle im akademischen Bereich, war als freier Journalist und Organisator von Ausstellungen tätig Gilt als Pionier der Kunst-Geschichtsschreibung (vor allem der Moderne, neuen Sachlichkeit); seine Arbeiten zur Fotografie, teilweise aber auch seine eigenen Fotografien und Collagen gelten als bahnbrechend 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 2

Bezüge zu Neurath und Carnap Roh kannte Neurath seit der Zeit des ersten Weltkriegs Er hat ihn 1919 nach der Zerschlagung der Münchner Räterepublik in seinem Haus versteckt Umfangreicher Austausch über ästhetische und politische Themen, Briefwechsel Mit Carnap war Roh seit den frühen 1910er-Jahren bekannt Gemeinsam waren sie, mit Herman Nohl, Wilhelm Flitner, Hans Freyer, Mitglieder des von Eugen Diederichs organisierten Serakreises in Jena Roh hat Anfang der 1920er-Jahre die Verbindung zwischen Carnap und Neurath hergestellt Roh, Flitner und Freyer waren im August 1920 bei einem Treffen in Carnaps Haus in Buchenbach zugange, wo die ersten Entwürfe zu Carnaps Aufbau entstanden sind Rohs Buch Nach-Expressionismus stellt eine wichtige Parallelaktion zum Aufbau dar Ein umfangreicher Briefwechsel dokumentiert die Freundschaft zwischen Roh und Carnap 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 3

Die nachgelassenen Texte Philologische Gesichtspunkte In der Zeit der inneren Emigration entstanden (mit wenigen Ausnahmen: die beiden ersten Texte) In teils stark handschriftlich nachkorrigierten maschinschriftlichen Manuskripten erhalten Diese Manuskripte liegen im Nachlass Rohs in Nürnberg (Germanisches Nationalarchiv) Manuskripte waren offenbar von Roh für eine einstmalige Publikation intendiert (wegen des guten editorischen Zustandes) Plan einer Publikation, entweder als Zeitschriftenaufsatz oder als Teil eines Materialbandes zu Roh 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 4

Roh als Anhänger Carnaps Inhaltlich erweist sich Roh in diesen philosophischen Texten als strikter Anhänger und Verteidiger Carnaps mit starken Affinitäten zu Ideen Neuraths Allerdings werden die Carnapianischen Überlegungen zum Neopositivismus dadurch originell, dass sie eine starke ästhetische Schlagseite aufweisen, die bei Carnap bestenfalls indirekt sichtbar wird Insgesamt sind es für die Wirkungsgeschichte des Logischen Empirismus wichtige Dokumente, in denen sich Franz Roh als so etwas wie das Missing Link zwischen Carnap und Neurath studieren lässt Allerdings müssen diese Texte auch vor dem Hintergrund von Rohs meisterhaftem Essay von 1925 gelesen werden sowie als Ergänzung seines zweiten Hauptwerks von 1948 Die eigentliche Stärke dieser Texte besteht also darin, dass sie uns anleiten, die bedeutsamen Werke Rohs von 1925 und 1948 im Kontext des logischen Empirismus neu zu lesen 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 5

Diskussionsscheu (1927) [1] Die Diskussionsscheu bei Wissenschaftlern aber ist immer ein Zeichen begrifflicher Kurzatmigkeit und höchst verdächtig. Der wahre Wissenschaftler weiss, dass er metaphysische Aussagen nicht machen kann, er beschränkt sich von vornherein auf strukturales Ordnen, ohne Aussagen über dahinterstehende Realitäten zu wagen. Wenn er einmal Werturteile diskutiert, so macht er deren Bezogenheiten deutlich. Innerhalb des wissenschaftlich fassbaren Gebietes aber ist er jedenfalls durchaus für Streitgespräche, er kontrolliert auch gerne seine eigenen Thesen, ja sucht jede Gelegenheit dazu auf. Er leugnet nicht mehr, dass die gesamte Wissenschaftsgeschichte eine einzige Riesendiskussion darstellt, gerade je strenger sie wurde, je mehr also ihr Fortschritt gewährleistet war. 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 6

Starker Kaffee ändert die Weltanschauung (1936) [2] Ich war nicht nur, was man deprimiert zu nennen pflegt, sondern hatte das grundsätzliche Gefühl, ja dachte logisch darüber nach, daß sich das Leben eigentlich nicht lohne. Diese Meinung setzte sich in mir auf langehin fest. Sie war im Begriffe, zu einem kleinen System zu gerinnen. Da trank ich starken Kaffee. Auf einmal fand ich alles lustund sinnvoll. Da ich in denkerischer Stimmung blieb, probierte ich nun andere Ideen und baute meine Weltanschauung um. Ich wurde vom Pessimisten zum Optimisten, was doch wohl schon Weltanschauungswechsel heißen kann, zumal es sofort Folgen für meine Arbeiten zeigte, also kein leeres Gefühl blieb, sondern ein verbindliches Theorem hervortrieb. 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 7

[3] Nun wird man sagen, Weltanschauung dürfe man nicht nennen, was nach einigen Stunden sich umkehren könne. Nur dessen ungefähre Konstanz verdiene diesen Namen. Hiergegen ließe sich aber einwenden, daß dann einer, der wie Voltaire immer wieder Kaffee trinkt, sich dauernd vor Rückfällen in griesgrämige Pessimismen schützen könnte. Wie grotesk, aber wie wahr! [4] Unsre materialistischen Feststellungen sind nicht beschämend, es sei denn, daß man ins Metaphysische geradezu verkrampft wäre. Jene körperlichen Zusammenhänge werden allmählich viele Mittel an die Hand geben, unsre seelischen Einstellungen gegen einander zu verbessern und damit das Dasein der Menschheit lebenswerter zu gestalten. (Anti-kriegspillen für zu forsche Politiker würden zunächst am meisten eilen.) 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 8

Über einige Schwierigkeiten der Ethik als Wissenschaft (1939) [5] Gehen wir noch einmal von dem Stadium der Metaphysik zum folgenden über, so finden wir auch auf der irrationalen Ebene ein Verlassen gewisser seelischer Verfestigungen, zugunsten eines freieren Schwebezustands, den ich als Grundhaltung des modernen Menschen schlechthin bezeichnen möchte. Dieser Mensch fühlt nicht die geringste innere Unruhe, wenn er die bis ins tiefste gehende Relativität letzter menschlicher Wertungen empfindet. 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 9

Relativismus als Stärke (1945) [6] Wer daraus aber sog relativistische Folgerungen zieht, gilt als bedrohlich. Wir sollten ihn umgekehrt als anpassungsfähig ansehen, als bewegend und beweglich, als werdend, nicht in starrer, blosser Existenz verharrend. [ ] Relativismus wird dann zur höchsten Stärke, zur tiefsten Kraft des Lebens überhaupt [ ] Man sollte nicht für Jahrtausende produzieren, sondern den kleineren Raum eines Jahrhunderts sinnvoll erfüllen wollen. Nimmt man diese angeblich kleine Aufgabe wirklich ernst, so hat man bereits mehr als genug zu tun. 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 10

Otto Neurath 1882-1945 Rudolf Carnap 1891-1970 Franz Roh 1890-1965 Photographie von Lucia Moholy The Metropolitan Museum of Art, New York 14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 11

14.04.2016 Franz Roh - Texte zum Neopositivismus 12