ANETTE LENZ. À PROPOS Die in Paris lebende deutsche Grafikdesignerin Anette Lenz zählt zu den einflussreichsten Gestalter*innen der Gegenwart. Aus einem Misstrauen gegenüber kommerzieller Werbung heraus hat sie neue Strategien für die visuelle Kommunikation im öffentlichen Raum entwickelt. Ihr teilweise anarchisches, immer lustvolles und experimentelles Spiel mit Typografie, Farbe, Fotografie und Film brachte außergewöhnliche Plakatserien, Bücher, Ausstellungsdesigns und visuelle Identitäten mehrerer französischer Städte, Theater und Museen hervor. In einer nach wie vor männlich dominierten und von ökonomischen Faktoren bestimmten Kommunikationswelt vertraute sie stets auf die eigene Einmaligkeit, wodurch sie zur Vorreiterin einer neuen Generation von Grafikdesignerinnen geworden ist. In dieser ersten Einzelausstellung in Deutschland kontextualisiert, ironisiert und kommentiert Anette Lenz ihr eigenes Lebensgefühl. Sie verwandelt die Museumsräume in begehbare grafische Welten, die visuelle Kommunikation als sinnlich-poetischen Denkanstoß erlebbar machen. Der Titel à propos was so viel bedeutet wie nebenbei bemerkt steht dabei nicht nur für ein kommentierendes Hinzufügen von etwas Eigenem, sondern erhebt auch den Anspruch auf Relevanz: ein Kommentar, der genau zum richtigen Zeitpunkt kommt. Er lässt sich als Aufforderung an uns verstehen, eine Komplizenschaft mit dem Werk und der gestalterischen Haltung von Anette Lenz einzugehen. Die Wirkung ihrer Arbeiten macht uns dabei nicht zu Konsument*innen, sondern ermöglicht uns, am Ideenreichtum und der Ausdruckskraft von Grafikdesign teilzuhaben, an einem raffinierten Spiel aus immer wieder anders inszenierten Wechselbeziehungen von Information und Bildlichkeit. Aufgang zur Ausstellung Raum 1: Kosmopoesie Raum 2: Le Phare (Der Leuchtturm) Raum 3: Parcours Raum 4: Terra incognita Gang: Werkschau Raum 5: Relax Vita Impressum 3 7 13 17 19 23 31 35 36
AUFGANG ZUR AUSSTELLUNG Im Aufgang zur Ausstellung reagiert Anette Lenz auf die rasterbetonte Architektur des Frankfurter Museum Angewandte Kunst, die auf den Architekten Richard Meier zurückgeht. Mit den natürlichen Strukturen auf einer Wand und einer Säule setzt sie dem statischen Perfektionismus der neomodernen Architektur ein organisches Moment des Wachsens entgegen. Am Ende des Aufgangs stoßen wir auf ihre Arbeit Ich bin ein Teil des grossen Ganzen und das ganze Grosse ist in mir eine Art Leitfaden ihrer gestalterischen Arbeit und Basis aller folgenden Installationen. Aus dem Motiv dieser Arbeit heraus entwickelt Anette Lenz einen schwarzen Pfad, der sich wie ein Strahl an ihren Ideenwelten zu brechen scheint, an den Facetten ihrer prozesshaften, integrativen Arbeit: Raum, Zeit und Kreativität. Die immer wieder großflächig verwendeten Farben bilden die emotionale Seite ihrer grafischen Welten. Dabei zeugt die nur scheinbar laute Farbauswahl, basierend auf Neontönen und glänzenden Oberflächen, von einem virtuosen Farbeinsatz, der von der Fragilität eines vom Gefühl geleiteten visuellen Balanceaktes handelt. 3
RAUM 1 / KOSMOPOESIE Die bereits im Aufgang thematisierte Naturnähe wird hier auf die Spitze getrieben. Schon beim Betreten und Verlassen des Fahrstuhls lassen sich Licht und Wasser als zentrale Elemente des Lebens durchschreiten. Folgt man der visuellen Strömung in die erste Rauminstallation, trifft man zunächst auf eine weitere Reminiszenz an das Wasser: eine große blaue Wandfläche. Sich querstellen lautet die Devise der in die Raummitte gehängten diagonalen Reihung von gedruckten Farbflächen und zerbrochenen Spiegelflächen eine fragmentierte Spiegelung des Selbst, das sich im Kontext unterschiedlicher Farbwelten reflektieren kann. Im Französischen existiert dafür der vieldeutige Begriff mirage, der sich im Deutschen am besten mit Trugbild übersetzten lässt und zu dem der Aberglaube gehört, dass ein zerbrochener Spiegel Dämonen freisetzt. Einer dieser Dämonen könnte die Gestalt des in überdimensionalen Lettern geschriebenen Wortes REPETITION angenommen haben, das uns auf eine endlose Wanderschaft des immer Gleichen schickt ironisch und dennoch wahr, der Kreislauf des Lebens als Exegese vorgeführt, vor dem Hintergrund einer realen Immer-weiter-so-Hochhauskulisse auf der gegenüberliegenden Mainseite. Beim Verlassen des ersten Ausstellungsraumes stößt man auf eine nichtlineare Reihung von Kreisen, die erneut wie ein Reagieren auf die architektonische Struktur des Gebäudes wirkt. Die Elemente, denen teilweise Segmente fehlen und deren Durchmesser dem der Meier schen Säulen gleicht, scheinen sich von der Wandebene befreien zu wollen. Sie zeigen ein Spiel mit verschiedenen Ebenen, sind weder der 2D- noch der 3D-Welt zuzuordnen und verweisen damit auf die formalen und ideellen Schichtungen, die die gesamte Arbeit von Anette Lenz durchziehen. Daneben, wandfüllend, ein nichtlinearer Countdown, die pulsierenden Ebenen der Zeit in Schichten angeordnet, um dann doch in einen system error als gestalterisch verdichtetem Endpunkt zu münden. War das System kontaminiert, von einem Virus befallen, oder wurde es gehackt? 7
RAUM 2 / LE PHARE (DER LEUCHTTURM) Mit Betreten der zweiten Installation verschiebt sich die visuelle Erfahrbarkeit in Richtung einer Wahrnehmung von Körperlichkeit im Zusammenspiel von Bewegung und Licht. Anette Lenz greift mit dieser Rauminstallation eine Arbeit für das nationale choreografische Zentrum PHARE (Leuchtturm) im französischen Le Havre auf. Die Fassade des Zentrums ist dort Teil ihrer Gestaltung, indem das, was im Inneren stattfindet, nämlich Tanz über Glasbausteinfelder nach außen in den öffentlichen Raum projiziert wird. In der Filmarbeit, die hier im Museum zu sehen ist, werden die formalen und konzeptionellen Zitate aus dem PHARE zu einem Plädoyer für die Integrität des menschlichen Körpers und seiner poetischen Inszenierung im Raum. Dass Licht zudem zum Instrument einer transparenten Signatur unseres Selbst gehören kann, zeigt sich in plakativer Größe und mit serieller Wucht am Ausgang dieses Raumes. 13
RAUM 3 / PARCOURS Auf dem Weg zum nächsten Raum begleitet uns das Thema Parcours, das schon im Aufgang zur Ausstellung den Weg bereitet hat. Auch diesen Arbeiten von Anette Lenz liegt ein Auftrag für eine kulturelle Institution zugrunde, in diesem Fall das Théâtre d Angoulême. Die westfranzösische Stadt Angoulême ist für ihren Naturreichtum und als Stadt des Comics bekannt. Die von Anette Lenz entwickelte Theaterkommunikation findet in fotografischen Motiven des Lebens in Angoulême eine große Vielschichtigkeit und gestalterische Tiefe. Neben dem Motiv eines Schwanes findet sich das eines von einer Brücke springenden jungen Mannes. Mit seinen inhaltlichen und visuellen Schichten wird hier ein Plakat zur Bühne einer Bühne auf der die Ungewissheiten des Lebens eine tragende Rolle spielen. Denn folgt man der visuellen Erzählung des Bildes, führt der Sprung nicht allein in die Tiefe, sondern in ein dunkles Unergründliches. 17
RAUM 4 / TERRA INCOGNITA Mit der Bühne geht es weiter. Im nächsten Raum bezieht sich Anette Lenz auf ihre Arbeit für das Musée des Beaux-Arts du Locle im Kanton Neuenburg in der Schweiz, wo man ihr uneingeschränkte Gestaltungsfreiheit gab, sozusagen eine Carte blanche. Ihre Fortsetzung fand diese Arbeit für ein Theater der französischen Provinz, in Chaumont. Wie viele kulturelle Institutionen außerhalb der zentralistisch organisierten französischen Kulturszene steht auch diesem Haus, finanziell gesehen, das Wasser bis zum Hals. Da reicht dann selbst in der Stadt mit dem wichtigsten Grafik- und Plakatmuseum Frankreichs das Geld mitunter nicht aus, um Plakate für das Theater zu drucken. So gesehen ist LÀ EST LA QUESTION zu Deutsch Das ist hier die Frage eine Feststellung, die sich auf die Relevanz von Kultur an sich bezieht. Zugleich ist dies eine Anspielung auf William Shakespeares Tragödie Hamlet, Prinz von Dänemark. Darin beginnt der Monolog im dritten Aufzug mit dem berühmten Satz Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Die Plakatserie zeigt zunächst zwei zerknitterte Blätter, die dieses LÀ EST LA QUESTION doppeln und gleichzeitig den Abschied von einer homogenen, technisch perfekten Oberfläche zelebrieren. Die Arbeit zeigt aber auch, was sich in den Tiefen des zerknüllten weißen Papiers als visuelle Anspielung auf eine Terra incognita, also ein unbekanntes, noch unbeschriebenes Gebiet verbergen kann: mehrschichtige Farbwelten, die eine vielschichtige poetische Dimension entwickeln können. Darauf basiert auch der angrenzende Raum und nicht zuletzt der Ausstellungstitel à propos: eine Einladung zu einer assoziativen Reise auf unbekanntes Terrain. 19
GANG / WERKSCHAU Es folgt ein Raum, der neben Büchern und Programmheften das facettenreiche Plakatschaffen von Anette Lenz vorstellt. Hier wird deutlich: Anette Lenz glaubt an das Plakat. Dabei sind ihr die Materialität des Papiers und das handwerkliche Verfahren des Siebdrucks wichtig, bei dem die Farben mit einer Gummirakel durch ein feinmaschiges Gewebe auf das Papier gedruckt und unterschiedliche Farbschichtdicken generiert werden. Mit der Lebendigkeit ihrer Plakatmotive beweist sie, dass diese grafische Disziplin ihre Daseinsberechtigung nicht eingebüßt hat und besondere Formen einer demokratischen Kommunikation zulässt. An jedem Ende dieses Raumes befinden sich zwei weitere wichtige Arbeiten. Wie sehr es Anette Lenz um einen Kontakt auf Augenhöhe geht, sieht man an der Arbeit am hinteren Ende: ein Plakat, das uns mit seinen Augen verfolgt. Sind wir Betrachter*innen oder werden wir betrachtet? Wir schauen eine Arbeit an, die uns gleichzeitig aus einer Art gestalterischer Camouflage heraus ansieht. Anderes Bild kommt noch Schaut man auf die gegenüberliegende Seite des Raumes, sieht man eine mit gestischen Pinselstrichen ausgeführte Arbeit, die das Vokabular der visuellen Kommunikation aufgreift, die Anette Lenz für den Fonds Regional d Art Contemporain (FRAC) entwickelt hat. Geht man auf diese vergängliche, semitransparente Arbeit am Fenster der Meier schen Architektur zu, könnte dieses lichte Werk als perspektivischer Fluchtpunkt der besonderen Art gelesen werden, auf alle Fälle aber als ein weiterer Verweis auf die vielschichtigen, von Anette Lenz intendierten Interpretationsmöglichkeiten. 23
RAUM 5 / RELAX Das Theater in Chaumont heißt Nouveau Relax. Warum? Relax ist ein Neonschriftzug, den Anette Lenz in Chaumont vorgefunden und gemeinsam mit Vincent Perrottet als Marke des Theaters wiederbelebt hat. In ihrer Plakatserie für das Theater hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, auch die Bürger*innen der Stadt Teil der Kommunikation werden zu lassen. In der Rauminszenierung des Museums wird der Schriftzug Relax in seiner mehrfachen Verwendung zum 3D-Objekt. Dahinter steht für Anette Lenz die Idee und Neuinterpretation einer floating identity. Sie stellt plakativ die Frage, ob die Vorstellung von der Eindeutigkeit einer Identität überhaupt noch zielführend sein kann. So gesehen ist auch der Begriff Relax eine Aufforderung zum Nachdenken darüber, ob Kunst und Kultur einer entspannenden Zerstreuung dienen sollen oder ob es nicht darum gehen sollte, eine komplizierte Welt besser begreifen zu können und zu mündigen Teilnehmer*innen an einem kulturellen Diskurs zu werden. 31
VITA IMPRESSUM AUSSTELLUNG Anette Lenz lebt und arbeitet in Paris. Nach ihrem Studium in München zog es sie in die französische Hauptstadt. Dort trat sie dem Künstlerkollektiv Grapus bei und war im Anschluss daran Mitbegründerin der Gestalter*innengruppe nous travaillons ensembles. Die enge Zusammenarbeit mit Kolleg*innen ist bis heute ein wichtiger Bestandteil ihrer grafischen Arbeit. So entstanden z.b. in Zusammenarbeit mit Vincent Perrottet Kommunikationskonzepte für Theater wie die Nationalbühnen Théâtre d Angoulême, Le Nouveau Relax in Chaumont, La Filature in Mulhouse und das Théâtre d Auxerre. Ihre Arbeiten wurden international vielfach ausgezeichnet und sind u.a. in Sammlungen folgender Museen zu sehen: MOMA New York, Centre Georges Pompidou Paris, Musée des Art Décoratifs Paris, Museum für Gestaltung Zürich, Deutsches Plakatmuseum Essen, Ningbo Contemporary Art Museum China, Hong Kong Heritage Museum und Stedelijk Amsterdam. 2015 wurde Anette Lenz von Frankreich der l Ordre des Arts et des Lettres verliehen. Sie ist Mitglied der Alliance Graphique Internationale und Professorin für Visuelle Kommunikation an der University of Art and Design (HEAD) in Genf. Dieses Booklet erscheint anlässlich der Ausstellung ANETTE LENZ. à propos 2. Juli 2020 28. März 2021 Herausgeber/Texte Prof. Matthias Wagner K, Peter Zizka Übersetzungen (Deutsch Englisch) Annie Buenker, Judith Rosenthal Lektorat und Korrektorat Daniela Böhmler, Julia Psilitelis Gestaltung Peter Zizka Fotos Wolfgang Günzel Grafische Arbeiten Anette Lenz 2020 die Autoren, Übersetzer*innen und das Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main Erschienen im Eigenverlag des Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main ISBN 3-88270-126-9 Direktor Prof. Matthias Wagner K Stellvertretende Direktorin Grit Weber Kuratoren Peter Zizka, Prof. Matthias Wagner K in Zusammenarbeit mit Anette Lenz Volontärin Julia Psilitelis Leihgeberin Anette Lenz Ausstellungsleitung David Beikirch Ausstellungsarchitektur und Grafik Anette Lenz, Mario Lorenz (DESERVE Wiesbaden) Restaurierung Kathrin Röttger, Christian Dressen Registrarin Isabelle Kollig Create, Vermittlung Simone Richter, Ann-Katrin Spieß, Johanna Rothmaier, Adrian Hennig Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Annie Buenker, Natali-Lina Pitzer, Anna Richter, Charlotte Titze Übersetzungen Judith Rosenthal Lektorat Daniela Böhmler Ausstellungsbau Messegrafik & Messebau Schreiber, Schmitten Ausstellungsaufbau Peter Otterbein, Sonia Hilpert, Stefan Beutler Bild- und Tontechnik satis&fy AG, Markus Berger, Karben Siebdruck Plakate Lézard Graphique, Straßburg Druck Plakate Média Graphic, Rennes Druck Wandgrafik und Installation Relax Inditec GmbH, Florian Rupp, Bad Camberg Direktionsassistenz Sandra Schwarz Technische Leitung Thomas Funk Verwaltung Natalie Graf-Schwab, Tilo Kohl Unser Dank gilt allen an der Ausstellung Beteiligten und allen Mitarbeiter*innen des Museum Angewandte Kunst. Unterstützung eines künstlerischen Projekts von Anette Lenz durch CNAP Hotelpartner Flemings Medienpartner form Ein Museum der Stadt Frankfurt am Main 35