4 Diskussion. 4.1 Bewertung der Ergebnisse. 4.1.1 Bewertung der Korrelationen



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29 4 Diskussion 4.1 Bewertung der Ergebnisse Wie in Kapitel 3 werden auch hier die Ergebnisse der Korrelationen (Kap. 3.1) und die der Gruppenanalysen (Kap. 3.2) getrennt voneinander betrachtet. 4.1.1 Bewertung der Korrelationen Zunächst war der HbA1c als allgemein anerkannter Parameter zur Beurteilung der mittleren Blutzuckersituation der letzten 2-3 Monate (7-16) mit dem eingestellten Sollbereich (Prozent unter, in und über dem Sollbereich, jeweils bezogen auf drei Monate) mittels linearer Korrelation verglichen worden. Zur Qualitätskontrolle der erhobenen Daten war zusätzlich die Korrelation zwischen dem HbA1c und dem mittleren Blutzucker der letzten drei Monate ermittelt worden. Bei allen vier Merkmalen konnte keine praktisch verwertbare Korrelation festgestellt werden (r stets deutlich unter 0,75). Auch bei der Beziehung zwischen dem mittleren Blutzucker und dem HbA1c ist der Korrelationskoeffizient mit r=0,56 nicht befriedigend und entspricht nicht den Erwartungen aufgrund älterer Studien (7, 8, 10, 12, 17-20, ). Dies läßt zunächst vermuten, daß Fehler in der Datenerfassung bestehen, bei näherer Betrachtung und andersgerichteter Auswertung der Daten ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Die Patienten bilden keine homogene Gruppe wie zunächst angenommen, sondern sind hinsichtlich mehrerer Merkmale deutlich von einander unterscheidbar. Eines dieser Merkmale ist der mittlere Blutzucker, während hinsichtlich des HbA1c keine Unterschiede bestehen. Dies erklärt die

30 unerwartet schlechte Korrelation zwischen mittlerem Blutzucker und HbA1c im Gesamtkollektiv. Da die Angaben über den Anteil der Blutzuckerwerte unter, in und über dem Sollbereich in direkter Abhängigkeit zum mittleren Blutzucker stehen, ergeben sich zwangsläufig auch hier schlechte Korrelationen zum HbA1c. 4.1.2 Bewertung der Gruppenanalysen Nachdem bei der Auswertung der Korrelationen aufgefallen war, daß sich die Patienten bezüglich der Angabe Prozent im Bereich offenbar in zwei Gruppen aufteilen ließen, wurden weitere Unterscheidungsmerkmale gesucht. Dazu war für jedes vorliegende Merkmal ein Student t-test durchgeführt worden, wobei sich zusätzliche Unterschiede bei folgen Merkmalen zeigten: Mittlerer Blutzucker, Prozent unter und über dem Sollbereich, Diabetes-Dauer, Diabetes-Typ und - Therapie sowie Programm-Art. Bei den übrigen Merkmalen, insbesondere dem HbA1c und dem Alter, konnten keine Unterschiede festgestellt werden. 4.1.2.1 Die Gruppenmerkmale mittlerer Blutzucker, Prozent unter, in und über dem Sollbereich und Diabetes-Dauer Mittlerer Blutzucker und Prozent unter, in und über dem Sollbereich stehen in direkter Abhängigkeit zueinander. Daher wird im Folgenden lediglich das Merkmal mittlerer Blutzucker betrachtet. Die beschriebenen Ergebnisse und Folgerungen gelten gleichermaßen für Prozent unter, in und über dem Sollbereich.

31 Die Ergebnisse der Gruppenmerkmale HbA1c und mittlerer Blutzucker sind das interessanteste Ergebnis der vorliegenden Studie: In beiden Gruppen ist der HbA1c fast identisch (7,55 vs. 7,70%, n.s.). Aufgrund der heutigen Erkenntnisse (vgl. oben) müßte man daher davon ausgehen, daß es sich mit dem mittleren Blutzucker ebenso verhält. Dies ist jedoch nicht der Fall: beide Gruppen weisen statistisch signifikant verschiedene mittlere Blutzuckerwerte auf (133,62 vs. 156,14 mg/dl, p<0,001). Zudem zeigen sie auch Unterschiede hinsichtlich der Dauer der Diabetes- Erkrankung: bei den Patienten mit den höheren Blutzuckerwerten liegt der Beginn der Erkrankung deutlich länger zurück, nämlich mehr als etwa 9 Jahre. Innerhalb der Gruppen fand sich wieder eine eindeutige Korrelation zwischen dem mittleren Blutzucker und dem HbA1c, wobei die Korrelation für die Gruppe 1 (kürzere Diabetes-Dauer) besser war (r=0,72 versus r=0,60). Beide Korrelationen sind höher als die entsprechende Korrelation im Gesamtkollektiv (r=0,56). Die Beziehung zwischen HbA1c und mittlerem Blutzucker der letzten 2-3 Monate ist seit Mitte der 70er Jahre bekannt: bereits 1976 fanden KOENIG et al. in zwei Studien (17, 18) Hinweise auf diesen Zusammenhang und zahlreiche Studien in dieser Richtung folgten: Einige Autoren erzielten gute Korrelationskeoffizienten von über 0,8 (8, 12, 17, 19), jedoch lagen in vielen Fällen entweder kleine Patientenzahlen vor (17, 19) oder es handelte sich um stabil eingestellte Diabetiker (12), bei denen zudem nur die Nüchtern BZ-Werte betrachtet wurden (8). In anderen Studien lagen die Korrelationskoeffizienten nicht besonders hoch (unter 0,75) (7, 10, 18, 20). Auch SVENDSON et al. (21) kritisierten 1982 die schlechten Korrelationen vorhergehender Studien und vermuteten, eine gute Beziehung zwischen HbA1c und Blutzucker gäbe es lediglich bei stabil eingestellten Diabetikern. Die vorliegende Studie legt als Erklärung für die berechtigte Kritik an früheren Studien eine neue Vermutung nahe: die teilweise schlechten Korrelationen zwischen HbA1c und mittlerem Blutzucker der letzten drei Monate könnten ihre Ursache darin haben, daß andere, bisher außer acht gelassene jedoch entscheidende Merkmale

32 der Patienten nicht berücksichtigt wurden. Eines dieser Merkmale scheint die Dauer der Diabetes-Erkrankung zu sein. Die Ergebnisse der Diskriminananalysen erhärten diesen Verdacht: bei dem Unterscheidungsmerkmal Diabetes-Dauer > bzw. < 9 Jahre werden 81,40% der Fälle richtig zugeordnet, d.h. die Diabetes-Dauer ist neben dem mittleren Blutzucker, hier vertreten durch die Angabe Prozent im Bereich, ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal. Der Einfluß des Blutzuckerspiegels auf die Glykosylierung des Hämoglobins nimmt also anscheidend mit zunehmender Dauer der Diabetes-Erkrankung ab: sagt ein HbA1c von etwa 7,6 % bei einer Diabetes-Dauer unter etwa 9 Jahren noch einen mittleren Blutzucker von ca. 134 mg/dl voraus, so sind es bei einer Diabetes-Dauer über 9 Jahren schon ca. 156 mg/dl. Das absolute Alter des Patienten hat dabei keinen Einfluß, lediglich die Dauer der Diabetes-Erkrankung ist entscheidend. 4.1.2.2 Die Gruppenmerkmale Diabetes-Typ und -Therapie sowie Programm-Art Weitere Unterscheidungsmerkmale waren Diabetes-Typ und -Therapie sowie Programm-Art (vgl. Tab. 5): in Gruppe 1 (kürzere Diabetes-Dauer) fanden sich alle 4 Patienten mit Diabetes-Typ II wieder, sowie 3 der 4 konventionell behandelten Patienten. In Gruppe 2 (längere Diabetes-Dauer) waren signifikant mehr Patienten, die die Computer-Software Glucofacts benutzten. Die vier Patienten mit Typ II-Diabetes weisen alle bezüglich der Diabetes-Dauer Werte von unter 8 Jahren auf, was die Zugehörigkeit zur Gruppe 1 erklärt. Die Tatsache, daß sich keine langjährigen Typ II-Diabetiker in der Studie befinden ist rein zufällig. Drei der vier Typ II-Diabetiker wurden konventionell behandelt, was das

33 signifikant häufigere Auftreten dieses Merkmals in Gruppe 1 erklärt. Der vierte konventionell behandelte Patient ist ein 73jähriger Typ I-Diabetiker, der seit 12 Jahren unter seiner Erkrankung leidet und mit einem durchschnittlichen Blutzucker von 194 mg/dl eindeutig zur Gruppe 2 gehört. Die Merkmale Programm-Art und Diabetes-Dauer stehen in direktem Zusammenhang: In der Praxis, aus der die Patienten entstammten, war Glucofacts die zuerst eingeführte Software gewesen. Da die meisten Patienten, nachdem sie sich einmal mit einer bestimmten Software vertraut gemacht haben, diese nur ungern wechseln, ist der Anteil der Glucofacts -Benutzer in der Gruppe mit den sich länger in Behandlung befindlichen Patienten (Gruppe 2) zwangsläufig höher. Ein Zusammenhang zwischen der Software-Art und der Güte der Diabetes-Einstellung wird daher nicht angenommen.

34 4.2 Fehlermöglichkeiten 4.2.1 Schwachpunkte in der Datenerfassung Da es sich um eine retrospektive Studie handelt, sind einige Kritikpunkte bei der Datenerfassung berechtigt. Zum einen wurden tageszeitliche Angaben der Blutzucker-Messungen nicht berücksichtigt, zum anderen ist die Anzahl der Blutzucker-Messungen pro Tag bei den einzelnen Patienten sehr verschieden. Sie reicht von durchschnittlich 0,96 bis 5,93 BZ-Messungen pro Tag. Da der Blutzucker bekanntermaßen tageszeitlichen Schwankungen unterliegt, läge die Vermutung nahe, daß der mittlere Blutzucker mit der Anzahl der Messungen pro Tag in Zusammenhang steht. Ein selten messender Patient würde demnach z.b. vorwiegend die möglicherweise normalwertigen Blutzuckerwerte morgens und abends erfassen, während der viel messende Patient auch hohe postprandiale Blutzuckerwerte dokumentiert. Beide Patienten hätten dann einen unterschiedlichen dokumentierten mittleren Blutzucker, obwohl der wahre mittlere Blutzucker möglicherweise gleich wäre. Dem steht jedoch die Beobachtung gegenüber, daß die Gruppenkollektive dieser Studie sich hinsichtlich der Anzahl der Messungen pro Tag nicht unterscheiden. Gruppe 1 mit den niedrigeren Blutzuckerwerten hat durchschnittlich 2,73 Mal pro Tag gemessen, die Patienten der Gruppe 2 durchschnittlich 3,2 Mal. Es ist kein statistisch signifikanter Unterschied festzustellen, so daß eine Gleichheit der Werte angenommen werden muß (vgl. Tab. 6). Setzt man zudem die Werte mittlerer Blutzucker und Messungen pro Tag zueinander in Beziehung, so erhält man eine fast kreisförmige Punktwolke ohne erkennbaren Trend (Abb. 4) und mit einem Korrelationskoeffizienten von r=-0,083.

35 Die vermutete Beziehung liegt also - zumindest in diesem Patientenkollektiv - nicht vor und ein Einfluß auf das Ergebnis ist nicht anzunehmen. 6 Korrelation 5 4 3 2 1 0 50 70 90 110 130 150 170 190 210 230 250 Mittlerer BZ Abb. 4: Korrelation zwischen Mittlerer Blutzucker und Anzahl BZ-Messungen pro Tag. Man sieht eine fast kreisförmige Punktwolke ohne erkennbaren Trend, so daß eine Beziehung der beiden Merkmale zueinander in diesem Patientenkollektiv auszuschließen ist. Korrelationskoeffizient r=-0,083. Ein weiterer berechtigter Kritikpunkt liegt in der Beobachtungsdauer. Diese war nicht bei allen Patienten gleich und auch nicht immer lückenlos. Bei einigen Patienten betrug sie lediglich 12 Monate (geforderter Mindestwert für die Studie), bei drei Patienten lag sie bei über 30 Monaten. Bei einer Reihe von Patienten wurden kontinuierlich über den gesamten Beobachtungszeitraum alle Werte verwendet, bei anderen Patienten mußten einige Monate wegen unzureichender Blutzucker- oder HbA1c-Dokumentation aus-geklammert werden. Dennoch hatte die Beobachtungsdauer in dieser Studie keinen Einfluß auf das Ergebnis, da sich die mittlere Beobachtungsdauer in den beiden Patientengruppen nicht unterscheidet. In Gruppe 1 liegt sie bei durchschnittlich 20,40 Monaten und in

36 Gruppe 2 bei 21,64 Monaten und beeinflußt somit nicht die Gruppenbildung. Auch die Anzahl der verwendeten Quartals-Werte war bei beiden Gruppen gleich (6,07 vs. 6,00, n.s.). Aufgrund der retrospektiven Durchführung der Studie war eine optimale Kombination von 3-Monats-Blutzuckerwerten zu HbA1c nicht immer möglich. Die empfohlene Zeitspanne von 3 Monaten konnte nicht immer auf den Tag genau eingehalten werden. Dem ist entgegenzuhalten, daß bei einer Gesamtanzahl von ca. 93 Tagen mit durchschnittlich über 270 Blutzucker-Messungen der Einfluß einzelner Tage relativ gering ist, zumal alle Patienten verhältnismäßig stabil eingestellte Diabetiker waren. Auch betrifft dies das gesamte Patientenkollektiv und beeinflußt somit nicht das Ergebnis der Studie. 4.2.2 Schwachpunkte in der Auswertung Für die Auswertung wurde das Merkmal Prozent im Bereich herangezogen. Hierbei wäre zu kritisieren, daß dieses Merkmal nicht alleine betrachtet werden kann, sondern nur im Kontext mit den Merkmalen Prozent unter und über dem Bereich betrachtet werden darf. Dem ist entgegenzuhalten, daß in der vorliegenden Studie keine Bewertung dieses Merkmals erfolgte. Er diente lediglich als Mittel zum Zweck. Die Patientenzahlen der beiden Gruppen weichen stark voneinander ab (15 versus 28). Dennoch sind die Unterschiede signifikant. Es sind weitere Studien mit größeren Patientenzahlen notwendig, um die gefundenen Ergebnisse zu verifizieren.

37 4.3 Erklärungsversuch 4.3.1 Toleranzentwicklung der Glykosylierung? Der Einfluß der Diabetesdauer auf die Beziehung zwischen HbA1c und mittlerem Blutzucker ist interessant. Mit zunehmender Dauer des Diabetes nimmt die Glykosylierung des Hämoglobins relativ zum Blutzuckerspiegel ab. Das Hämoglobinmolekül scheint sich also mit der Zeit an die - auch beim gut eingestellten vorliegende - Hyperglykämie des Diabetikers anzupassen und prozentual zum Blutzuckerspiegel immer weniger Glukose zu binden. Eine Art Gewöhnung oder Toleranzentwicklung tritt ein. Wir kennen diesen Effekt bereits aus anderen Bereichen der Medizin: Eine Reihe von Medikamenten unterliegen der Gewöhnung oder Toleranzentwicklung: mit der Zeit nimmt die Wirkung des Medikaments ab. Zur Zeit wird dies durch eine Downregulation der Rezeptoren an der Zellmembran erklärt: bei Substrat-Überangebot reagiert die Zelle mit verminderter Expression der entsprechenden Rezeptoren und bewirkt damit ein Gleichbleiben oder eine Abnahme der Wirkung trotz Zunahme der Substrat-Konzentration. Dieser Mechanismus wäre auch für das Hämoglobinmolekül denkbar: das dauernde Substrat-Überangebot (=Hyperglykämie) führt auf die Dauer zu einer verminderten Reaktion des Hämoglobins in Form von nichtenzymatischer Bindung der Glukose. Somit sinkt die Konzentration des glykosylierten Hämoglobins im Blut, obwohl der Blutzuckerspiegel weiter hoch bleibt.

38 4.3.2 Mögliche Auswirkungen auf die Entstehung der diabetischen Spätschäden Wenn man annimmt, daß die Glykosylierung des Hämoglobins einer Toleranzentwicklung unterliegt, so liegt die Vermutung nahe, daß dies auch für die übrigen Gewebe des Körpers zutrifft. Die heute gültige Theorie über die Pathogenese der diabetischen Spätschäden geht, wie beim Hämoglobin, von einer nichtenzymatischen Glykosylierung der entsprechenden Zellen (vor allem Endothelien und Nervenscheiden) aus mit den bekannten Folgen Mikroangiopathie, Nephropathie und Neuropathie (3, 15). Nimmt man auch für diese Zellen die Fähigkeit zur Toleranzentwicklung an, so würde dies mit zunehmender Diabetesdauer eine prozentuale Abnahme der Ausbildung diabetischer Spätschäden bedeuten. Oder anders ausgedrückt: In den ersten Jahren der Diabetes-Erkrankung ist der Einfluß des Blutzuckerspiegels auf die Ausbildung der diabetischen Spätschäden wesentlich größer als in den darauffolgenden Jahren. Für den Typ-II- Diabetiker ist schon seit einigen Jahren bekannt, daß sich bereits vor der Manifestation des Diabetes ausgeprägte makroangiopathische Veränderungen entwickeln können (sog. metabolisches Syndrom ) (1, 22). Dies würde auch erklären, warum es bei der Entwicklung der Spätschäden einen sogenannten Point of no return gibt, nachdem die Progredienz der Spätschäden durch eine gute Blutzuckereinstellung kaum noch beeinflußbar ist (23). Dieser Punkt wäre dann genau der Zeitpunkt, an dem die Gewöhnung eingetreten ist und die Glykosylierung der Zellen vom aktuellen Blutzuckerspiegel unabhängig wird. RUDBERG et al. (24) stellten 1993 fest, daß die ersten Jahre der Diabetes- Erkrankung entscheidend für die Entwicklung von Spätschäden sind. Sie beobachteten 156 diabetische Kinder hinsichtlich u.a. HbA1c und der Entwicklung einer Mirkoalbuminurie bzw. retinaler Mikroaneurysmata über maximal 14 Jahre. Bei 11 Kindern trat nach 6-12 Jahren Diabetes-Dauer eine Mikroalbuminurie auf. Im

39 Vergleich mit den Kindern ohne Albuminurie zeigte sich, daß der HbA1c dieser 11 Kinder in den ersten 5 Jahren der Diabetes-Erkrankung signifikant höher lag als in der Kontrollgruppe. Der HbA1c-Wert im Jahr unmittelbar vor dem Auftreten der Mikroalbuminurie sowie das absolute Alter oder das Geschlecht hatten keinen Einfluß auf die Entwicklung einer Mikroalbuminurie. Derselbe Effekt konnte hinsichtlich der Ausbildung einer diabetischen Retinopathie beobachtet werden: Patienten mit retinalen Mikroaneurysmen wiesen in den ersten 5 Jahren ihrer Diabetes-Erkrankung einen höheren mittleren HbA1c auf als Patienten ohne Retinopathie. Auch hier hatten aktueller HbA1c und Alter der Patienten keinen Einfluß. Ähnliche Ergebnisse erzielte diese Arbeitsgruppe in einer weiteren Studie (25), in der der HbA1c nach mehr als 8 Jahren das Auftreten einer Mikroalbuminurie nicht mehr vorhersagt. Die Patienten der DCCT-Studie (4, 5), in der nachgewiesen werden konnte, daß eine intensivierte Insulin-Therapie die Entstehung und Progression diabetischer Spätschäden positiv beeinflußt, wiesen ebenfalls eine durchschnittliche Diabetes- Dauer von deutlich unter 9 Jahren auf. Diese Studien bestätigen sowohl die vorliegenden Ergebnisse als auch die Annahme der Übertragbarkeit auf das Auftreten diabetischer Spätschäden. Es wären nun weitere Studien mit größeren Patientenzahlen nötig, um diese Annahme zu verifizieren.

40 4.4 Folgerungen für die Praxis 4.4.1 Therapie des langjährigen Diabetes Wenn sich die erwähnten Überlegungen bestätigen sollten, so wird ein Umdenken in der Behandlung von Patienten mit langjährigem Diabetes nötig sein. Da der Einfluß des Blutzuckers auf die Glykosylierung von Hämoglobin und Gewebe mit der Zeit immer weiter abnimmt, kann bei solchen Patienten ein höherer mittlerer Blutzucker toleriert werden. Entscheidend für eine gute Einstellung ist und bleibt der HbA1c als Maß für die Glykosylierung. Liegt der HbA1c in einem akzeptablen Bereich, ist eine weitere Senkung des Blutzuckers nicht mehr nötig, auch wenn dieser über den festgelegten Grenzen für eine gute Einstellung liegt. 4.4.2 Therapie des neuaufgetretenen Diabetes und Diabetes-Behandlung bei Kindern Umgekehrt bedeuten die vorliegenden Ergebnisse aber auch, daß die ersten Jahre der Diabetes-Erkrankung entscheidend für die Ausbildung von Spätschäden sind. Hier sind die Gewebe wesentlich empfänglicher für eine Glykosylierung und reagieren wesentlich stärker auf einen erhöhten Blutzucker als in späteren Jahren der Erkrankung. Je länger der HbA1c als Maß für die Glykosylierung zu hoch ist, desto ausgeprägter werden die diabetischen Spätschäden später sein, auch wenn dies möglicherweise zum aktuelle Zeitpunkt noch nicht sichtbar ist. Gerade bei Kindern ist demnach auf eine möglichst gute Einstellung zu achten.

41 In Anbetracht der vorliegenden Studie sollte vom schlimmsten Fall ausgegangen werden und möglichst früh mit einer optimalen Einstellung des Diabetes begonnen werden. Später können dann möglicherweise die Zügel etwas lockerer gelassen werden, wenn die vermutete Toleranzentwicklung eingetreten und der Einfluß der Hyperglykämie auf die Entwicklung von Spätschäden nicht mehr ganz so gravierend ist.