Heidemarie Hanekop SOFI Göttingen Vergemeinschaftung im Web 2.0? Neue Möglichkeiten für collective action mit sehr vielen weltweit verteilten Akteuren 1
Das Phänomen: Internetcommunities sind große und erfolgreiche Produktionsgemeinschaften zur Bereitstellung öffentlicher Güter im Web Was ermöglicht hier kollektives Handeln in großen, weltweit verteilten Gruppen? Kollektives Handeln erklärungsbedürftig: unter der Annahme individuell rational handelnder Akteure ist kollektives Handeln in großen Gruppen unwahrscheinlich, insbesondere wenn nicht klar ist, dass alle zu dem gemeinsamen Gut oder Ziel beitragen aber auch unter der Annahme gemeinschaftlich handelnder Akteure ist unklar, wie solche gemeinschaftliche Handlungsorientierungen in großen Gruppen ohne feste Grenzen/Mitgliedschaft handlungsleitend werden 2
Warum? Gemeinschaftliche Orientierungen (Ziele, Werte, Interessen) führen dann zu kollektivem Handeln, wenn erwartet werden kann, dass auch die anderen sich entsprechend verhalten (Ziele erreicht werden) In herkömmlichen Gemeinschaften: Reziprozitätserwartung beruht auf dauerhaften persönlichen Bindungen und Erfahrung, sowie auf Obligationen und Sanktionen Internetcommunities hingegen sind: nach außen prinzipiell offen, Mitgliedschaft ist weder auf Dauer angelegt, noch auf Reziprozität; Beitragshandeln fußt nicht auf Obligationen, sondern auf Freiwilligkeit und individuellen Neigungen mit unterschiedlichen Motiven Wie können in großen, weltweit verteilten Gruppen ohne persönliche Beziehung Bedingungen für kollektives Handeln geschaffen werden? 3
Argumentation Bedingte Handlungsstrategien und kollektive Selbstorganisation (Ostrom 1990, Governing the commons ; dt. Die Verfassung der Almende, 1999) Warum Web 2.0 die Möglichkeiten für bedingte Handlungsstrategien und kollektive Selbstorganisation radikal verbessert Inkrementelle Organisation der Produktion und Institutionen der kollektiven Selbstorganisation im Web (bei OSS und Wikipedia 4
1. Bedingte Handlungsstrategien ermöglichen kollektives Handeln; Ostrom 1990, Governing the commons (dt. Die Verfassung der Almende, 1999, S. 49, fett:hh) Wenn eine Gruppe von Personen ein gemeinsames oder kollektives Interesse haben wenn die Personen also einen Zweck oder ein Ziel teilen - so kann individuelles, unorganisiertes Handeln das gemeinsame Interesse entweder überhaupt nicht oder aber nicht angemessen fördern. Organisation bedeutet im wesentlichen die Umstrukturierung von Aktivitäten, so daß sequentielle, bedingte und häufigkeitsabhängige Entscheidungen dominieren, wo zuvor simultane, nichtbedingte und häufigkeitsunabhängige Handlungen vorherrschten. Da in den meisten organisierten Prozessen immer wieder die gleichen Situationen entstehen, können die Individuen bedingte Strategien nutzen, in denen Kooperation eine größere Entwicklungs- und Überlebenschance hat. Häufig sind die Individuen bereit, auf spontane zugunsten größerer gemeinsamer Gewinne zu verzichten, wenn sie merken, daß viele andere dieselbe Strategie befolgen. Organisationen können dieses häufigkeitsabhängige Verhalten nutzen, um viele andere zur freiwilligen Teilnahme zu bewegen. Kommunikation und umfassende Information aller Mitglieder über das Verhalten der anderen Mitglieder, um Spielregeln zu schaffen, die bedingte Strategien unterstützen 5
2. Institutionen der Selbstorganisation ermöglichen kollektives Handeln: Institutionen können definiert werden als eine Gruppe von Arbeits- oder Verfahrensregeln, die festlegen, wer berechtigt ist, Entscheidungen auf einer bestimmten Ebene zu treffen, welche Handlungen erlaubt oder verboten sind, welche Aggregationsregeln zu verwenden, welche Prozeduren einzuhalten, welche Informationen bereitzustellen und welche Auszahlungen den Individuen entsprechend ihren Handlungen zuzuteilen sind. (Ostrom, 1999, S 66) Arbeitsregeln gehören zum gemeinsamen Wissen und werden überwacht und durchgesetzt. Gemeinsames Wissen impliziert, daß jeder Teilnehmer die Regeln kennt und weiß, daß die anderen die Regeln kennen und auch sie wissen, daß alle anderen die Regeln kennen. Arbeitsregeln werden stets von den unmittelbar Beteiligten überwacht und durchgesetzt. (Ostrom, 1999, S 66) Herausbildung guter Regeln.. Die (Arbeits-)Regeln der Selbstorganisation in den Fällen unterscheiden sich beträchtlich, d.h. sie müssen den konkreten Bedingungen der Handlungssituation angepasst sein (S. 116) Gute Regeln dienen dem regelkonformen Verhalten (S. 121) Überwachung ist entbehrlich, wenn alle Informationen (über die Handlungen der anderen Akteure, HH) bereits verfügbar sind (S. 122) 6
2. Rahmenbedingungen für bedingte Handlungsstrategien und Institutionen der Selbstorganisation nach Ostrom 1990 Regeln mit allgemeiner Geltung, d.h. dass sie für alle gelten und dass alle sie kennen auf die alle im Prinzip Einfluss haben und die allgemein akzeptiert sind die die Verteilung der produktiven Aufgaben festlegen für Entscheidungsprozesse (Rollen, Bedingungen, Änderung) für die gegenseitige Überwachung der Regeln, sowie für Sanktionen bei Nichteinhaltung Organisatorische Rahmenbedingungen Mitgliedschaft mit Nutzungsberechtigungen und Pflichten (:wer muss die Regeln beachten) vergleichsweise vollständige Kenntnis der Mitglieder über das Verhalten der anderen in Bezug auf die Ziel der Gemeinschaft Erfüllung der Aufgaben erfolgt sequentiell in kleinen Schritten, d.h. jedes Mitglied kann sein Verhalten am Verhalten der anderen ausrichten 7
Web 2.0 Anwendungen bieten neue Optionen für bedingte Handlungsstrategien und kollektive Selbstorganisation bei kollektivem Handeln (private) Verfügbarkeit der erforderlichen Produktionsmittel und Kompetenzen zur Erstellung und zum Zugang zu digitalen Gütern im Internet (PC, Internetverbindung..); Zugangsschranken zu Produktionsmitteln für Privatpersonen entfallen Kooperationssoftware: Sichtbarkeit der Tätigkeiten anderer; Verlagerung produktiver Tätigkeiten ins Web Raum- und zeitunabhängiger Austausch, alle sehen das gleiche; digitale Güter im Internet sind nicht rivalisierend, d.h. sie verbrauchen sich nicht beim Gebrauch, sondern im Gegenteil als Netzgüter steigern sie ihren Gebrauchswert durch verbreitete Nutzung; forciert den Anreiz zu Teilen (Benkler), reduziert das Problem des Trittbrettfahrens (Bereitstellungsproblem bleibt) viele Beteiligte und offene Grenzen für die Beteiligung von allen erweitert den Pool an Wissen, Kompetenzen, Interessen, die als Ressourcen einbezogen werden können (bestärkt den Vorteil kollektiven Handelns erweitert die Möglichkeiten von verteilter Arbeit: hoher Grad an Arbeitsteilung und Skalierbarkeit der möglichen Aufgaben: auch kleine Beiträge, begrenzter Zeitaufwand Soziologentag 2010 Soziologische Dienstleistungsforschung worin besteht der Beitrag der Soziologie zur Service Science? 8
Web 2.0: Optionen für bedingte Handlungsstrategien und kollektive Selbstorganisation bei kollektivem Handeln Anforderungen an Institutionen der Selbstorganisation: sequentiell, inkrementell, bedingt, für alle transparent, nachvollziehbar, dokumentiert bedingte Handlungsstrategien : Typ der Organisation der Produktion, die sequentielle und inkrementelle Arbeitsweisen erlauben Instititutionen kollektiver Selbstorganisation: Regeln für die Beteiligung (wer darf was) Regeln für mögliche Aufgaben / Beiträge Regeln für Entscheidungen 9
Organisation der Produktion die sequentielle und inkrementelle Arbeitsweisen erlaubt (anhand der Fälle OSS, Wikipedia) Inkrementelle Produktentwicklung und Herstellung, bottom-up (ohne ex ante Planungsprozesse) bottom-up-design und Planung als integraler Bestandteil des gemeinsamen Entwicklungsprozesses (keine Vorab-top-down Planung) ex post Entscheidungen über die Produktentwicklung Selbstauswahl von Aufgaben, Freiwilligkeit, statt Zuweisung von Arbeitsaufgaben Transparenz des gesamten Erstellungsprozesses Produkt und Beiträge sind jederzeit für alle Beteiligten sichtbar; die Erstellung vollzieht sich vor aller Augen ; Arbeitsteilung auf Zuruf oder Hand in Hand Arbeitsregeln sind durch spezielle Software vorgegeben, in der die Beteiligungsmöglichkeiten fixiert sind, abweichende Handlungen reglementiert ein Produkt ohne vorherige Planungs- und Abstimmungsphase konzipieren und herstellen zu können erspart hohen Aufwand... 10
Institutionen der Selbstorganisation im Web 2.0 (anhand der Fälle OSS, Wikipedia) Instititutionen kollektiver Selbstorganisation: Regeln für die Beteiligung (wer darf was) Regeln für mögliche Aufgaben / Beiträge Regeln für Entscheidungen Soziale Ordnung Nutzung konstituiert Mitgliedschaft, ist insofern offen, allerdings ist im web prinzipiell sichtbar, substituiert in gewisser Weise den Mitgliedsstatus Abgestufte, skalierbare Mitgliedschaft, in Abhängigkeit vom (anerkannten, akkumulierten) Beitrag; Meritokratie; Schichtenmodell bei OSS 11
Fragen - Thesen hybride Modelln aus kollektiver SO und kommerzieller Wertschöpfung von UN: ist möglich, wenn die wichtigsten Institutionen der SO vorhanden sind und Geltung behalten (wer die Regeln erdacht hat, ist dabei weniger wichtig, als dass sie in der Gemeinschaft anerkannt sind) kollektive Selbstorganisation eine geeignete Form der Koordination bei frei zugänglichen (öffentlichen) Gütern kollektive SO ist in bestimmten Fällen effizient ggf. spez. Produkttypen nicht generell (so meine Vermutung, anders als Benkler) Soziologentag 2010 Soziologische Dienstleistungsforschung worin besteht der Beitrag der Soziologie zur Service Science? 12