Klassifikation und Diagnose des. Diabetes mellitus



Ähnliche Dokumente
Diabetologie und Stoffwechsel

Diabetes was heißt das?

Patienteninformation Ich bin schwanger. Warum wird allen schwangeren Frauen ein Test auf

Lineargleichungssysteme: Additions-/ Subtraktionsverfahren

INFORMATIONEN FÜR TYP-2-DIABETIKER. Warum der HbA 1c -Wert für Sie als Typ-2-Diabetiker so wichtig ist!

Labortests für Ihre Gesundheit. Suchtests bei Schwangeren und Neugeborenen 25

Behandlung von Diabetes

Osteoporose. Ein echtes Volksleiden. Schon jetzt zählen die Osteoporose und die damit verbundene erhöhte Brüchigkeit der Knochen

Dr. Jung und Dr. Mansfeld informieren: Erweiterte Schwangerschaftsvorsorge

Gestations- Diabetes. Referentin: Agnes Ruckstuhl

geben. Die Wahrscheinlichkeit von 100% ist hier demnach nur der Gehen wir einmal davon aus, dass die von uns angenommenen

Gefährlich hohe Blutzuckerwerte

Aufgabe aus Lehrbuch Elemente der Mathematik Klasse 9

Diese Broschüre fasst die wichtigsten Informationen zusammen, damit Sie einen Entscheid treffen können.

Pränatales Screening auf Chromosomenstörungen. Pränatales Screening. Leitfaden für werdende Mütter und Väter. Leitfaden für werdende Mütter und Väter

KOPIE. Diabetes in Kürze. «Schritt um Schritt zu mehr Gesundheit!»

LÄNGER LEBEN BEI GUTER GESUNDHEIT

Wie oft soll ich essen?

IhreInsulinfunktionen

Häufig wiederkehrende Fragen zur mündlichen Ergänzungsprüfung im Einzelnen:

Vergleichende Untersuchungen der Sarstedt Blutsenkungssysteme. S-Monovette BSG und S-Sedivette und der Messgeräte Sediplus S 200 und S 2000

Brustkrebs und Mammographie

Trockenes Auge. Haben Sie Trockene Augen?

trivum Multiroom System Konfigurations- Anleitung Erstellen eines RS232 Protokolls am Bespiel eines Marantz SR7005

Berechnung der Erhöhung der Durchschnittsprämien

Das große ElterngeldPlus 1x1. Alles über das ElterngeldPlus. Wer kann ElterngeldPlus beantragen? ElterngeldPlus verstehen ein paar einleitende Fakten

Die Post hat eine Umfrage gemacht

Datensicherung. Beschreibung der Datensicherung

40-Tage-Wunder- Kurs. Umarme, was Du nicht ändern kannst.

Wann ist eine Software in Medizinprodukte- Aufbereitungsabteilungen ein Medizinprodukt?

Zeichen bei Zahlen entschlüsseln

Patienteninformation: Gentestung bei familiärem Brust- und Eierstockkrebs (Basis-Information):

!!! Folgeerkrankungen

infach Geld FBV Ihr Weg zum finanzellen Erfolg Florian Mock

1. Man schreibe die folgenden Aussagen jeweils in einen normalen Satz um. Zum Beispiel kann man die Aussage:

Versetzungsregeln in Bayern

~~ Swing Trading Strategie ~~

Windows 8 Lizenzierung in Szenarien

Dieser Ablauf soll eine Hilfe für die tägliche Arbeit mit der SMS Bestätigung im Millennium darstellen.

Letzte Krankenkassen streichen Zusatzbeiträge

Anleitung: Einrichtung der Fritz!Box 7272 mit VoIP Telefonanschluss

Im Folgenden werden einige typische Fallkonstellationen beschrieben, in denen das Gesetz den Betroffenen in der GKV hilft:

Inkrementelles Backup

4. AUSSAGENLOGIK: SYNTAX. Der Unterschied zwischen Objektsprache und Metasprache lässt sich folgendermaßen charakterisieren:

Eva Douma: Die Vorteile und Nachteile der Ökonomisierung in der Sozialen Arbeit

Das Persönliche Budget in verständlicher Sprache

Anti-Botnet-Beratungszentrum. Windows XP in fünf Schritten absichern

Moderne Behandlung des Grauen Stars

WAS finde ich WO im Beipackzettel

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Übungsbuch für den Grundkurs mit Tipps und Lösungen: Analysis

Ein Spiel für 2-3 goldhungrige Spieler ab 8 Jahren.

Leichte-Sprache-Bilder

Die Online-Meetings bei den Anonymen Alkoholikern. zum Thema. Online - Meetings. Eine neue Form der Selbsthilfe?

Alle gehören dazu. Vorwort

Stellen Sie bitte den Cursor in die Spalte B2 und rufen die Funktion Sverweis auf. Es öffnet sich folgendes Dialogfenster

Gründe für fehlende Vorsorgemaßnahmen gegen Krankheit

Entladen und Aufladen eines Kondensators über einen ohmschen Widerstand

Mathematik. UND/ODER Verknüpfung. Ungleichungen. Betrag. Intervall. Umgebung

Informationsblatt Induktionsbeweis

Primzahlen und RSA-Verschlüsselung

Diabetische Netzhauterkrankung

Eine Logikschaltung zur Addition zweier Zahlen

1 Mathematische Grundlagen

Kann man dem Diabetes davonlaufen?

das usa team Ziegenberger Weg Ober-Mörlen Tel Fax: mail: lohoff@dasusateam.de web:

Forschen - Schreiben - Lehren

SOZIALVORSCHRIFTEN IM STRAßENVERKEHR Verordnung (EG) Nr. 561/2006, Richtlinie 2006/22/EG, Verordnung (EU) Nr. 165/2014

Ergebnis und Auswertung der BSV-Online-Umfrage zur dienstlichen Beurteilung

AGROPLUS Buchhaltung. Daten-Server und Sicherheitskopie. Version vom b

Prozessbewertung und -verbesserung nach ITIL im Kontext des betrieblichen Informationsmanagements. von Stephanie Wilke am

Wichtig ist die Originalsatzung. Nur was in der Originalsatzung steht, gilt. Denn nur die Originalsatzung wurde vom Gericht geprüft.

Statuten in leichter Sprache

Wichtige Forderungen für ein Bundes-Teilhabe-Gesetz

1. Protokollnotiz. zur. Vereinbarung zur Umsetzung therapiebegleitender Maßnahmen. zur Prognoseverbesserung bei Typ 2 - Diabetikern

Die Beschreibung bezieht sich auf die Version Dreamweaver 4.0. In der Version MX ist die Sitedefinition leicht geändert worden.

In diesem Tutorial lernen Sie, wie Sie einen Termin erfassen und verschiedene Einstellungen zu einem Termin vornehmen können.

Befunderhebungsfehler aus der Sicht des niedergelassenen Arztes

Kreativ visualisieren

DER SELBST-CHECK FÜR IHR PROJEKT

Physik & Musik. Stimmgabeln. 1 Auftrag

Professionelle Seminare im Bereich MS-Office

Labortests für Ihre Gesundheit. Knochen Osteoporose-Prävention 17

Nicht kopieren. Der neue Report von: Stefan Ploberger. 1. Ausgabe 2003

Studieren- Erklärungen und Tipps

Lizenzierung von System Center 2012

1 topologisches Sortieren

Fruchtbarkeit ist messbar!

Darmgesundheit. Vorsorge für ein gutes Bauchgefühl. OA Dr. Georg Schauer

Ich kann auf mein Einkommen nicht verzichten. Die BU PROTECT Berufsunfähigkeitsversicherung.

Cytomegalie & Co. Häufige Virusinfektionen in der Schwangerschaft. Deutsches Grünes Kreuz e.v.

Die große Wertestudie 2011

Anleitung zur Daten zur Datensicherung und Datenrücksicherung. Datensicherung

Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung ersetzt vertragliche Altersgrenze 65

Anleitung über den Umgang mit Schildern

Plotten von Linien ( nach Jack Bresenham, 1962 )

Für Patientinnen und Patienten. Blutdruckpass. Die mit dem Regenbogen

Wege zur Patientensicherheit - Fragebogen zum Lernzielkatalog für Kompetenzen in der Patientensicherheit

PCD Europe, Krefeld, Jan Auswertung von Haemoccult

Der HIV-Antikörper-Schnelltest aus Sicht des Labormediziners. Dr. Thomas Berg, Berlin

Transkript:

Wolfgang Kerner WHO und Amerikanische Diabetes-Gesellschaft (ADA) haben kürzlich eine gemeinsam erarbeitete Neufassung der Klassifikation und Diagnosekriterien des vorgestellt. Die neue Klassifikation ist an der Ätiologie der Diabetesformen orientiert. Begriffe wie IDDM und NIDDM werden auf diese Weise eliminiert. Der diagnostische Grenzwert für die Nüchternglukose im Plasma wurde auf 126 mg/dl (entsprechend 110 mg/dl im Vollblut) gesenkt. Ausschlaggebend hierfür waren neue Arbeiten aus der Epidemiologie der mikrovaskulären Komplikationen. Neu ist, daß zur Diagnose einer gestörten Glukosetoleranz nicht Classification and Diagnosis of Diabetes Mellitus The American Diabetes Association (ADA) has recently published a new classification of diabetes mellitus and revised criteria for diagnosis. It has been announced that WHO will adopt these changes in near future. The classification is no longer based on therapeutic options but on our present knowledge on the etiology of diabetes. The terms IDDM and NIDDM have been eliminated and replaced by type 1 and type 2 diabetes. Measurement of fasting glucose is the preferred test for diagnosis of diabetes. The diagnostic threshold M E D I Z I N Klassifikation und Diagnose des ZUSAMMENFASSUNG mehr unbedingt ein oraler Glukose- Toleranztest erforderlich ist. Dies ist nun anhand der Nüchtern-Glukosewerte möglich (abnorme Nüchternglukose). Die gestörte Glukosetoleranz ist in der neuen Klassifikation keine eigenständige Erkrankung mehr, sondern hat den Stellenwert eines Krankheitsstadiums. Keine Änderungen wird es beim Gestationsdiabetes geben. Hierzu existieren weiterhin die unterschiedlichen Richtlinien von ADA und WHO. Schlüsselwörter:, Klassifikation, Diagnose, Gestörte Glukosetoleranz, Gestationsdiabetes SUMMARY value has been lowered to 126 mg/dl (110 mg/dl in whole blood). For the diagnosis of an impairment in glucose tolerance an oral glucose tolerance test is no longer necessary. Diagnosis is now possible on the basis of a fasting plasma glucose value between 110 and 125 mg/dl (impaired fasting glucose). With regard to gestational diabetes no consent was found between ADA and WHO. Different diagnostic criteria from both institutions will continue to exist. Key words:, classification, diagnosis, impaired glucose tolerance, gestational diabetes Während des Amerikanischen Diabeteskongresses im Juni 1997 wurden in Boston neue Kriterien zur Diagnose und eine neue Klassifikation des vorgestellt. Beides hat das expert committee on the diagnosis and classification of diabetes mellitus erarbeitet, das von der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft ins Leben gerufen wurde und dem Vertreter dieser Gesellschaft sowie weitere Diabetologen aus den USA und Europa angehörten. Vorgestellt wurde der Bericht des Expertenkomitees von dessen Vorsitzendem (J. R. Gavin, Bethesda, MD) und von K. G. M. M. Alberti als Vertreter der WHO. Auch wenn der in Boston vorgetragene und inzwischen publizierte Report (3) formal eine Verlautbarung der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft ist, kann man nach Aussage von Prof. Alberti davon ausgehen, daß sich die WHO der neuen Klassifikation und auch den Diagnosekriterien (mit Ausnahme der Kriterien zur Diagnose des Gestationsdiabetes) anschließen wird. Dies ist insofern von Bedeutung, als es in den letzten zwei Jahrzehnten international zwei Klassifikationen und Diagnosekriterien gegeben hat: die der amerikanischen NDDG (National Diabetes Data Group) (1) und der WHO (2). Diese Verlautbarungen unterschieden sich in einigen, nicht ganz unwichtigen Details. Die jetzt bevorstehende Vereinheitlichung ist sehr zu begrüßen. Klassifikation des Die neue Klassifikation ist im Textkasten: Klassifikation des Diabetes mellitus dargestellt. Die wichtigsten Änderungen lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen. Klinik für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten (Direktor: Prof. Dr. med. Wolfgang Kerner), Klinikum Karlsburg ➀ Die neue Klassifikation orientiert sich an ätiologischen Gesichtspunkten und verläßt die frühere, vorwiegend an der Therapie ausgerichtete Einteilung. Auf diese Weise werden die vor allem in Nordamerika verbreiteten Begriffe wie IDDM (Insulin Dependent Diabetes Mellitus) und NIDDM (Non Insulin Dependent Diabetes Mellitus) eliminiert und ausschließlich durch die Bezeichnungen Typ-1- beziehungsweise Typ-2-Diabetes ersetzt. Dies ist sehr zu begrüßen, da mit den Diagnosen IDDM und NIDDM, die sich in letzter Zeit auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreuen, mehr Verwirrung als Klarheit geschaffen wurde. ➁ Es wird die Unterteilung des Typ-1-Diabetes in eine immunologisch bedingte Form (1 A) und eine idiopathische Form (1 B) vorgeschlagen. Die praktische Bedeutung dieser Einteilung dürfte für unsere Region nicht sehr groß sein, da in Euro- A-3144 (56) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49, 4. Dezember 1998

Klassifikation des I. Typ 1 (b-zellzerstörung, die zum absoluten Insulinmangel führt) A. Immunologisch bedingt B. Idiopathisch (in Europa selten) II. Typ 2 (reicht vom Vorwiegen der Insulinresistenz mit relativem Insulinmangel bis zum Vorwiegen des Sekretionsdefizits mit Insulinresistenz) III. Andere Diabetestypen mit bekannten Ursachen A. Genetische Defekte der b-zellfunktion 1. Chromosom 12, HNF-1a (MODY3) 2. Chromosom 7, Glukokinase (MODY2) 3. Chromosom 20, HNF-4a (MODY1) 4. Mitochondriale DNA (MIDD, Maternally Inherited Diabetes and Deafness) 5. Andere Defekte B. Genetische Defekte der Insulinwirkung 1. Insulinresistenz Typ A, 2. Leprechaunismus, 3. Rabson-Mendenhall-Syndrom, 4. Lipatrophischer Diabetes, 5. Andere Defekte C. Erkrankungen des exokrinen Pankreas 1. Pankreatis, 2. Trauma/Pankreatektomie, 3. Neoplasmen, 4. Zystische Fibrose, 5. Hämochromatose, 6. Fibrokalzifizierende Pankreatitis, 7. Andere Erkrankungen D. Endokrinopathien 1. Akromegalie, 2. Cushing-Syndrom, 3. Glukagonom, 4. Phäochromozytom, 5. Hyperthyreose, 6. Somatostatinom, 7. Aldosteronom (primärer Hyperaldosteronismus), 8. Andere Erkrankungen E. Medikamentös-toxisch induziert 1. Vacor (Rattengift), 2. Pentamidin, 3. Nikotinsäure, 4. Glukokortikoide, 5. Schilddrüsenhormone, 6. Diazoxid, 7. b-adrenerge Agonisten, 8. Thiazid-Diuretika, 9. Dilantin, 10. a-interferon, 11. Andere Ursachen F. Infektionen 1. Kongenitale Röteln, 2. Zytomegalievirus, 3. Andere Infektionen G. Seltene, immunologisch bedingte Formen 1. Stiff-man -Syndrom, 2. Anti-Insulin-Rezeptor- Antikörper, 3. Andere Formen H. Andere, manchmal mit Diabetes assoziierte Syndrome 1. Down-Syndrom, 2. Klinefelter-Syndrom, 3. Turner- Syndrom, 4. Wolfram-Syndrom, 5. Friedreichsche Ataxie, 6. Chorea Huntington, 7. Lawrence- Moon-Biedel-Syndrom, 8. Dystrophia myotonica, 9. Porphyrie, 10. Prader-Willi-Labhart-Syndrom, 11. Andere Syndrome IV. Gestationsdiabetes (Schwangerschaftsdiabetes) Diagnostische Kriterien des Symptome des Diabetes und Plasmaglukose 200 mg/dl/11,1 mmol/l (Glukose im kapillären Vollblut 200 mg/dl/11,1 mmol/l) zu einem beliebigen Zeitpunkt des Tages (ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der letzten Mahlzeiteneinnahme). Die klassischen Symptome des Diabetes sind: Polyurie, Polydipsie und sonst nicht zu erklärender Gewichtsverlust oder Nüchtern-Plasmaglukose 126 mg/dl/7,0 mmol/l (Glukose im kapillären Vollblut 110 mg/dl/6,1 mmol/l). Nüchtern bedeutet: Keine Kalorienzufuhr für wenigstens acht Stunden oder 2h-Plasmaglukose 200 mg/dl/11,1 mmol/l (Glukose im kapillären Vollblut 200 mg/dl/11,1 mmol/l) während eines OGTT. Testdurchführung nach WHO-Richtlinien mit 75 g Glukose (oder äquivalenter Menge hydrolysierter Stärke), aufgelöst in Wasser. Ohne die eindeutigen Zeichen der Hyperglykämie mit metabolischer Dekompensation müssen die Ergebnisse der Glukosebestimmung durch Wiederholungsmessungen zu einem späteren Zeitpunkt bestätigt werden. Die Anwendung des oralen Glukosetoleranztests (OGTT) wird für die klinische Routine nicht empfohlen. Die der Diagnose eines Diabetes zugrundeliegende Glukosemessung muß mit einer qualitätskontrollierten Labormethode erfolgen. Geräte, die zur Selbstmessung durch den Patienten konzipiert sind, eignen sich hierfür nicht! Durchführung des oralen Glukosetoleranz-Tests (nach WHO-Richtlinien) Durchführung am Morgen (nach 10 bis 16stündiger Nahrungskarenz) nach einer mindestens dreitägigen Ernährung mit mehr als 150 g Kohlenhydraten/Tag. Patient in sitzender oder liegender Position. Rauchen vor und während des Tests nicht erlaubt. Zum Zeitpunkt 0 trinkt der Patient 75 g Glukose (oder äquivalente Menge hydrolysierte Stärke) in 250 bis 300 ml Wasser innerhalb von 5 Minuten. Kinder erhalten 1,75 g/kg Körpergewicht (bis maximal 75 g). Blutentnahmen zur Glukosebestimmung zu den Zeitpunkten 0 und 120 Minuten (der 60-Minuten-Wert ist nicht obligatorisch). Sachgerechte Aufbewahrung der Blutproben bis zur Messung. Es ist viel zu wenig bekannt, aber von großer praktischer Bedeutung, daß längeres Fasten oder eine Kohlenhydratmangel-Ernährung auch bei Gesunden zur pathologischen Glukosetoleranz führen kann. Es ist unnötig, bei Patienten, die Medikamente erhalten, die bekanntermaßen die Glukosetoleranz verschlechtern, einen OGTT durchzuführen. Diabetes-Screening bei Gesunden ➀ Tests sollten in Betracht gezogen werden bei allen Personen, die 45 Jahre oder älter sind. Bei Normalbefunden sollte Wiederholung nach drei Jahren erfolgen. ➁ Tests sollten in Betracht gezogen werden bei jüngeren Personen oder in kürzeren Intervallen durchgeführt werden, wenn: ein Übergewicht vorliegt ( 120 Prozent Normalgewicht oder BMI 27 kg/m²) ein/e erstgradig Verwandte/r einen Diabetes hat eine Frau ein Kind mit > 4 000 g geboren hat oder bei ihr ein Gestationsdiabetes festgestellt wurde ein Hypertonus vorliegt ( 140/90 mmhg) eine Hyperlipidämie mit HDL-Cholesterin 35 mg/dl und/oder Triglyzeriden 250 mg/dl vorliegt eine frühere Untersuchung eine gestörte Glukosetoleranz oder eine abnorme Nüchternglukose ergeben hat Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49, 4. Dezember 1998 (57) A-3145

pa ein Typ-1-Diabetes ohne immunologische Phänomene selten ist. ➂ Die Einteilung in Typ-2a- Diabetes und Typ-2b-Diabetes wird nicht länger empfohlen. Diese Veränderung ist sinnvoll, da es sehr fraglich ist, ob nicht übergewichtige, im späteren Erwachsenenalter manifestierte Diabetiker tatsächlich einen Typ-2-Diabetes oder viel eher eine dem Typ-1-Diabetes ähnliche Erkrankung haben. ➃ Der Begriff der gestörten Glukosetoleranz (Impaired Glucose Tolerance; IGT) wurde beibehalten. Er wird jedoch nicht mehr als eigenständige Diagnose geführt, sondern dient zur Beschreibung des Ausmaßes der Hyperglykämie oder des Stadiums der Erkrankung. Davon unberührt bleibt die Rolle der gestörten Glukosetoleranz als Grafik 1 Diagnostische Kriterien Die neuen Kriterien zur Diagnose eines sind dem Textkasten: Diagnostische Kriterien des und der Tabelle 1 zu entnehmen. Folgende Punkte sind hervorzuheben: ➀ Die Diagnose eines Diabetes mellitus kann anhand der Nüchternglukose oder des 2h-Glukosewertes beim oralen Glukose-Toleranz-Test (OGTT) gestellt werden. In der alten Klassifikation waren die Grenzwerte im Plasma für den Glukose- Nüchternwert 140 mg/dl und für den 2h-Wert 200 mg/dl. Es war ein seit langem bekanntes Problem, daß beide Werte oft nicht gleichsinnig bewertet werden konnten: Wenn ein Patient mit einem Nüchternwert von 130 mg/dl einem OGTT unterzogen des Diabetes. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, daß die Prävalenz der Retinopathie bereits bei Nüchternwerten im Plasma über 126 mg/dl und bei 2h-Werten über 200 mg/dl stark zunimmt. ➂ Während nach den alten Kriterien die Diagnose einer gestörten Glukosetoleranz nur anhand eines OGTT gestellt werden konnte, ist dies nach neuen Kriterien auch mit der Nüchternglukose möglich. Hierfür wurde der Begriff abnorme Nüchternglukose (Impaired Fasting Glucose; IFG) eingeführt. ➃ Die Autoren der neuen Diagnosekriterien empfehlen, in der täglichen Praxis ausschließlich die Nüchternglukose zu verwenden. Der hauptsächliche Grund ist die Vereinfachung der Diagnostik. Der OGTT soll nur in unklaren Fällen oder im Stadien Normoglykämie Hyperglykämie Typen Normale Blutzuckerregulation Gestörte Glukose-Toleranz oder Gestörte Nüchtern-Glukose Nicht insulinbedürftig Insulin zur guten Einst. Insulin zum Überleben Typ 1** Typ 2 Andere Typen* Gestationsdiabetes* Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen ätiologisch klassifiziertem Diabetestyp und dem Ausmaß der Hyperglykämie (3). ** In den initialen Stadien des Typ-1-Diabetes können Störungen des Glukosestoffwechsels nur mit speziellen Methoden nachgewiesen werden. * In seltenen Fällen kann bei diesen Patienten Insulin lebensnotwendig sein. Risikofaktor für die Entwicklung eines und für makrovaskuläre Erkrankungen. In diesem Zusammenhang muß erwähnt werden, daß der Begriff abnorme Nüchternglukose (Impaired Fasting Glucose; IFG) als Äquivalent zur gestörten Glukosetoleranz hinzugekommen ist. ➄ Alle Diabetestypen können in verschiedenen Stadien der Hyperglykämie vorkommen. Häufig verstärkt sich das Ausmaß der Hyperglykämie mit der zunehmen Dauer des Diabetes (Grafik). wurde, lag der 2h-Wert in der Regel deutlich über 200 mg/dl. Demnach waren nicht selten, je nach Verwendung von Nüchtern- oder 2h-Wert, unterschiedliche Diagnosen zu stellen. Diesem Phänomen tragen die neuen Diagnosekriterien Rechnung und synchronisieren beide Werte besser, indem sie die Grenzen für die Plasmaglukose auf 126 oder 200 mg/dl festsetzen. ➁ Unabhängig davon beruht die Absenkung des Nüchternwertes von 140 auf 126 mg/dl auf neuen Ergebnissen aus der Epidemiologie der mikrovaskulären Komplikationen Rahmen von wissenschaftlichen Studien angewandt werden (Textkasten: Durchführung des oralen Glukosetoleranz-Tests [nach WHO-Richtlinien]). ➄ Derzeit eignet sich das glykosylierte Hämoglobin (HbA 1 oder HbA 1c ) nicht zur Diagnose des Diabetes. Die Gründe hierfür sind, daß die Messung des glykosylierten Hämoglobins nicht ausreichend standardisiert ist, das heißt die Schwankungen von Labor zu Labor sind zu groß. Hinzu kommt, daß die Messung des glykosylierten Hämoglobins bedeutend teurer als die Mes- A-3146 (58) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49, 4. Dezember 1998

Tabelle 1 Diagnostische Kriterien des Plasma-Glukose Nüchtern Tagesverlauf OGTT Diabetes 126 7,0 200 + Sympt. 11,1 + Sympt. 2hPG** 200 2hPG 11,1 Gestörte Glukosetoleranz 110 125* 6,1 6,9* 2hPG = 140 199 2hPG = 7,8 11,0 Normalbefund < 110 < 6,1 2hPG < 140 2hPG < 7,8 * Impaired Fasting Glucose = Abnorme ( gestörte ) Nüchternglukose ** 2hPG = 2-Stunden Plasmaglukose bei oralem Glukosetoleranztest (75 g) Tabelle 2 Diagnose des Gestationsdiabetes (Deutsche Diabetes-Gesellschaft) Screening-Test (24. bis 28. Schwangerschaftswoche): 50 g Glukose oral (zu einem beliebigen Zeitpunkt des Tages, unabhängig vom Zeitpunkt der letzten Mahlzeit). Verdacht auf Gestationsdiabetes, wenn Glukose nach einer Stunde: Kapilläres Vollblut Venöses Vollblut Venöses Plasma > 140 > 7,8 > 120 > 6,7 > 140 > 7,8 Die Diagnose eines Gestationsdiabetes wird bei entsprechendem Verdacht durch einen vollständigen OGTT (75 g; nach Richtlinien der WHO, zusätzlich 60-Minuten-Wert) gestellt. Ein Gestationsdiabetes liegt vor, wenn für mindestens zwei Werte gilt: Kapilläres Vollblut Venöses Vollblut Venöses Plasma Nüchtern > 90 > 5,0 > 90 > 5,0 > 105 > 5,8 60 Minuten > 190 > 10,6 > 165 > 9,2 > 190 > 10,6 120 Minuten > 160 > 8,9 > 140 > 7,8 > 160 > 8,9 sung von Glukose ist. Aus internationaler Sicht ist die Messung des glykosylierten Hämoglobins nicht überall verfügbar. Bei der zu erwartenden Verbesserung und Vereinfachung der Analytik ist es aber durchaus denkbar, daß zukünftige Diagnosekriterien auf der Messung des glykosylierten Hämoglobins beruhen werden. ➅ Die Diagnose eines Diabetes darf nur mit Glukosewerten gestellt werden, die mit einer qualitätskontrollierten Labormethode gemessen wurden. Geräte zur Blutzuckerselbstmessung eignen sich hierfür unter keinen Umständen! Selbst bei Anwendung exakter Labormethoden ist zu bedenken, mit welcher Genauigkeit ein Glukosewert gemessen werden kann: Sogar bei einem guten Variationskoeffizienten einer Methode von zwei Prozent muß man davon ausgehen, daß bei einem wahren Wert von 126 mg/dl der 95-Prozent-Vertrauensbereich von 121 bis 131 mg/dl reicht. Je nach klinischer Bedeutung der Diagnose sollten im Einzelfall Werte im Grenzbereich mehrmals in größeren zeitlichen Abständen gemessen und/oder ein oraler Glukosetoleranztest gemacht werden. ➆ Der Report, in dem die neuen Diagnosekriterien beschrieben sind (3), verwendet Plasma-Glukosewerte. Da in der Praxis die Glukose eher selten im Plasma gemessen wird, gibt Tabelle 3 Hinweise zur ungefähren Umrechnung in geläufigere Werte. Diagnose des Gestationsdiabetes Unter Gestationsdiabetes wird jede Störung der Glukosetoleranz verstanden, die während einer Schwangerschaft auftritt oder erstmals festgestellt wird. Es wird auch weiterhin unterschiedliche Diagnosekriterien der WHO und der American Diabetes Association (ADA) geben. Die WHO verwendet für den Gestationsdiabetes dieselben Kriterien, wie sie außerhalb einer Schwan- Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49, 4. Dezember 1998 (59) A-3147

gerschaft gelten. Demgegenüber hat die ADA schwangerschaftsspezifische Grenzwerte erstellt, die in leichter Modifikation auch von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft empfohlen werden. Diese Kriterien sind in Tabelle 2 zusammengefaßt. Im Gegensatz zu früher wird im vorliegenden Report der Screeningtest nicht mehr für alle Schwangeren empfohlen. Nach den neuen Empfehlungen sind hiervon ausgenommen normalgewichtige Frauen unter dem 25. Lebensjahr ohne familiäre Diabetesbelastung (nur erstgradige Verwandte). Bei auffälligem Screeningtest muß ein OGTT zur definitiven Diagnose angeschlossen werden. Screening auf Diabetes mellitus bei Gesunden Die Empfehlungen der Expertengruppe für das Diabetes-Screening sind im Textkasten: Diabetesscreening bei Gesunden wiedergegeben. Das Screening sollte durch Messung der Nüchternglukose erfolgen. Nach Untersuchungen aus den USA sind 50 Prozent aller Fälle mit Typ-2-Diabetes nicht diagnostiziert. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die Zahl der nicht diagnostizierten Tabelle 3 Vergleich der Glukosekonzentrationen in verschiedenen Regionen des Gefäßsystems und verschiedenen Fraktionen des Blutes Nüchtern Postprandial mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l Plasma venös 126 7,0 200 11,1 Vollblut venös (hämolysiert) 110 6,1 180 10,1 Vollblut kapillär (hämolysiert) 110 6,1 200 11,1 Plasma kapillär 126 7,0 220 12,2 Den Blutproben zur Glukosemessung (im Plasma oder im hämolysierten Vollblut) muß ein Zusatz zur Hemmung der Glykolyse in den Erythrozyten zugefügt werden. Entsprechende Blutentnahme-Röhrchen beziehungsweise Hämolyse-Lösungen sind im Handel erhältlich. Die angegebenene Unterschiede zwischen Vollblut und Plasma gehen von normalen Hämatokritwerten aus. Die Unterschiede sind um so geringer, je niedriger der Hämatokritwert ist. Für die Glukosekonzentration im enteiweißten Plasma oder Vollblut sind die angegebenen Plasmawerte (bei normalen Gesamteiweißkonzentrationen) um 5 bis 10 Prozent nach oben zu korrigieren. Messungen der Glukose im enteiweißten Plasma oder Vollblut sind heute kaum noch in Gebrauch. Die angegebenen Werte für den postprandialen Zustand gelten strenggenommen nur für Nichtdiabetiker mit normalem postprandialen Anstieg des Plasmainsulins und normaler Insulinsensitivität für Glukose (und damit normaler Glukoseextraktion der peripheren Gewebe). Cave: Die Glukosemessung im Serum ist obsolet. Blutproben, aus denen Serum zur Bestimmung anderer klinisch-chemischer Parameter gewonnen wird, enthalten keinen Zusatz, der die Glykolyse in den Erythrozyten hemmt. Da bei Gewinnung des Serums die Zeit zwischen Blutentnahme und Zentrifugation nicht definiert ist und bis zu mehreren Stunden dauern kann, muß unter Umständen mit einem erheblichen Verbrauch der Glukose in den Erythrozyten gerechnet werden. Unverständlicherweise bieten trotzdem manche Labors die Messung der Glukose im Serum an. Diabetiker in Deutschland nur halb so groß ist, wären hierzulande davon mindestens eine Million Menschen betroffen. Es erscheint plausibel, daß durch regelmäßiges Screening und das damit verbundene frühere Einsetzen der Therapie die Folgen des Diabetes vermindert werden können. Kontrollierte Studien zum Erfolg von derartigen Screening-Maßnahmen liegen allerdings nicht vor. Zum jetzigen Zeitpunkt wird ein Antikörper-Screening zur Frühdiagnose des Typ-1-Diabetes außerhalb kontrollierter Studien nicht empfohlen. Der hauptsächliche Grund für diese Entscheidung ist das Fehlen gesicherter therapeutischer Maßnahmen, mit denen der Ausbruch der Erkrankung verhindert werden kann. Seit Fertigstellung dieses Manuskripts sind die vorläufigen Richtlinien der WHO zur Klassifikation und Diagnose des erschienen (Alberti KGMM, Zimmet PZ for the WHO Consultation: Definition, Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus and its Complications. Part 1: Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus. Provisional Report of a WHO Consultation. Diabetic Med 1998; 15: 539 553). Diese Richtlinien unterscheiden sich inhaltlich nur marginal von den vorgestellten Richtlinien der American Diabetes Association. Als wichtige Unterschieden seien erwähnt: ➀ Nach WHO-Richtlinien wird die Diagnose einer gestörten Glukosetoleranz auch weiterhin bevorzugt mit einem 75-g-OGTT, und nicht mit der Nüchternglukose gestellt. Insgesamt mehren sich die Hinweise, daß die Diagnosestellung durch die Nüchternglukose nicht ohne Probleme ist. ➁ Die Diagnose eines Gestationsdiabetes wird nach WHO wie bisher anhand eines 75-g-OGTT gestellt. Patientinnen, die nach dem Ergebnis dieses Tests einen manifesten Diabetes oder eine gestörte Glukosetoleranz aufweisen, werden als Gestations-Diabetikerinnen eingestuft. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-3144 3148 [Heft 49] Literatur 1. National Diabetes Data Group: Classification and diagnosis of diabetes mellitus and other categories of glucose intolerance. Diabetes 1979; 28: 1039 1057. 2. Report of a WHO Study Group: Diabetes mellitus. WHO Technical Report Series 1985; 727: 9 25. 3. The Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus: Report of the expert committee on the diagnosis and classification of diabetes mellitus. Diabetes Care 1997; 20: 1183 1197. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Wolfgang Kerner Klinik für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten Klinikum Karlsburg Greifswalder Straße 11 17495 Karlsburg A-3148 (60) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 49, 4. Dezember 1998