532 7 Primärprophylaxe von Thromboembolien rücksichtigen aber nicht die Fortschritte, die in den letzten Jahren bei einigen Operationstechniken und der perioperativen Versorgung erreicht werden konnten. Aus Tabelle 7-2 sind für verschiedene internistische Erkrankungen die Spannweiten für die Inzidenz von Thrombosen zu ersehen (Geerts et al. 2008; Nicolaides et al. 2001). 7.2.3 Möglichkeiten der primären Thromboembolieprophylaxe Für die Thromboembolieprophylaxe stehen sowohl physikalische als auch medikamentöse Verfahren zur Verfügung, die sowohl allein als auch kombiniert eingesetzt werden können und durch allgemeine Basismaßnahmen, wie z. B. Frühmobilisation und Bewegungsübungen ergänzt werden sollten (AWMF 2009; Encke et al. 2009). Physikalische Maßnahmen Zu den physikalischen Methoden der Prophylaxe zählen: Anlegen von medizinischen Thromboseprophylaxestrümpfen (MTPS), intermittierende Kompression der Waden, apparative oder manuelle Betätigung der Sprunggelenkspumpe. Internistische Erkrankungen allgemein-internistische Erkrankungen Tab. 7-2 Thrombosehäufigkeit bei verschiedenen nicht-chirurgischen Krankheitsbildern ohne Prophylaxe. Thromboseinzidenz (%) 10 26 Schlaganfall 11 75 Myokardinfarkt 16 34 Herzinsuffizienz 15 40 schwere internistische 29 32 Erkrankungen mit intensivmedizinischer Behandlung Die konsequente Vermeidung einer nicht indizierten oder zu langen Immobilisierung der Patienten reduziert die Wahrscheinlichkeit der Entstehung eines thromboembolischen Geschehens. Daher muss, wenn krankheitsbedingt durchführbar, stets eine frühzeitige Mobilisierung sowohl chirurgischer als auch internistischer Patienten angestrebt werden. Die antithrombotische Wirksamkeit medizinischer Thromboseprophylaxestrümpfe beruht auf der Verstärkung des Rückstroms in den tiefen Beinvenen. Dies ist jedoch nur mit einem von distal nach proximal abfallenden Druck auf das Bein zu erzielen. Ein Vergleich von Knie- und Oberschenkelstrümpfen hinsichtlich Beschleunigung des venösen Blutflusses hat keinen signifikanten Unterschied ergeben (Agu et al. 1999). Die Unannehmlichkeiten der langen Strümpfe (Rutschen, Schwitzen und schlechter Tragekomfort) können also durch die Verwendung von wadenlangen Thromboseprophylaxestrümpfen vermieden werden. Medikamentöse Maßnahmen Für die medikamentöse Thromboseprophylaxe stehen mehrere Substanzen zur Verfügung. Ihre pharmakologischen Eigenschaften und klinischen Einsatzmöglichkeiten werden nachfolgend kurz beschrieben. Unfraktionierte Heparine (UFH) UFH besteht aus einer Mischung von Heparinmolekülen unterschiedlicher Molekülmasse mit
7.2 Venöse Thromboembolien einem hohen Anteil hochmolekularer Sequenzen. Als etabliertes Verfahren bei Patienten mit einem mittleren Thromboserisiko wird es gelegentlich auch heute noch zur so genannten Lowdose-Heparin-Prophylaxe als 2- bis 3-mal tägliche subkutane Injektion bis zu einer Tagesdosis von 15 000 I.E. verabreicht. Bei Patienten mit einem hohen Thromboserisiko wird die pauschale Gabe von 15 000 I.E./Tag als nicht mehr ausreichend angesehen. In diesem Fall ist eine Dosiserhöhung möglich, wobei durch aptt-kontrolle sichergestellt werden muss, dass der obere Wert des aptt-referenzbereichs angestrebt, aber nicht dauerhaft überschritten wird. Niedermolekulare Heparine (NMH) Seit 20 Jahren werden zunehmend die aus kurzkettigen Heparinfragmenten zusammengesetzten niedermolekularen Heparine eingesetzt. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass sie insbesondere im Hochrisikobereich eine bessere antithrombotische Wirksamkeit als UFH haben (Nurmohamed et al. 1992). Außerdem brauchen sie wegen ihrer höheren Bioverfügbarkeit bei subkutaner Gabe und der längeren Halbwertszeit nur einmal täglich verabreicht werden. Ein weiterer Vorteil ist das günstigere Nebenwirkungsprofil. Von den unerwünschten Nebenwirkungen der Heparine sind neben entzündlichen Hautreaktionen an der Einstichstelle vor allem Blutungen und die immunallergische Form der Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ II zu nennen. Aus den Studien mit NMH kann abgeleitet werden, dass diese eine HIT Typ II zwar auch, aber wesentlich seltener auslösen als UFH (s. Kap. 5.3.7, S. 480). Blutungen treten insbesondere bei Überdosierung von Heparin und bei Patienten mit Niereninsuffizienz, einer bekannten erhöhten Blutungsneigung oder bestehenden akuten sowie kürzlich zurückliegenden klinisch relevanten Blutungen auf. Hirudin Die gentechnologisch hergestellten Hirudinpräparate Desirudin (z. B. Revasc ) und Lepirudin (z. B. Refludan ) sind sehr spezifisch wirkende direkte Thrombininhibitoren, die keinen Kofaktor zur Entfaltung ihrer Wirksamkeit benötigen 533 und daher auch bei Patienten mit einem Antithrombin- bzw. Heparin-Kofaktor-II-Mangel eingesetzt werden können. Da sie keine Kreuzreaktion mit HIT-II-Antikörpern zeigen, werden sie insbesondere zur Fortsetzung der Thromboembolieprophylaxe bei Patienten mit HIT Typ II angewendet. Fondaparinux Fondaparinux (Arixtra ) ist ein synthetisch hergestelltes Pentasaccharid mit 100 %iger Bioverfügbarkeit nach subkutaner Gabe. Es wird erst postoperativ gegeben und hemmt selektiv den Faktor Xa. Infolge der ausschließlich renalen Ausscheidung und langen Halbwertzeit kann es bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz nicht eingesetzt werden. Fondaparinux löst keine HIT-Typ-II-ähnliche Reaktion des Immunsystems aus, daher sind auch keine regelmäßigen Kontrollen der Thrombozytenzahlen notwendig. Die erste Gabe erfolgt 6 8 Stunden postoperativ. Danaparoid Danaparoid (z. B. Orgaran ) besteht aus einem Gemisch verschiedener gerinnungshemmender Substanzen und ist mit subkutaner oder intravenöser Verabreichung zur Prophylaxe und Therapie sowohl venöser als auch arterieller Thromboembolien bei Patienten mit HIT Typ II zugelassen, wobei jedoch die Möglichkeit einer Kreuzallergie mit HIT-Antikörpern zu beachten ist. Vitamin-K-Antagonisten (VKA) Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon (Marcumar, Falithrom ), Warfarin (Coumadin ) und Acenocoumarin (Sintrom ) können wegen ihrer verzögert einsetzenden Wirkung und ihrer schlechten Steuerbarkeit, die zu schweren Blutungskomplikationen führen kann, nicht in der engeren perioperativen Phase, sondern erst nach Einleitung der Prophylaxe mit z. B. UFH oder NMH zu deren Fortführung verwendet werden. Ihr Haupteinsatzgebiet ist daher die Langzeitprophylaxe und die so genannte Sekundärprophylaxe nach initialer Behandlung venöser Thromboembolien.
534 7 Primärprophylaxe von Thromboembolien Rivaroxaban Rivaroxaban (Xarelto ) ist ein kleinmolekularer, oral zu verabreichender direkter Faktor-Xa-Inhibitor, der seine Wirksamkeit ohne Kofaktoren entfaltet. Die Substanz wird sowohl hepatisch (ca. 33 %) als auch renal (65 %, zur Hälfte als aktive Metaboliten) eliminiert, woraus sich ein Kumulationsrisiko bei schwerer (Kreatininclearance unter 30 ml/min) Niereninsuffizienz oder bei mittelschwerer oder schwerer Leberfunktionsstörung ableitet. Die Substanz wird in fixer Dosis von 10 mg einmal täglich verabreicht und ist zur Prophylaxe venöser Thromboembolien nach elektivem Hüft- und Kniegelenkersatz zugelassen. Der Prophylaxebeginn ist 6 10 Stunden postoperativ. Dabigatran Dabigatran (Pradaxa ) ist ein kleinmolekularer direkter Thrombinhemmer, der aus dem Prodrug Dabigatranetexilat nach oraler Einnahme entsteht. Die Elimination erfolgt überwiegend renal, sodass eine Kumulationsgefahr bei mittelgradiger (Kreatininclearance 30 50 ml/min) oder schwerer Niereninsuffizienz besteht. Die Substanz ist in den Dosierungen von einmal täglich 150 mg und 220 mg zur Prophylaxe venöser Thromboembolien nach elektivem Hüft- und Kniegelenkersatz zugelassen und wird mit Prophylaxebeginn 1 bis 4 Stunden postoperativ in jeweils halber Tagesdosis am Operationstag verabreicht. Acetylsalicylsäure In einigen älteren Studien konnte gezeigt werden, dass Thrombozytenfunktionshemmer, wie z. B. die Acetylsalicylsäure, bei verschiedenen Eingriffen oder Erkrankungen das Risiko für venöse thromboembolische Ereignisse verringern können. Dennoch werden diese Substanzen wegen ihrer als unzureichend eingeschätzten Wirksamkeit und der Gefahr von Blutungen zur Primärprophylaxe venöser Thrombosen heute nicht mehr empfohlen. Bei der Entscheidung für eine medikamentöse Thromboseprophylaxe muss der Nutzen gegen das Risiko von Nebenwirkungen sorgfältig abgewogen werden. 7.2.4 Risikofaktoren Die verschiedenen Ursachen für die Entstehung einer Thromboembolie können nach dem Prinzip, dass eine Erkrankung erst dann manifest wird, wenn sowohl eine Exposition als auch eine entsprechende Disposition gegeben ist, in die Kategorien der expositionellen und dispositionellen Risikofaktoren eingeteilt werden, d. h. das Gesamtrisiko für eine Thrombose ergibt sich aus der Summe dieser beiden Risikoklassifizierungen. Für den praktischen Gebrauch in der klinischen Routine wird das bei einzelnen Eingriffen bzw. Erkrankungen bestehende expositionelle und dispositionelle als auch das gesamte Thromboserisiko in der Regel den Kategorien niedriges, mittleres oder hohes Thromboserisiko zugeordnet. Expositionelle Risikofaktoren Die nur durch die Art und den Schweregrad von chirurgischen Eingriffen, Verletzungen und internistisch/neurologischen Akuterkrankungen spezifisch ausgelöste Gefahr von venösen Thromboembolien wird als expositionelles Risiko bezeichnet. Zur Einschätzung der Höhe dieses Risikos wird primär die in Studien gefundene Häufigkeit von Thrombosen bei Patienten unter Placebo herangezogen. Bei chirurgischen und orthopädischen Patienten wird die Höhe des thromboembolischen Risikos durch die verwendete Operationstechnik, die Länge der Operation, die Art der Lagerung und das Ausmaß der Immobilisierung beeinflusst. Thrombosefördernd sind auch akut
7.2 Venöse Thromboembolien 535 entzündliche Reaktionen, die zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems führen können. Die S3-Leitlinie der AWMF (AWMF 2009; Encke et al. 2009) nimmt eine Einteilung in die Gruppen mit niedrigem, mittlerem und hohem Thromboembolierisiko vor (Tab. 7-3). In Ermangelung von Studiendaten sind exakte Eingruppierungen oftmals schwierig. Beispielsweise sind arthroskopisch durchgeführte diagnostische Eingriffe am Kniegelenk eher mit einem niedrigen statt mittleren Thromboserisiko assoziiert, wohingegen arthroskopisch durchgeführte Kreuzbandplastiken eher in die Hochrisikogruppe eingestuft werden müssten. Art, Umfang und postoperatives Management können auch bei venenchirurgischen Eingriffen stark schwanken, sodass auch bei diesen Operationen keine genaue Trennschärfe zwischen niedrigem und mittlerem Risikobereich erlaubt ist. In der Inneren Medizin und Neurologie ist das expositionelle Risiko durch die Art der Erkrankung definiert, das wiederum durch therapeutische Maßnahmen beeinflusst werden kann, wie zum Beispiel Verordnung strikter Bettlägerigkeit. Tab. 7-3 Eingruppierung der Patienten in die verschiedenen Risikokategorien (AWMF 2009). Niedriges VTE-Risiko Mittleres VTE-Risiko Hohes VTE-Risiko Operative Medizin kleine operative Eingriffe Verletzung ohne oder mit geringem Weichteilschaden länger dauernde Operationen gelenkübergreifende Immobilisation der unteren Extremität im Hartverband arthroskopisch assistierte Gelenkchirurgie an der unteren Extremität größere Eingriffe in der Bauch- und Beckenregion bei maligen Tumoren oder entzündlichen Erkrankungen Polytrauma, schwerere Verletzungen der Wirbelsäule, des Beckens und/oder der unteren Extremität größere Eingriffe an Wirbelsäule, Becken, Hüft- oder Kniegelenk größere operative Eingriffe in Körper - höhlen der Brust-, Bauch- und/oder Beckenregion Nicht-operative Medizin Infektion oder akut-entzündliche Erkrankung ohne Bettlägerigkeit zentralvenöse Katheter/Portkatheter akute Herzinsuffizienz (NYHA III/IV) akut dekompensierte, schwere COPD ohne Beatmung Infektion oder akut-entzündliche Erkrankung mit strikter Bettlägerigkeit stationär behandlungsbedürftige maligne Erkrankung Schlaganfall mit Beinparese akut dekompensierte, schwere COPD mit Beatmung Sepsis schwer erkrankte Patienten mit intensivmedizinischer Behandlung
536 7 Primärprophylaxe von Thromboembolien Dispositionelle Risikofaktoren Verschiedene angeborene oder erworbene patientenspezifische Risikofaktoren, zusammen als dispositionelles Risiko bezeichnet, können die Wahrscheinlichkeit für ein thromboembolisches Geschehen maßgeblich erhöhen. In der S3-Leitlinie (AWMF 2009; Encke et al. 2009) sind folgende dispositionelle Risikofaktoren genannt: frühere VTE, thrombophile Hämostasedefekte, maligne Erkrankung, höheres Lebensalter (> 60 J., Risikozunahme mit dem Alter), VTE bei Verwandten 1. Grades, chronische Herzinsuffizienz, Z. n. Herzinfarkt, Übergewicht (BMI > 30 kg/m2), Therapie mit oder Blockade von Sexualhormonen (zur Kontrazeption, in der Postmenopause, zur Tumorbehandlung), Schwangerschaft und Postpartalperiode, nephrotisches Syndrom, stark ausgeprägte Varikosis. Eine Differenzierung von dispositionellen gegenüber expositionellen Risikofaktoren ist nicht immer zweifelsfrei möglich. So kann zum Beispiel eine maligne Erkrankung im aktiven Stadium als akuter Triggermechanismus im Sinne eines expositionellen Risikofaktors für eine venöse Thromboembolie angesehen werden, im chronischen Verlauf oder nach abgeschlossener Behandlung entspricht sie hingegen mehr den Kriterien eines dispositionellen Risikofaktors. Die Erfahrung und das Urteilsvermögen des verantwortlichen Arztes spielen bei der Einschätzung des thromboembolischen Risikos als auch bei der Entscheidung für oder gegen eine Prophylaxe bzw. bezüglich der Wahl der Modalität weiterhin eine entscheidende Rolle. 7.2.5 Durchführung der venösen Thromboembolieprophylaxe Graduierung der Evidenzund Empfehlungsstärke der S3-Leitlinie der AWMF Im Unterschied zu anderen internationalen Leitlinien, wie z. B. der des American College of Chest Physicians (Geerts et al. 2001) mit vier Empfehlungsgraden, wird in der deutschen AWMF-Leitlinie (Encke et al. 2009) zwischen drei Empfehlungsgraden unterschieden, deren unterschiedliche Qualität bzw. Härte durch die Formulierung (»soll«,»sollte«,»kann«) und Pfeilsymbole ausgedrückt wird. In der Regel bestimmt die Qualität der Evidenz (Evidenzstärke) den Empfehlungsgrad. In Tabelle 7-4 ist diese Vorgehensweise nochmals zusammengefasst. Bei den nachfolgenden Ausführungen zur Durchführung der VTE-Prophylaxe und in den Abschnitten mit den speziellen Empfehlungen für verschiedene Patientenpopulationen wird jeweils auf die Kernaussagen der S3-Leitlinie Bezug genommen und das Verständnis der Definition und Darstellung der Evidenzstärke vorausgesetzt. Umfang der VTE-Prophylaxe nach Risikogruppen (AWMF) Eine Risikokategorisierung unter klinischen Gesichtspunkten ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg oder Misserfolg prophylaktischer Maßnahmen, und die nachfolgenden Kernaussagen der S3-Leitlinie (AWMF 2009; Encke et al.
7.2 Venöse Thromboembolien 2009) zum Umfang der Prophylaxe gelten prinzipiell für alle Patientenpopulationen. Für Patienten mit niedrigem VTE-Risiko sollten Basismaßnahmen regelmäßig angewendet werden. Sie können durch medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe ergänzt werden. Bei Patienten mit mittlerem und hohem Thromboserisiko soll eine medikamentöse VTE-Prophylaxe durchgeführt werden. Bei Patienten mit mittlerem und hohem Thromboserisiko sind neben einer medikamentösen Prophylaxe Basismaßnahmen indiziert. Zusätzlich können physikalische Maßnahmen (medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe, MTPS) angewendet werden. Chirurgische und nichtchirurgische Fachgebiete spezielle Empfehlungen Die neue S3-Leitlinie (AWMF 2009; Encke et al. 2009) enthält einen Algorithmus, wie bei der Eingruppierung der Patienten in die verschiedenen Risikokategorien unter Berücksichtigung des expositionellen und dispositionellen Risikos verfah- ren werden sollte. Dies betrifft sowohl Patienten mit operativen Eingriffen bzw. Trauma als auch internistische Patienten bzw. Patienten anderer nicht-operativer Fachdisziplinen (Tab. 7-3). Allgemeinchirurgie, operative Gynäkologie und Urologie 537 In der S3-Leitlinie (AWMF 2009; Encke et al. 2009) werden Allgemein- und Viszeralchirurgie (»General Surgery«), abdominelle Gefäßchirurgie, operative Gynäkologie und Urologie als gemeinsame anatomische Region betrachtet und daher das expositionelle VTE-Risiko bei Patienten mit viszeralen, gefäßchirurgischen, gynäkologischen und urologischen Eingriffen im Bauchund Beckenbereich als vergleichbar angesehen. Deshalb werden für diese Patientengruppen gleichlautende Empfehlungen ausgesprochen: Bei Patienten mit niedrigem eingriffsbedingten (expositionellen) und fehlendem oder geringem dispositionellen VTE-Risiko sollte keine medikamentöse Prophylaxe verabreicht werden. Bestehen zusätzliche dispositionelle Risikofaktoren, soll eine medikamentöse Prophylaxe mit UFH oder NMH erfolgen. Tab. 7-4 Graduierung der Evidenz- und Empfehlungsstärke (AWMF). Studienqualität Evidenzstärke Empfehlung Beschreibung Symbol systematische Übersichtsarbeit (Meta-Analyse) oder RCT (Therapie) oder Kohortenstudien (Risikofaktoren, Diagnostik) von hoher Qualität hoch»soll«starke Empfehlung RCT oder Kohortenstudien von eingeschränkter Qualität mäßig»sollte«empfehlung RCT oder Kohortenstudien von schlechter Qualität, alle anderen Studiendesigns, Expertenmeinung RCT = randomized controlled trial. schwach»kann«empfehlung offen
538 7 Primärprophylaxe von Thromboembolien Patienten mit mittlerem VTE-Risiko (mittlere Eingriffe oder kleinere Eingriffe mit zusätzlichen dispositionellen Risikofaktoren) sollen eine medikamentöse VTE-Prophylaxe mit Heparinen erhalten. Zusätzlich können diese Patienten MTPS erhalten. Patienten mit hohem VTE-Risiko (große Eingriffe oder mittlere Eingriffe mit zusätzlichen dispositionellen Risikofaktoren) sollen MTPS und eine medikamentöse VTE-Prophylaxe mit NMH erhalten. Alternativ kann Fondaparinux verwendet werden. Für laparoskopische Eingriffe und Operationen mit minimal invasivem Zugang (minimal access surgery) gelten die gleichen Indikationen zur VTE-Prophylaxe wie bei offenen Eingriffen im Bauch- und Beckenbereich. Die Dauer der medikamentösen VTE-Prophylaxe beträgt in der Regel 5 7 Tage. Sie sollte eingehalten werden unabhängig davon, ob der Patient noch stationär oder schon ambulant geführt wird. Bei fortdauerndem VTE-Risiko (z. B. prolongierte Immobilisation, Infektion) sollte die VTE-Prophylaxe fortgeführt werden. Patienten mit onkologischen Eingriffen sollen eine verlängerte VTE-Prophylaxe für 4 5 Wochen erhalten. Orthopädie und Traumatologie Elektiver Hüftgelenkersatz Gepoolte Daten von Studien, die bis zum Jahr 2001 bei Patienten mit elektivem Hüftgelenkersatz mit verschiedenen Prophylaxeschemata durchgeführt wurden, sind in Tabelle 7-5 zusammengestellt. Die Risikoreduktionen beziehen sich auf die unter Placebo gefundenen Häufigkeiten von tiefen Beinvenenthrombosen, alle Ergebnisse beruhen auf einem phlebographischen Thrombosenachweis. Die Zusammenstellung zeigt, dass die pauschalierte Gabe von NMH und die laboradjus- tierte Gabe von UFH die Gesamtthromboserate am stärksten absenkt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass für die aptt-kontrollierte Gabe von UFH die in der Tabelle 7-5 angeführte relative Absenkung des gesamten Thromboserisikos um durchschnittlich 74 % in nur 4 kleineren Studien ermittelt wurde, während sich die Angabe der Wirksamkeit von NMH (70 % RRR) auf 30 Studien mit insgesamt 6 216 Patienten stützen kann. Es liegen auch die Ergebnisse von 2 großen Studien zur Thromboembolieprophylaxe mit Fondaparinux bei Patienten mit elektivem Hüftgelenkersatz vor. In einer Studie wurde in der Gruppe mit Fondaparinux eine RRR gegenüber der Gruppe mit Enoxaparin von 55,9 %, in einer anderen Studie eine RRR von 26,3 % gefunden. In beiden Gruppen war die Inzidenz von schwereren Blutungen in etwa gleich (Turpie et al. 2002). Bei Patienten mit elektiven Hüftgelenkersatzoperationen haben große Phase-III-Studien die Wirksamkeit und Sicherheit einer etwa 5-wöchigen postoperativ eingeleiteten Prophylaxe mit Dabigatranetexilat oder Rivaroxaban im Vergleich zu präoperativ begonnenem Enoxaparin belegt (Eriksson et al. 2007b; Eriksson et al. 2008; Kakkar et al. 2008). Dabei erbrachte Dabigatranetexilat in beiden untersuchten Dosierungen (150 bzw. 220 mg täglich oral) eine dem NMH Enoxaparin (40 mg täglich s. c.) vergleichbare Wirksamkeit und Sicherheit. Die unterschiedlichen Dosierungsempfehlungen für jüngere und ältere Patienten sowie für Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion sind zu beachten (Eriksson et al. 2007b). Für Rivaroxaban (10 mg täglich oral) wurde eine signifikante Absenkung der VTE-Gesamtrate auf 1,1 % gegenüber 3,7 % unter Enoxaparin ohne signifikante Zunahme von Blutungskomplikationen ermittelt (Eriksson et al. 2008). Zusätzlich wurde die Notwendigkeit einer fünfwöchigen VTE-Prophylaxe für Patienten mit Hüftgelenkersatz in der RECORD2-Studie bestätigt. In dieser Studie wurde eine zweiwöchige Prophylaxe mit Enoxaparin mit der Gabe von Rivaroxaban für fünf Wochen verglichen, was zu einer hochsignifikanten Absenkung der VTE-Gesamtrate von 9,3 % auf 2,0 % führte (Kakkar et