1 Hessischer Rundfunk hr2 kultur Redaktion: Dr. Arne Kapitza Wissenswert Zorn, Trauer und Gelächter - die Gefühlswelt der Ilias Von Ruthard Stäblein Mittwoch, 03.09.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur REGIE: MARLENE BREUER (Rahmentext): (P) Zorn* 08-129 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zuverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks
(evtl. antikische Musik) 2 O-Ton 1 (R. Schrott): von der bitternis sing, göttin von achilleus, dem sohn des peleus seinem verfluchten groll, der den griechen unsägliches leid brachte und die seelen zahlloser krieger hinab in das haus des hades sandte ihre blutvollen leben dann nur noch fleisch an dem die hunde fraßen (0 22) Verbitterung, Schmerz und Groll, mit diesen Emotionen heben Homers Gesänge über die Schlacht um Troja, hier neu übersetzt und vorgetragen von Raoul Schrott. Er wählt hier übrigens die griechische Aussprache Achile us, während wir im folgenden der gebräuchlicheren lateinischen Aussprache Achilleus folgen. Dessen Groll, Achills sprichwörtlicher Zorn, ist die treibende Kraft hinter der Handlung der Ilias. Der trojanische Krieg zieht sich so lange hin zehn Jahre -, bis der Zorn besänftigt ist. Achilleus, der stärkste Kämpfer der Griechen, ist zunächst über Agamemnon erzürnt, denn dieser Heerführer hat ihm die schöne Sklavin Briseis entführt. Nicht weil diese ihm so am Herzen gelegen hätte Achill hatte am weiblichen Geschlecht weniger Interesse -, sondern, weil das eine tiefe Demütigung bedeutete. Zunächst zog er sich schmollend zurück; erst als sein geliebter Freund Patroklos getötet wird, entbrennt er derart in Zorn, dass er in die Schlacht zieht, um Rache zu nehmen. Zu einem Zeitpunkt, als die Trojaner die Oberhand hatten, der Kampf der Griechen ausweglos scheint, greift Achilleus ein und will das Schicksal wenden. Achill ist nicht der einzige, den der Zorn antreibt. Der Gott Apollon schickte den Griechen die Pest, weil er darüber erzürnt war, dass Agamemnon einen seiner Priester beleidigt hatte und dessen Tochter Chryseis als Beutesklavin behalten wollte. Unter dem Druck seiner Kämpfer musste Agamemnon seine geliebte Chryseis aber hergeben. Wutentbrannt sann er auf Rache und nahm sich die Briseis von Achilleus. Die beiden Widersacher Agamemnon und Achill sind, nach der Säftelehre des Arztes Hippokrates, Choleriker. Solche Charaktere haben zu viel Cholé, zuviel der gelben Gallenflüssigkeit, und der Überschuss an Zornessaft macht sie reizbar und lässt sie immer wieder jähzornig die Kontrolle über sich verlieren. Es gibt aber, wie Homer- Übersetzer Raoul Schrott, hervorhebt, durchaus unterschiedliche Zornestypen: O-Ton 2 (R. Schrott) Agamemnon ist ein Choleriker... Göttinnen motiviert ist. So umgarnt die Meeresgöttin Thetis, die Mutter des Achilleus, den Göttervater Zeus. Zur Strafe dafür, daß der griechische Heerführer ihren Sohn brüskiert hat, soll Zeus die
3 Trojaner erst einmal siegen lassen. Damit die Griechen spüren, wie sehr ihnen ihr stärkster Mann fehlt. Die Götter haben die Fäden in der Hand, die können zwar von Menschen verwundet und gereizt werden. Aber sie sind die Mächtigeren und Stärkeren. Lediglich ihren eigenen Gefühlen sind sie unterworfen -, und die folgen ganz ähnlichen Mustern wie bei den Menschen. Wie die Götter im Olymp so tragen auch die Personen auf den Schlachfeldern um Troja nicht individuelle Züge, sondern sie sind als Typen gestaltet. Rund 200 Jahre nach Entstehung der Ilias formulierte der Arzt Hippokrates seine bereits erwähnte Säftelehre, nach der er die menschlichen Charaktere nach vier Körpersäften einteilte: Der cholerische Charakter hat zu viel gelbe Galle und ist leicht reizbar. Der sanguinische Charakter hat zuviel Blut und ist heiter und aktiv. Der phlegmatische Charakter hat zuviel Schleim und ist schwerfällig. Der melancholische Charakter hat zuviel schwarze Galle und ist traurig und nachdenklich. Der römische Arzt Galen [Ga léhn] hat die hippokratische Säftelehre weiterentwickelt. Und in der Persönlichkeitspsychologie wird bis heute darauf bezug genommen. So wurde Florence Littauers Die vier Temperamente unter der Lupe ein Bestseller. Für Raoul Schrott, den Antiken-Kenner und Homer-Übersetzer bietet die Säftelehre eine gute Möglichkeit, die Charaktere der Ilias und deren emotionalen Haushalt zu beschreiben: O-Ton 3 (R. Schrott) Menelaos ist ein Phlegmatiker... er ist ein Ruhiger. Dabei sind die Griechen wegen Menelaos vor Troja gezogen, und sie belagerten die Stadt zehn Jahre lang, nur um die Frau des Menelaos, die schöne Helena, zurückzuerobern. Menelaos war tatsächlich ein phlegmatischer Typ. Sogar zur Brautschau ging er nicht selbst, sondern schickte seinen älteren Bruder Agamemnon vor, damit der an seiner Statt um die Hand von Helena anhielt. Alle mächtigen Fürsten Griechenlands begehrten damals Helena, die schönste aller Frauen: Als sie zu freien kamen, waren sie gegeneinander von Mordgelüsten erfüllt. So leisteten alle den Treueid, auf einem geopferten Pferd sehend, sich der Wahl der Helena zu unterwerfen und nachher dem Auserwählten zu helfen, wenn jemand die Frau ihm streitig machen wollte.
4 Es war Paris, der dem Menelaos die Braut raubte. Und deswegen mußten die Griechen in den Krieg gegen Troja ziehen. Aber nicht der phlegmatische Menelaos sondern der cholerische Agamemnon trommelte die griechischen Heerführer zusammen und erinnerte sie an ihren Treueeid. Phlegmatiker und Choleriker sind indessen die einzigen Charaktere, die in der Ilias in Reinform vorkommen. Aber es gibt melancholische und insbesondere sanguinische Momente. Als sanguinisch-heiter lassen sich die Szenen beschreiben, in denen die Götter in das sprichwörtliche Homerische Gelächter ausbrechen. Etwa über den Seitensprung der Aphrodite mit Ares; der betrogene Ehemann, Hephaistos hielt die beiden in der delikaten Situation durch ein unsichtbares Netz fest. Doch die Momente, an denen die niedrigen Götter ihrer Belustigung oder Schadenfreude Ausdruck geben konnten, sind in der düster-kriegerischen Ilias selten: O-Ton 4 (R. Schrott) Es gibt sanguinische Momente... wo das Blut in die Wangen steigt... aber: dann wieder massakriert und niedergemetzelt wird. Melancholisch wiederum sind zwar nicht die Protagonisten, meint Raoul Schrott, wohl aber die dichterische Stimme, die das kriegerische Geschehen und die Zeitläufte schildert: O-Ton 5 (R. Schrott) A: Melancholiker gibt es eigentlich in der Ilias nicht... Aber die Perspektive, aus der Homer die Menschen beschreibt, ist melancholisch... dass er nur mal kurz Position bezieht. Alles ist vergänglich, außer der Ruhm der Helden, wenn er von einem Dichter besungen wird, das ist die einzige, die melancholische Lehre, die aus der Ilias gezogen werden kann. Aber damit ist der Dichter nicht am Ende seines Lateins oder besser Griechisch, sondern wir spüren nur die Beschränktheit der Vier-Säftelehre des Hippokrates in bezug auf Homers Ilias. Ausgerechnet Odysseus, eine der zentralen Figuren Homers, könnte nach Hippokrates als Phlegmatiker eingestuft werden. Der große Dulder, wie er auch genannt wird, der keinen Umweg scheut, der besonnene Odysseus, der sich von seiner Vernunft leiten läßt und sich notfalls die Ohren zustopft, um nicht seinen Trieben nachzugeben und sich von den Sirenen bezirzen zu lassen. Das passiert indessen erst in der Odyssee. Im ersten Teil des Epos, in der Ilias, macht Odysseus noch seinem Namen alle Ehre. Denn Odysseus heißt auf griechisch der Gehaßte, wie der Altphilologe Karl Kerényi unterstreicht: Odysseus unternahm blutige Taten, und nicht nur solche, die zur Eroberung von Troja unerläßlich waen. Sie machten ihn bei vielen Menschen verhaßt, um nicht zu reden vom Haß des Aias gegen Odysseus. Riesenhaft von Gestalt, mit seinem turmhohen Schild,
5 ragte Aias wie aus älteren Zeiten in die Kämpfe um Troja hinein. Verwundbar war Aias nur in seiner unbändigen Natur, die keine Grenzen, weder der Raublust noch der Großzügigkeit kannte. Bei den Leichenspielen zu Achilleus Ehren sollte es mit ihm zum äußersten kommen. Die Meeresgöttin Thetis setzte die Rüstung ihres toten Sohnes zum Ehrenpreis des Helden aus, der im Krieg um Troja die größtren Verdienste hatte. Als die Entscheidung zugunsten des schlauen Odysseus und nicht des starken Aias ausfiel, tötete sich Aias im Wahnsinn. Noch in der Unterwelt zürnte er dem Odysseus und erwiderte seine versöhnlichen Worte nicht. Die Gefühlswelt der Ilias ist komplexer und vielfältiger als es herkömmliche Charakterlehren oder Freund-Feind-Schemata erlauben. Haß wie auch Liebe ziehen sich quer durch die Fronten. Ziel der medizinischen Lehre von den Säften - auf lateinisch humores ist die richtige, gesunde Mischung der Körpersäfte, bei der sich im Ergebnis der Humor einstellt. Homers Helden jedoch verfügen nicht über ein Gleichgewicht. Sie leben so intensiv wie möglich und ergeben sich völlig ihren Leidenschaften. - Vermutlich ist es das, was sie bis heute so attraktiv macht: O-Ton 6 (R. Schrott) Pathos und Ilias, diese Begriffe sind sehr eng miteinander verbunden... nicht im kitschigen Sinne der Gefühlsduselei... wo er menschlicher noch wird. So bietet die Ilias ein Wechselbad der Gefühle. Am deutlichsten wird das bei Achilleus. Zuerst ist sein Herz vom schmerzhaften Gefühl der Demütigung erfüllt, weil Agamemnon ihn beleidigt hatte, indem er ihm seine Kriegsbeute und Kebse abtreten mußte. Dann entflammt der Wunsch nach Rache in ihm. Zuerst in den eigenen Reihen gegen Agamemnon, dann gegen Hektor, der seinen Freund Patroklos ermordet hatte. Bei der Nachricht seines Todes geht er vor Schmerz zu Boden. Er ist so sehr von dem glühenden Verlangen nach Rache erfüllt, daß er ohne zu frühstücken in die Schlacht ziehen will, den Mörder Hector mordet. Erbarmungslos schleift er dessen Leiche elf mal um den Grabhügel seines Freundes Patroklos. Schließlich erweicht ihn das Flehen von Priamos, dem Vater Hektors. Achill fühlt Mitleid mit dem Vater. Er gibt die Leiche frei und zeigt so Respekt vor dem Feind. Für den Altphilologen Uvo Hölscher ist das der Kern der Ilias, der die emotionalen Säfte wenigstens am Ende der Geschichte wieder ins Gleichgewicht bringt: Die Weisheit des Dichters hat ihm zuletzt die tiefgreifendste Umkehrung des Überlieferten eingegeben, indem er der alten Rachegeschichte den versöhnenden Schluß gab. Erst dieses Ende enthält den ganzen Achill. Es gehört zu der Größe Homers, menschlichen wie dichterischen, wie er unsere Teilnahme für Hektor und für Achill, für den Edlen, sich Überwindenden und für den Unheimlich-Widersprüchlichen,
Naturgewaltigen, so Liebenden wie Hassenden, so Grausamen wie Zarten im Gleichgewicht hält. 6 Die Zivilisation, die sublimierten Gefühle, siegen am Ende über die blindwütige Barbarei; bei aller Grausamkeit gibt es doch Humanes. So steht nicht der Untergang von Troja am Ende der Ilias er wird erst im Rückblick in der Odyssee erzählt, sondern das positive Gefühl der Achtung und des Respekts auch vor dem Feind, ermöglicht durch die Einfühlung in die Gefühlswelt des Anderen. Das Totenbankett am Ende der Ilias gibt den Menschen Raum für ihre Trauer, und hierüber gelingt ihnen auch die Versöhnung mit sich selbst. (evtl. Musikschluss)