Erkenntnistheorie I. Platon I: Der klassische Wissensbegriff Was kann man ( sicher ) wissen? Wie gelangt man zu ( sicherem ) Wissen?

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5. Ist Wissen gerechtfertigte wahre Überzeugung?

Transkript:

Erkenntnistheorie I Platon I: Der klassische Wissensbegriff Was kann man ( sicher ) wissen? Wie gelangt man zu ( sicherem ) Wissen? Sokrates * ca. 470 v. Chr. (Athen) + 399 v. Chr. (Athen, hingerichtet) Sohn des Bildhauers Sophronikos und der Hebamme Phainarete; verheiratet mit Xanthippe, drei Söhne, von Beruf Bildhauer; Haupttätigkeit: Philosophieren Asketische Lebensweise, Tapferkeit Als Philosoph auf der Suche nach Weisheit und dem Wesen des guten Lebens, d.h. nach Sokrates: des tugendhaften Leben, unabhängig von anderen Gütern Weigerung, selbst Unrechtes zu tun ( besser Unrecht erleiden als Unrecht tun ) Ich weiß, dass ich nichts weiß Sokratische Elenktik (griech. Widerlegung ): Aufdeckung von Scheinwissen Mäeutik (griech. Hebammenkunst): Hilfe bei der Klärung von Wissen, das schon vorhanden ist Angeklagt und zum Tode verurteilt wegen Verführung der Jugend und Einführung neuer Götter Philosophie nur mittelbar überliefert: Platonische Dialoge 1

Platon (ca. 427-347, Athen) Jüngster Sohn einer bekannten und reichen Familie aus der Athener Oberschicht; zunächst für politische Laufbahn vorgesehen; wegen enttäuschender Erfahrungen nicht verfolgt (Herrschaft der Dreißig nach dem Peleponesischen Krieg (431-404)) Ab 407 Schüler des Sokrates Nach 399 Reisen nach Sizilien (Kontakt zu pythagoreischen Mathematikern, Verwicklung in politische Angelegenheiten) ca. 387: Gründung der platonischen Akademie (bis 88 v. Chr.; ca. 410 erneute Gründung durch Neuplatoniker, bis 529) Auseinandersetzung mit den Ideen der Tugend und des Guten gegen Relativismus in der Ethik (Sophisten) Gegen Überredungskunst der Sophisten Auseinandersetzung mit Mathematik, Geometrie, Politik, Sprache, Metaphysik etc. ca. 30 Dialoge Platonische Dialoge (Die Gliederung wird nach stilistischen Gesichtspunkten vorgenommen; die inhaltlichen Charakterisierungen gelten nicht uneingeschränkt) Frühe Dialoge: Prozess des Sokrates (Apologie, Kriton); Definitionen von Tugenden oder Wertbegriffen: Tapferkeit (Laches), Besonnenheit (Charmenides) etc; aporetische Definitionsdialoge ; d.h. keine endgültigen Lösungen Menon: Lehrbarkeit der Tugend (Wie ist es möglich, überhaupt etwas über die Tugend zu wissen? Wie ist es überhaupt möglich, zu Wissen zu gelangen?) Auseinandersetzung mit Sophisten (Protagoras, Gorgias) Mittlere Dialoge: Erweiterung des Themenspektrums: Mathematik, Unsterblichkeit der Seele (Phaidon), Liebe und Sexualität (Symposion, Phaidros), Sprachphilosophie, Staatsphilosophie (Der Staat) u.a.m.; hierher gehört auch der Theätet. Es werden oft Antworten unter der Voraussetzung der Ideenlehre formuliert. Späte Dialoge Komplexe metaphysische Themen, kritische Auseinandersetzung mit der Ideenlehre der mittleren Dialoge und überhaupt mit ihren Antwortversuchen; theologische Überlegungen (Timaios) 2

Theätet: Was ist Wissen? 200 d 201 d Erster Definitionsversuch: Wissen ist wahre Meinung. (S. 4, Z. 11) [s weiß, dass p: s ist überzeugt, dass p, und p ist auch tatsächlich wahr; man kann zwar etwas Falsches glauben, aber man kann es (das Falsche) nicht wissen.] Problem: Wahre Meinung scheint zwar notwendig, aber nicht hinreichend für Wissen zu sein. Es scheint Fälle zu geben, in denen jemand etwas Wahres glaubt, es aber nicht weiß. Vgl. den Fall eines Richters, der zu einer bestimmten (zufällig) wahren Überzeugung nur durch Überredung gekommen ist, aber nicht durch Belehrung. (Und auch nicht dadurch, dass er es selbst gesehen hätte.) s weiß, dass p: s ist überzeugt, dass p + p ist wahr + x x: Erklärung, Begründung (griech. lógos) Klassische Definition: Wissen ist begründete, wahre Überzeugung. Ein Problem der klassischen Wissensdefinition ( Wissen ist begründete, wahre Überzeugung ) (Theätet 201d-206b) Wodurch kann eine wahre Meinung begründet so sein, dass sie ein Wissen darstellt? Durch eine andere wahre Meinung? Das reicht nicht; diese andere wahre Meinung müsste ihrerseits begründet sein; wenn nämlich eine bloße wahre Meinung ausreichte, um eine andere so zu begründen, dass aus ihr ein Wissen wird, könnte ich ebenso gut bei der ersten wahren Meinung stehen bleiben; der Unterschied zwischen wahrer Meinung und Wissen fiele dann weg. Begründungen können aber nicht unendlich sein. Ist Wissen dann gar nicht möglich? Der Dialog endet aporetisch. 3

Moderne Positionen Fundamentalismus Kohärentismus Die Begründungen können an irgendeiner (bestimmten) Stelle abbrechen; z.b. bei elementaren Wahrnehmungsaussagen: Ich sehe einfach, dass p. (Logischer Empirismus/ Positivismus) Die verschiedenen Überzeugungen stützen sich in gewisser Hinsicht gegenseitig. Sie müssen ein zusammenhängendes, kohärentes System bilden, um Wissen zu sein. Verschiedene Enden eines Spektrums von Positionen Bei Platon: Wissen hat auch die Bedeutung von Bescheidwissen über eine Sache oder ein Ding, es kennen, wissen, was es ist: Es in all seinen Eigenschaften und seinen Bezügen zu Anderem durchschauen; eine vollständige Erklärung (lógos) dafür zu haben. Von welchen Gegenständen/Sachverhalten kann man ein solches Wissen haben? Nicht von einzelnen Gegenständen der empirischen Welt als solchen: dazu ist die empirische Welt zu unübersichtlich. Man kann kaum alle Faktoren kennen, die z.b. damit zu tun haben, dass meine Schreibtischlampe brennt (Wer sie hergestellt hat; wozu sie da steht; wie elektrischer Strom auf den Glühdraht wirkt; welche Rolle das Vakuum in der Glühbirne spielt;...) Ein Problem stellen dabei auch die Veränderungen in der Sinnenwelt dar; ferner die Möglichkeit von Wahrnehmungstäuschungen. 4

Echtes Wissen im platonischen Sinn gibt es nur von ewigen Dingen, die wir als abstrakt bezeichnen würden: u.a. von mathematischen und geometrischen Sachverhalten (jedenfalls im Menon), ferner von Begriffen wie Tugend etc. Sokrates Argumentation im Menon (81e 86 b) Stufen der Erkenntnis beim Knaben: Irrtum, falsche, unreflektierte Überzeugung: "zu einem gegebenen Quadrat erhält man ein Quadrat mit dem doppelten Flächeninhalt, wenn man die Seitenlänge des ursprünglichen Quadrats verdoppelt" (in Wirklichkeit: man erhält ein Quadrat mit der vierfachen Fläche) (S. 7, Z. 25) Durch geschickte Befragung wird der Irrtum erkannt. (S. 8, Z. 1-34) Ein weiterer Irrtum wird begangen und berichtigt, der vom falschen Weg abführt: die richtige Antwort kann man nicht durch "Zählen", sondern nur durch einen geometrischen, konstruktiven Beweis erbringen (S. 9). Erreichen von Nichtwissen und Verwunderung; nötig, um zu echtem Wissen zu gelangen (S. 10, Z. 3). Erreichen von echtem, begründetem Wissen (ab S. 11). 5

Anamnesis (Wiedererinnerung) und Unsterblichkeit der Seele Sokrates belehrt den Sklaven nicht, d.h. er teilt ihm kein Wissen mit; er führt den Sklaven zu Wissen, indem er ihn befragt; das scheint zu bedeuten, dass er Wissen, das der Sklave schon irgendwie hat, zum Vorschein bringt; wenn Wissen, das man schon irgendwie hat, wieder zum Vorschein kommt, dann ist das genau Erinnerung (S. 12, Z. 28). In diesem als Mensch hat der Sklave das Wissen nicht erworben; er kann es also nur erworben haben, bevor er das Leben als Mensch begann; dann muss er vor diesem Leben aber schon existiert haben, und offenbar nicht als Mensch; sondern als Seele; die Seele ist also unsterblich. (S. 13) Der Status apriorischer geometrischer und mathematischer Sätze Konzeptualismus: Mathematische und geometrische Begriffe sind durch uns festgelegt; mathematisch bzw. geometrisch wahre Sätze folgen aus den Definitionen, die wir den Begriffen geben; sie sind analytisch wahr, d.h. aufgrund der begrifflichen Festlegungen, die wir selbst vornehmen; sie handeln nicht von Objekten in der Welt. (logischer) Empirismus: alle synthetische Erkenntnis über Dinge der Welt stammt aus der Erfahrung, ist nicht a priori. Platonismus: Mathematische und geometrische Begriffe bezeichnen real existierende Objekte ( Ideen ). Math. u. geometrische wahre Sätze folgen nicht aus von uns beliebig festgelegten Definitionen; sie handeln von objektiv existierenden Gegenständen, zunächst den Ideen, die uns die richtigen Definitionen vorgeben. Rationalismus: Es gibt synthetische Erkenntnis über Dinge der Welt, die a priori gewonnen wird. 6

Zusammenfassung Der klassische Wissensbegriff: Wissen ist wahre, gerechtfertigte Überzeugung Was kann man ( sicher ) wissen? Wahrheiten über die Ideenwelt (im Menon z.b. über Geometrie; keine Wahrheiten über die materielle Sinneswelt) Wie gelangt man zu ( sicherem ) Wissen? Wiedererinnerung (Anamnesis) 7