Bachelor in de Taal- en letterkunde: twee talen "Duitse taalvaardigheid II" (Ba2) Kursleiter: Dr. Torsten Leuschner Studienjahr 2005-2006 Wörter des Jahres 2005 1. Bundeskanzlerin von Helena Elshout überarbeitet von Torsten Leuschner
Inhalt 1. Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin und achter Bundeskanzler 3 2. Bundeskanzlerin als Wort des Jahres 2005 3 3. Die feministische Linguistik 4 4. Bundeskanzlerin.de 5 5. Das Amt des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin 6 6. Leben und Karriere Angela Merkels 7 2
Zur Einführung Das Wort Bundeskanzlerin ist in Deutschland zum Wort des Jahres 2005 gewählt worden. Was macht dieses Wort, das im Gegensatz zu den anderen neun Wörtern des Jahres sehr leicht zu verstehen ist, zum wichtigsten verbalen Leitfossil des vergangenen Jahres? 1. Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin und achter Bundeskanzler Im Zusammenhang mit der Wahl Angela Merkels zur Bundes-kanzlerin September 2005 wurden in der Öffentlichkeit auch Betrachtungen im Hinblick auf den sprachlichen Umgang mit dem ersten weiblichen Amtsinhaber angestellt. So wurde fest-gestellt, dass die offizielle Anrede für eine Frau im höchsten Regierungsamt Frau Bundeskanzlerin lautet. Schon 2004 ist diese Anrede in den Duden aufgenommen worden. Im Grundgesetz dagegen ist nur vom Bundeskanzler im generischen Maskulinum die Rede. Ferner wurde auch klar, dass Angela Merkel zwar die erste Bundeskanzlerin (im Femininum), gleichzeitig aber auch der achte Bundeskanzler (im generischen Maskulinum) ist. Das Bundeskanzleramt bleibt wegen der Bezugnahme auf die Amtsbezeichnung im generischen Maskulinum in seiner grammatikalischen Form erhalten. Es heißt also nicht Bundeskanzlerin(nen)amt, es sei denn in ultra-feministischen Kreisen. 3
2. Bundeskanzlerin als Wort des Jahres 2005 Ebenfalls im Zusammenhang mit der erstmaligen Wahl einer Frau ins Amt des Bundeskanzlers wurde das Wort Bundeskanzlerin am 16. Dezember 2005 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt. Der Ausdruck wirft sprachlich interessante Fragen auf. Die feminine Endung -in an Berufs- und Personenbezeichnungen ist natürlich nicht neu. Dennoch wäre vor wenigen Jahrzehnten auch eine Frau an der Spitze der Regierung als Bundeskanzler bezeichnet worden. Spätestens seit dem Beginn des Bundestagswahlkampf hatte sich mit Kanzlerkandidatin Angela Merkel aber auch die Bezeichnung Bundeskanzlerin etabliert. An eine Bundeskanzlerin war lange nicht zu denken. Schon bis zur ersten Ministerin hatte es lange gedauert: Konrad Adenauer (der erste Bundeskanzler) holte 1961 die erste Ministerin in sein Kabinett, und er sagte dennoch stets zur Begrüßung: Morgen, meine Herren! Aber sogar mit der Einführung des Wortes Ministerin sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Zum Beispiel spricht man bei einer Gruppe, die aus neunzehn Ministerinnen und einem männlichen Minister besteht, sprachlich korrekt von zwanzig Ministern. Dasselbe gilt bei Studentin, Teilnehmerin usw. 3. Die feministische Linguistik Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die Frauen im System der deutschen Sprache die schwächere Partei sind. Dagegen trat Ende der siebziger Jahre die feministische Linguistik an. Ihre Hauptkritik an der deutschen Sprache richtet sich gegen den Gebrauch des generischen Maskulinums. Durch Vermischung von generischem und spezifischem Maskulinum würden Frauen sprachlich systematisch neutralisiert und unsichtbar gemacht. Während Männer immer 4
gemeint seien, sei bei jeder Aussage im Maskulinum unklar, ob Frauen mitgemeint seien oder nicht. Mit Richtlinien für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch versucht die feministische Linguistik, die sprachliche Benachteiligung der Frauen zu verringern. Statt aller Minister im generischem Maskulinum soll man zum Beispiel alle Minister und Ministerinnen sagen, wenn Frauen mitgemeint sind. Das nennt man Splitting. Splitting ist aber nicht immer möglich, denn es kann zu unmöglich komplexen Sätzen führen wie In einer Notlage sollte jede Frau und jeder Mann ihrer oder seiner Nachbarin / ihrem oder seinem Nachbarn helfen. Zur Vereinfachung ausgeschriebener Doppelformen wird daher der Gebrauch des umstrittenen Binnen-I empfohlen, zum Beispiel MinisterInnen für Minister und Ministerinnen. Die Popularität der feministischen Linguistik hat zur Folge, dass viele dieser Richtlinien inzwischen in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen sind. Die feministische Linguistik hat aber auch viele Gegner, insbesondere im Hinblick auf das Binnen I, weil der Unterschied zwischen MinisterInnen und Ministerinnen in der Aussprache nicht deutlich ist und dann also wieder die Männer diskriminiert würden. Es gibt auch Leute, die nicht verstehen, weshalb man sich so aufregt, denn die Sprache trage ja doch nichts zur wesentlichen Gleichberechtigung der Geschlechter bei. Hinter diesem fortwährenden Konflikt steht eigentlich eine philosophische Prinzipienfrage, nämlich ob die Sprache die Menschen bestimmt oder die Menschen die Sprache bestimmen. 4. Bundeskanzlerin.de Wer Bundeskanzler.de eingibt, wird automatisch auf diese Seite weitergeleitet Der Berliner Student Lars Heitmüller ist ein Befürworter der Gleichberechtigung der Frau. Er sicherte sich schon vor zwölf Jahren die Internet-Adresse Bundeskanzlerin.de. Er wollte sie nicht verkaufen, sondern der ersten 5
Bundeskanzlerin bei ihrer Wahl symbolisch übergeben, um so der Gleichberechtigung auf die Sprünge zu helfen. Wer also heutzutage Bundeskanzler.de eingibt, wird automatisch auf Bundeskanzlerin.de weitergeleitet und landet bei Merkel. Für eine eventuelle zukünftige erste Bundespräsidentin ist auch die Adresse Bundespräsidentin.de bei ihm erhältlich. Heitmüller freut sich sich darüber, dass aus einer komischen Idee reale Politik geworden ist. 5. Das Amt des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin Aber was besagt der Titel Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin, worin besteht die Funktion der betreffenden Personen? Der Bundeskanzler ist der Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland: Er wird vom Parlament gewählt, setzt die Bundesminister ein und bestimmt die Richtlinien ihrer Politik. Entsprechende Amtsbezeichnungen variieren von Land zu Land. Der österreichische Regierungschef zum Beispiel wird auch Bundeskanzler genannt, während man in Belgien vom Ersten Minister und in anderen Ländern vom Ministerpräsidenten oder Premierminister spricht. Deutschland ist ein demokratisch-parlamentarischer Bundesstaat. Das politische System in Deutschland ist also wie in Belgien föderal (d.h. die Bundesrepublik besteht aus mehreren Bundesländern) und eine Parlamentarische Demokratie. Der Bundeskanzler wird vom Bundestag, dem Parlament, gewählt und kann vor Ablauf der Legislaturperiode (die vier Jahre dauert) nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst werden. In einer parlamentarischen Demokratie bezeichnet man als Misstrauensvotum einen mehrheitlichen Parlamentsbeschluss, mit dem der Regierungschef abgesetzt wird. Ein Misstrauensvotum enthebt denjenigen, gegen den es gerichtet ist, seines Amtes. Bei einem konstruktiven Misstrauensvotum muss gleichzeitig ein neuer Kandidat gewählt werden. Auf diese Weise ist 6
das Parlament gezwungen, eine Regierungskrise aktiv zu entschärfen, indem es die exekutive Macht gleichzeitig neu ausrichtet, statt lediglich zu demonstrieren, dass es mit dem bisherigen Kurs der Regierung nicht einverstan-den ist. Der Bundeskanzler ist faktisch der mächtigste deutsche Politiker, obwohl er im Protokoll erst nach dem Bundes-präsidenten, dem Staatsoberhaupt, steht. Die Macht des deutschen Bundespräsidenten können wir mit der Macht unseres belgischen Königs vergleichen. Das Amt des Bundespräsidenten wird jedoch nicht vererbt, sondern von der Bundesversammlung durch Wahl vergeben. Daher ist Deutschland eine Republik, während Belgien eine Monarchie ist. Der heutige Bundespräsident ist Horst Köhler. 6. Leben und Karriere Angela Merkels Nachdem wir nun wissen, worin ihr Amt besteht, gehe ich näher auf das Leben und die Karriere der ersten Bundeskanzlerin ein. Angela Merkel wurde 1954 in Hamburg geboren, ist heute also einundfünfzig Jahre alt. Den größten Teil ihrer Jugend hat sie in Brandenburg in der ehemaligen DDR verbracht. Zum Studium der Physik zog sie nach Leipzig, dann wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in Berlin und promovierte. Der Fall der Mauer 1989, auf den die deutsche Vereinigung folgte, gab ihr die Gelegenheit, sich für ihre Über-zeugungen öffentlich einzusetzen. Deshalb begann sie ihre politische Karriere als Presse-sprecherin des Demokratischen Aufbruchs. Ein Jahr später trat sie der CDU, der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, bei. Diese große Volkspartei der Mitte versteht sich als christdemokratisch, liberal und konservativ. Merkel war 1994 Bundesministerin für Frauen und Jugend, anschließend Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der nachhaltige Umgang mit den Ressourcen der Erde und die Chancen der jungen Generation sind Themen, die sie noch immer sehr beschäftigen. Im September 2005 wählten 7
die Abgeordneten von CDU, CSU und SPD Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Seitdem steht sie einer großen Koalition vor. Diese Koalition besteht, wie erwähnt, aus CDU/CSU und SPD. Die Christlich-Soziale Union (CSU), eine christlich-konservative Partei aus Bayern, bildet im Deutschen Bundestag eine christdemokratische Fraktionsgemeinschaft mit ihrer Schwesterpartei, der CDU. Ein ungefähr entsprechendes Beispiel einer Fraktionsgemeinschaft in Belgien ist das Kartell SP.A-Spirit. Die SPD ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und wurde zur Zeit der Wahl Merkels von Matthias Platzeck geleitet. Er ist inzwischen aber aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, sein Nachfolger ist Kurt Beck. Angela Merkel ist eine populäre Bundeskanzlerin. Ihr Stil wird als pragmatisch und schlicht umschrieben. Anders als ihre Vorgänger, die westdeutschen Männer der Nachkriegsgesellschaft, muss eine Frau aus der ehemaligen DDR nicht nur das Lebensmodell kontinuierlichen Aufstiegs kennen, sondern auch das Umsteigen lernen. Neuanfänge und Zwischenlösungen dürfen nicht notwendigerweise als Niederlagen empfunden werden. Ob sie aber das große Problem der deutschen Arbeitslosigkeit lösen kann, wird sich erst allmählich herausstellen. Angela Merkel ist nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch im Rest Europas und in den USA sehr beliebt. In den ersten Monaten ihres Bundeskanzleramtes machte sie mehrere Auslandsreisen, u.a. in die USA zu ihrem Freund George Bush und nach Moskau. Das gab aber auch Anlass zur Kritik, nämlich dass sie die Innenpolitik zu vergessen drohe. Auf jedem Fall hat Angela Merkel mit der Wahl zur ersten deutschen Bundeskanzlerin schon jetzt Geschichte geschrieben, sowohl politisch als auch linguistisch. 8