FESSEL-GfK Institut für Marktforschung GmbH Ungargasse 37 A-1030 Wien T +43-1-71710 F +43-1-71710-194 www.gfk.at Analyse der Nationalratswahl 2002 Muster, Trends und Entscheidungsmotive Univ.-Prof. Dr. Fritz Plasser (Universität Innsbruck) Univ.-Doz. Dr. Peter A. Ulram (FESSEL-GfK) Wien, am 25. November 2002
Der vorliegende Bericht bietet eine erste sozialwissenschaftliche Analyse des Verhaltens der österreichischen Wähler und Wählerinnen bei der Nationalratswahl 2002. Methodisch stützt sich die Analyse auf Daten einer repräsentativen Wahltagsbefragung (Exit-Poll). Dabei wurde eine bundesweite Stichprobe von N = 2.200 Wählern unmittelbar nach Verlassen der Wahllokale über ihr Wahlverhalten und entscheidungsrelevante Hintergrundmotive befragt. Vom FESSEL-GfK-Institut wurden nach dem Zufallsprinzip aus allen österreichischen Wahllokalen 160 Einsatzorte selektiert. Die 107 im Einsatz stehenden Interviewer des Instituts hatten dabei die Vorgabe, innerhalb bestimmter Zeiten (am Vormittag bzw. frühen Nachmittag des Wahlsonntags) Wähler nach Verlassen des Wahllokals zu interviewen. Die Auswahl der Befragten musste sich zusätzlich an einem vorgegebenen geschlechts- und altersspezifischen Quotenplan orientieren. Der vorliegende Bericht beschränkt sich aus Zeitgründen auf die wesentlichsten Strukturen und Muster im Wählerverhalten. Eine Buchpublikation mit Analysen der Veränderungen im österreichischen Wählerverhalten ist für Frühjahr 2003 geplant. 1 1 Fritz Plasser und Peter A. Ulram (Hg.). Wahlverhalten in Bewegung. Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien 2003 (WUV Universitätsverlag). 1
Die vorgezogenen Nationalratswahlen 2002 sind von einer Reihe dramatischer politischer Ereignisse eingeleitet worden: die FPÖ-internen Konflikte mit dem Rückzug der Vizekanzlerin, des Finanzministers und des Klubobmannes, die daraufhin erfolgte Aufkündigung der ÖVP-FPÖ-Koalition durch den Bundeskanzler und der Neuwahlbeschluss. Trotz der Zuspitzung der innenpolitischen Lage brachten die Stimmbürger dem beginnenden Wahlkampf zunächst noch ein eher gedämpftes Interesse entgegen: Mitte Oktober zeigten sich 24 % am Wahlkampf sehr interessiert, ein Wert, der in etwa jenem des Vergleichszeitraumes 1999 entsprach (26 %). Danach stieg das Interesse stetig an: Anfang November waren 29 % und eine Woche vor dem Wahltag bereits 41 % sehr interessiert; dazu kamen noch 33 % am Wahlkampf ziemlich Interessierte. Lediglich ein Viertel der Wahlberechtigten zeigte sich vom Wahlkampfgeschehen weitgehend unberührt. Das hohe Interesse fand auch in den Zuseherzahlen der TV-Konfrontationen der Spitzenkandidaten seinen Niederschlag (bei der abschließenden Elefantenrunde überstieg die Seherzahl zeitweilig sogar die 2-Millionen-Grenze) und beeinflusste sichtlich auch die Wahlbeteiligungsabsicht: in der letzten Woche vor der Wahl bekundeten 88 % ihre Absicht, sicher zur Wahl zu gehen, das waren um rund fünf Prozentpunkte mehr als in der Woche vor den Nationalratswahlen 1999. Die ÖVP stellte von Anfang an die Person ihres Spitzenkandidaten und amtierenden Bundeskanzlers in das Zentrum ihres Wahlkampfes, flankiert von den Argumenten der Fortführung des Reformkurses und der Bewahrung von Stabilität, sowie Warnungen vor einer rot-grünen Koalition. Die Entscheidung von Finanzminister Grasser, als Unabhängiger weiter in einer ÖVP-geführten Regierung als Finanzminister zur Verfügung zu stehen, und die negative Nachrichtenlage aus der benachbarten rot-grün regierten Bundesrepublik Deutschland verliehen dieser Linie zusätzliche Dynamik. Insgesamt erwies sich die ÖVP-Kampagne als weitgehend konsistent vorgetragen. Die SPÖ stellte zunächst die Kritik an der Regierungskoalition und eine Reihe inhaltlicher Themen in den Mittelpunkt der Argumentation, ging dann aber zunehmend von der Linie eines Lagerwahlkampfes ab. Sowohl die präsentierten Quereinsteiger als auch die Oppositionsansage im Falle einer Verfehlung der führenden Position richteten 2
sich eher gegen den früheren Bündnispartner GRÜNE. Dadurch wurden auch die GRÜNEN, die zunächst ihren Wahlkampfschwerpunkt auf die Person ihres Spitzenkandidaten und die Ablöse von schwarz-blau durch rot-grün ausgerichtet hatten, zu einer Modifikation der Strategie veranlasst: ihr zentrales Argument in der Schlussphase war die Aufforderung zu einem Votum gegen eine große SPÖ-ÖVP- Koalition. Die Wahlkampfstrategie der FPÖ erwies sich nicht zuletzt aufgrund der innerparteilichen Turbulenzen als weitgehend erratisch und grosso modo negativ akzentuiert. Der Widerhall der Wahlkampfführung zeigte sich nicht zuletzt in der Motivationslage der Wählerschaft. Stand zu Beginn die Frage, welche Koalition das Land regieren soll, eindeutig im Vordergrund, so gewann im Verlauf der Auseinandersetzung die Kanzlerfrage zunehmend an Bedeutung. Von den Spitzenkandidaten wurde Bundeskanzler Schüssel als der mit Abstand beste Wahlkämpfer gesehen dies mit steigender Tendenz. Auch SPÖ-Kandidat Gusenbauer konnte seine entsprechenden Werte verbessern, so dass er in der Endphase deutlich vor dem GRÜNEN-Kandidaten Van der Bellen lag. 3
Hinter dem Ergebnis der Nationalratswahl 2002 stehen in der österreichischen Wahlgeschichte bislang beispiellose Stimmen- und Mandatsveränderungen. Die ÖVP konnte ihren Stimmenanteil um +15,4 % erhöhen und erzielte damit ihren höchsten Stimmenanteil seit der Nationalratswahl 1983. Die FPÖ wiederum musste die bislang schwersten Stimmenverluste einer österreichischen Parlamentspartei ( -16,8 %) in Kauf nehmen und näherte sich damit nach einer kontinuierlichen Aufschwungphase wiederum ihrem Anteilsniveau bei der Nationalratswahl 1986. Die SPÖ konnte zwar ihren Stimmenanteil um 3,7 % erhöhen, verlor aber ihre Position als stimmenstärkste Partei, die sie seit 1970 ohne Unterbrechung innehatte. Die Grünen erreichten mit einem Stimmengewinn von +1,6 % ihr bislang bestes Wahlergebnis, verfehlten aber ihr ambitioniertes Wahlziel einer tendenziellen Verdoppelung ihres Stimmenanteils. 4
Tab.: Nationalratswahlen in Österreich 1979 2002 In Prozent SPÖ ÖVP FPÖ Grüne LIF 1979 51,0 41,9 6,1 n.k. n.k. 1983 47,7 43,2 4,9 3,3 n.k. 1986 43,1 41,3 9,7 4,8 n.k. 1990 42,8 32,1 16,6 4,8 n.k. 1994 34,9 27,7 22,5 7,3 6,0 1995 38,1 28,3 21,9 4,8 5,5 1999 33,2 26,9 26,9 7,4 3,7 2002*) 36,9 42,3 10,2 9,0 1,0 *) Vorläufiges Ergebnis ohne Wahlkartenstimmen. n.k. = nicht kandidiert. 5
Die beispiellosen Stimmenveränderungen fanden auch in dementsprechenden Mandatsverschiebungen ihren Niederschlag. Die ÖVP erhöhte ihre Mandatszahl um + 27 Sitze, die FPÖ verlor 33 ihrer bislang 52 Sitze, die SPÖ erhöhte ihren Mandatsstand um 4 Sitze und die Grünen konnten zu ihren 14 Sitzen weitere 2 Mandate dazugewinnen, wobei sich die Mandatsverteilung nach Auszählen der Wahlkartenstimmen um ein bis maximal zwei Sitze noch verändern kann. Auch die Wahlbeteiligung, die vor Auszählen der Wahlkarten bereits bei 80,5 % liegt, dürfte nach Berücksichtigung der Wahlkartenstimmen in Richtung 85 % steigen. 1999 lag die Beteiligung bei 80,4 Prozent. Tab.: Mandatsverteilung im österreichischen Nationalrat 1979 2002 Anzahl der Mandate SPÖ ÖVP FPÖ Grüne LIF 1979 95 77 11 n.k. n.k. 1983 90 81 12 0 n.k. 1986 80 77 18 8 n.k. 1990 80 60 33 10 n.k. 1994 65 52 42 13 11 1995 71 52 41 9 10 1999 65 52 52 14 0 2002*) 69 79 19 16 0 *) Vorläufiges amtliches Endergebnis ohne Wahlkartenstimmen. n.k. = nicht kandidiert. 6
In der Wahlnacht wurde die These aufgestellt, dass das Wahlergebnis von 2002 im wesentlichen nur eine Verschiebung innerhalb des bürgerlichen Lagers mit sich gebracht habe. Diese These ist in mehrfacher Hinsicht falsch: 1. Unter Lager versteht man gemeinhin sozial und ideologisch verankerte Wählerblöcke. Solche sind jedoch kaum mehr auszumachen, da 2002 nur noch ein Viertel der Wähler als (subjektive) Stammwähler bezeichnet werden können. 2. Selbst wenn man wissenschaftlich inkorrekt als Lager die Wählerschaften von ÖVP/FPÖ auf der einen Seite, von SPÖ/Grünen (wohl auch LIF) auf der anderen sieht, also die frühere Regierungs- und Oppositionskonstellation, so kann sich diese Äußerung maximal auf einen Vergleich von 1999 und 2002 beziehen. Dies verstellt aber den Blick, da die FPÖ bekanntlich nicht nur 1999, sondern bereits in früheren Wahlgängen deutliche Stimmenzuwächse erzielt hatte. 3. In Zahlen NRW 86 99 02 99-02 86-02 SPÖ 43,1 33,2 36,9 +3,7-6,2 ÖVP 41,3 26,9 42,3 +15,4 +1,0 FPÖ 9,7 26,9 10,2-16,7 +0,5 Grün+LIF 4,9 11,1 9,9-1,2 +5,0 4. Dies bedeutet in längerfristiger Perspektive, dass Die ÖVP ihre Verluste seit 1986 im Jahr 2002 mehr als wettmachen konnte Die SPÖ nach wie vor deutlich unter ihrem Stand von 1986 liegt (2002 war das zweitschlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der SPÖ überhaupt) Und insbesondere nur einen Bruchteil jener Wähler, den sie 86-99 an die FPÖ verloren hatte, wieder zurückgewinnen konnte Während die Mehrheit jener Wähler, die 86-99 von der SPÖ zur FPÖ gewechselt hatten, nunmehr die ÖVP wählten. 7
Auch die Nationalratswahlen 2002 bestätigen den langfristigen Trend, wonach die endgültige Wahlentscheidung immer später sprich näher zum Wahltag hin getroffen wird: 23 % der Wähler und Wählerinnen des 24. November hatten ihre definitive Entscheidung während der Endphase des Wahlkampfes getroffen. Beinahe ein Viertel (22 %) der Wähler und Wählerinnen vom 24. November 2002 gaben an, sich für eine andere Partei entschieden zu haben als 1999. Dies stellt den höchsten Wechselwähleranteil der österreichischen Wahlgeschichte und damit eine Fortsetzung des Trends zu immer höherer Wählermobilität dar. Vermutlich dürfte die faktische Wählermobilität sogar noch etwas höher gewesen sein. In jedem Fall ist der hohe Wechselwähleranteil jedoch ein Beweis dafür, dass die Ähnlichkeiten des Parteiensystems von 2002 mit jenem vor eineinhalb Jahrzehnten eher oberflächlicher Natur sind: es gibt zwar zwei Großparteien und zwei kleine Parteien, doch beruht die Stärke der Großen nicht mehr auf stabilen Wählerblöcken, sondern auf ihrer mehr (ÖVP) oder minder (SPÖ) starken Attraktionstätigkeit für mobile Wähler. Völlig anders als bei früheren Wahlgängen stellte sich zudem das Wahlverhalten der Wechselwähler dar. Hatte die FPÖ 1986 1999 immer am meisten von den Parteiwechslern profitiert, so entschieden sich 2002 nur 6 % der Wechselwähler für die FPÖ. Auch die Grünen konnten nur eine relativ kleine Zahl dieser entscheidenden Wählergruppe an sich ziehen. Umgekehrt wählte beinahe jede(r) zweite Parteiwechsler(in) diesmal die ÖVP, die ja insgesamt zu zehn Wählern von 1999 noch etwa sechs neue hinzugewinnen konnte. Damit gelang der ÖVP die bislang stärkste Motivation für mobile Wähler in ihrer Geschichte. Ein Drittel der Wähler und Wählerinnen (34 %) hatte im Laufe des Wahlkampfs auch überlegt, eine andere Partei zu wählen als diejenige, der sie schlussendlich ihre Stimme gaben. 8
Die Dominanz der ÖVP zieht sich durch das Gros der sozialen Gruppen. Besonders ausgeprägt war der ÖVP-Vorsprung unter Männern und hier den berufstätigen Männern, doch auch bei berufstätigen Frauen entschieden sich mehr für die ÖVP als für die SPÖ. Gleichermaßen lag die ÖVP bei männlichen wie weiblichen Pensionisten vor der Sozialdemokratie. Die ÖVP stellte auch die Mehrheit in allen Altersgruppen. Unter den Berufstätigen votierten 95 % der Landwirte, 60% der Selbständigen und 55 % der Freiberufler für die Volkspartei, bei Beamten und Angestellten kamen die ÖVP und SPÖ auf vergleichbare Größenordnungen. Ein absolutes Novum war die Entscheidung von 39% der qualifizierten Arbeiter für die ÖVP, die damit knapp an der SPÖ vorbeizog, während die SPÖ knapp die Hälfte der un- und angelernten Arbeiter für sich gewinnen konnte. Die FPÖ schnitt wie schon bei früheren Wahlen bei Männern besser ab als bei Frauen, sie erzielte in den jüngeren Wählergenerationen bessere Ergebnisse als bei der älteren. Berufsspezifisch gesehen lagen ihre relativen Schwerpunkte bei (un- und angelernten) Arbeitern. Dessen ungeachtet konnte die FPÖ nur 16 % der Arbeiterstimmen für sich gewinnen, womit ihre Position als neue Arbeiterpartei bis auf weiteres ebenso der Geschichte angehören dürfte wie ihre Stellung als stärkste Partei in der jungen Wählergeneration. Im ersteren Fall befindet sich nunmehr die ÖVP in einer unmittelbar kompetitiven Position mit der SPÖ, im zweiten Fall hat sie diese merkbar überholt. Die Grünen finden bei Frauen mehr Zuspruch als bei Männern, ihre Domänen lagen bei Personen mit Schul- und Hochschulausbildung, damit auch bei den unter 30-Jährigen. 9
Der Einfluss der massenmedialen Berichterstattung auf die Wahlentscheidung zählt zu den mit Abstand schwierigsten Fragen der empirischen Wahlforschung wie der politischen Kommunikationsforschung. Die Autoren dieses Berichtes werden detailliertere Einblicke auf Basis begleitender Wahlkampfforschungsprojekte in den kommenden Wochen vorlegen. Eine erste Annäherung gestattet aber die Frage nach dem subjektiven Einfluss verschiedener politischer Kommunikationskanäle aus Sicht der befragten Wählerinnen und Wähler. Auf Grund des außerordentlichen Interesses wenig überraschend gehen 20 % davon aus, dass die Fernsehdiskussionen zwischen den Spitzenkandidaten ihre persönliche Wahlentscheidung stark beeinflusst hätten. Von jenen Wählern, die 2002 eine andere Partei wählten als 1999, gaben sogar 26 % einen starken Einfluss der TV- Konfrontationen auf ihre persönliche Wahlentscheidung zu Protokoll. Aber auch die politische Alltagskommunikation Gespräche im Familien- bzw. Bekanntenkreis übten für 20 % der Befragten bzw. 26 % der Wechselwähler einen starken Einfluss auf ihre persönliche Entscheidungsfindung aus. Dies bestätigt die vorherrschende Meinung innerhalb der politischen Kommunikationsforschung, dass für das Verständnis von Medienwirkungen stets auch der Einfluss persönlicher Gesprächs- und Kommunikationserfahrungen zu berücksichtigen ist. Aussagen der Spitzenkandidaten in Fernsehen und Radio hatten für 16 % der Wählerinnen und Wähler einen direkten entscheidungsrelevanten Einfluss. 22 % der Wechselwähler wiesen markanten, massenmedialvermittelten Aussagen der Spitzenkandidaten einen starke Wirkung auf ihre persönliche Entscheidungsfindung zu. Die erwähnte, vielfach unterschätzte Bedeutung politischer Alltagskommunikation wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass immerhin 11 % Gesprächen mit Parteimitarbeitern einen starken Einfluss auf ihre persönlichen Wahlentscheidung zumaßen. 10
Journalistische Analysen und Kommentare in Zeitungen und Zeitschriften hatten für 10 % der Befragten 14 % der Wechselwähler einen unmittelbaren entscheidungsrelevanten Einfluss. Für den wachsenden Stellenwert des Internet als politisches Kommunikationsmedium spricht unter anderem die Tatsache, dass immerhin 3 % der Befragten dem politischen Informationsangebot im Internet eine entscheidungsrelevante Bedeutung zuschrieben. 11
Die das Wahlgeschehen in den 90er Jahren bestimmenden Muster und Trends im Wahlverhalten wurden bei der Nationalratswahl 2002 entweder außer Kraft gesetzt oder durch gegenläufige Trendmuster ersetzt. Markante Beispiele für Trendbrüche bzw. Neuorientierungen im Wahlverhalten soziodemografischer Wählergruppen sind unter anderem: Die Zugewinne der ÖVP bei berufstätigen Frauen, bei denen die ÖVP mit nunmehr mit 40 % vor der SPÖ (37 %) liegt. Die FPÖ wurde 1999 noch von 22 % der berufstätigen Frauen gewählt und fiel 2002 mit einem Anteil von nur noch 9 % auf den 4. Platz hinter den Grünen (11 %) zurück. Die beispiellose Veränderung im Wahlverhalten der jüngeren Wählergenerationen: wurde die FPÖ 1999 bei den unter 30-jährigen Wählern mit einem Anteil von 35 % zur mit Abstand stärksten Partei, fiel sie 2002 mit einem Anteil von 14 % weit abgeschlagen auf den 4. Platz zurück. Seit 2002 ist die ÖVP mit einem Anteil von 33 % die stärkste Partei bei den unter 30-jährigen Wählern. Die ÖVP wurde auch bei Beamten bzw. im öffentlichen Dienst Beschäftigten mit einem Anteil von 41 % knapp vor der sozialdemokratischen Partei (39 %) zur stimmstärksten Kraft. Die FPÖ fiel von 20 % auf nur mehr 7 % zurück. Während die SPÖ in der Angestelltenschaft ihren Stimmanteil von 1999 nur geringfügig überschreiten konnte wobei die Steigerung unter Berücksichtigung der statischen Schwankungsbreiten nicht interpretierbar ist konnte die ÖVP durch einen Zugewinn von +14 % bei den Angehörigen der angestellten Mittelschichten mit der SPÖ gleichziehen. Nachgerade dramatisch stellen sich die Veränderungen im Wahlverhalten der österreichischen Arbeiterschaft dar. Gelang es der FPÖ der Nationalratswahl 1999 mit einem Stimmenanteil von 47 % zur mit Abstand stärksten Partei unter Arbeitern aufzusteigen, wählten 2002 nur mehr 16 % der Arbeiterinnen und 12
Arbeiter die FPÖ. Der Verlust der FPÖ in dieser Wählergruppe übersteigt mit einem Minus von 31 Prozentpunkten die stärksten Verluste, die bisher eine Parlamentspartei bei einer relevanten Wählergruppe in Kauf nehmen musste. Mittlerweile ist wieder die sozialdemokratische Partei die führende Kraft innerhalb der österreichischen Arbeiterschaft, wobei aber die ÖVP mit einem Anteil von 34 % ihren höchsten Anteil in dieser Berufsgruppe erzielen konnte seit es demoskopische Vergleichsdaten gibt. Die überragende Bedeutung der Kanzlerfrage ist nicht nur aus den persönlichen Beweggründen der Wahlentscheidung für die ÖVP ablesbar, sondern auch aus den Ergebnissen der Kanzlerdirektwahlfrage. Wäre es möglich gewesen, den Bundeskanzler am Stimmzettel direkt zu wählen, hätten 53 % der österreichischen Wählerinnen und Wähler Wolfgang Schüssel zum Bundeskanzler gewählt. Für Alfred Gusenbauer als nächsten Kanzler hätten hingegen nur 41 % votiert. Während 98 % der ÖVP-Wähler Wolfgang Schüssel ihre Stimme gegeben hätten, wären Alfred Gusenbauer nur 92 % der sozialdemokratischen Stimmen zugefallen, da immerhin 5 % der SPÖ-Wähler des Jahres 2002 bei einer Direktwahl für Wolfgang Schüssel votiert hätten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Kanzlerpräferenz der Grünen: 61 % hätten für den Kanzlerkandidaten Gusenbauer gestimmt, immerhin 19 % aber für den ÖVP-Kanzlerkandidaten Wolfgang Schüssel. Noch deutlicher wäre die Kanzlerdirektwahl unter Wechselwählern ausgefallen: 56 % der Wechselwähler hätten für Wolfgang Schüssel, nur 36 % für Alfred Gusenbauer als Bundeskanzler votiert. 13
Die Wahlentscheidung 2002 war somit im Kern eine Kanzlerwahl, ferner Ausdruck koalitionspolitischer Präferenzen, Bewertung des politischen Kurses der amtierenden Koalitionsregierung der einzelnen Parteien wie der Präferenz bzw. Zurückweisung inhaltlicher Positionen und programmatischer Vorhaben der Parlamentsparteien. Die dramatischen Umstände, die zu den vorverlegten Neuwahlen führten, wie die wahlpolitische Implosion der FPÖ, verstärkten die Wechselbereitschaft einer mittlerweile hochmobilen Wählerschaft und resultierten in bislang beispiellosen Wählerwanderungen und Stimmenverschiebungen. Das Zusammenspiel komplexer Einflussfaktoren und ihr Einfluss auf das Wahlverhalten 2002 konnten im vorliegenden Bericht nur angedeutet werden und seine detailliertere Erklärung bleibt intensiven Analysen vorbehalten, die in der Kürze der Morgenstunden am Tag nach der Wahl nicht leistbar sind, will man am Boden der Realität bleiben und vordergründige Spekulationen wie subjektive Lageeinschätzungen vermeiden. Die Autoren Fritz Plasser ist Professor und Vorstand des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für angewandte Politikforschung in Wien. Peter A. Ulram ist Leiter der Abteilung Politikforschung am FESSEL-GfK-Institut in Wien und Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien. 14