1 Wortbildung. Grundbegriffe

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1. Grundbegriffe 1.1 Das Morphem Die kleinsten bedeutungstragenden Bausteine des Wortes bezeichnet man als Morpheme. In der graphischen Darstellung werden sie in geschweifte Klammern { }gesetzt. Vergleichen wir das Element Schiff mit dem Element -bar in schiffbar: Schiff schiffbar freies Morphem gebundenes, unselbständiges Morphem Das Element Schiff hat eine eigene lexikalische Bedeutung, das Element -bar hat keine; es modifiziert bloß die Bedeutung des freien Morphems. Das Wort schiffbar enthält so eine passivische Bedeutung und zugleich das Bedeutungsmerkmal [Möglichkeit]: Der Fluss ist schiffbar = Der Fluss kann mit einem Schiff befahren werden. Das Element -bar ist erst in Verbindung mit anderen Elementen greifbar und ist nicht identisch mit den Wörtern bar A1) unbekleidet 2) mit Bargeld 3) rein oder B1) Lokal 2) Schanktisch (LÜHR 1993: 132. Betrachten wir nun das Wort Schwestern. Hier können wir zwei bedeutungstragende Komponenten feststellen: {schwester} und {-n}. Das Element {schwester} hat eine lexikalische Bedeutung, das Element {-n} hat keine lexikalische, aber eine grammatische Bedeutung. Es bezeichnet Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ Plural des femininen Schwester. Demselben Element begegnen wir z.b. in Mütter-n, Strahl-en, Zahl-en usw. Man spricht hier von paradigmatischen Beziehungen. Dasselbe {-n} bezeichnet hingegen in den Wörtern (den) Abenden, (den) Kreisen nur eine einzige grammatische Funktion, nämlich den Dativ des Plurals der Wörter Abend und Kreis. Jedes Wort jeder Sprache besteht aus einem oder mehreren Morphemen, d.h. Wörter können aus nur einem Morphem bestehen oder aus einer größeren Anzahl von Morphemen zusammengesetzt sein: 1 Morphem: Mensch 2 Morpheme: mensch + lich 3 Morpheme: un + mensch + lich 4 Morpheme: Un + mensch + lich + keit 7 Morpheme: Un + mensch + lich + keit +(s) + ver + halt + en 247

248 Es lassen sich bei den Morphemen zwei wesentliche Typen unterscheiden. 1.1.1 Freie und gebundene Morpheme Wörter die aus genau einem Morphem bestehen, nennt man monomorphematisch. Solche Wörter werden als Simplizia bezeichnet. Morpheme, die allein ein Wort bilden können, nennt man freie Morpheme. Die unflektierte Form eines einfachen Verbs gehört nur dann zu den freien Morphemen, wenn sie identisch ist mit der Imperativform (z.b. schreib, lauf, etc.; aber nicht *les, *ess ). Die freien Morpheme bilden als Wurzeln die Basis komplexer Wörter. Freie Morpheme Haus, Mann, Hund, Boot, Nuss, fahr-, schreib-, klein, jetzt,... Eine Wurzel kann nie eine komplexe Form haben. Z.B. ist fahr die Wurzel des Lexems fahren. Die Verbformen fuhr-, fähr-, führ-, aber auch fahr- sind jeweils die Stämme eines einzigen Lexems fahren. Der Stamm ist die Basis eines Wortes, an der Flexion durch ein Flexionssuffix erfolgt. Ein Stamm kann aus einem Wurzelmorphem bestehen oder bereits eine komplexe Form haben. Gebundene Morpheme Sie kommen nie allein als Wörter vor, sondern sie sind immer nur Teile von Wörtern. Einige dieser Morpheme stehen vor der Wurzel, weshalb man sie Präfixe nennt. Andere gebundene Morpheme stehen hinter der Wurzel und werden Suffixe genannt. Ein dritter, in einigen Sprachen auftretender Typ gebundener Morpheme sind Infixe, die z.b. in Latein auftreten: -m- (lat.): rumpo brech +Präsens (rup brech ). Im Deutschen kommen zudem Zirkumfixe vor, die die Wurzel umschließen, z.b. Ge-...-e Gelände, ge-...-t gekauft. Im Hebräischen und Maltesischen gibt es auch Transfixe, die mit der Basis verzahnt sind, z.b. -i-e-/-a- tifel tfal (tfl) (malt.) Junge + Sing. Junge + Pl. (Wurzel) 1.1.2 Grund-, s- und Flexionsmorpheme Entsprechend der Funktion eines jeden Morphems kann man folgende zwei Typen unterscheiden: Grund- oder Basismorphem Grundlage jedes Wortes ist immer mindestens ein Morphem, das die inhaltliche Beziehung des Wortes zu dem bezeichneten Sachverhalt und zu anderen Wörtern begründet und häufig auch allein als Wort auftreten kann

Grammatik 249 (BERGMANN/PAULY/SCHLAEFER 1991: 57). Diesen Morphemtyp bezeichnet man als Grund- oder Basismorphem (auch der Terminus Stammmorphem ist geläufig). Basismorpheme tragen immer lexikalische Bedeutung, d.h. sie bezeichnen einen Sachverhalt oder ein Objekt. Sie sind als Basis für weitere en prinzipiell frei verwendbar, wobei die Kombinationsfähigkeit mit anderen Morphemen bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Konventionen unterliegt. Auf Grund ihrer Fähigkeit, lexikalischer Ausgangspunkt einer Morphemkonstruktion zu sein, kann man Basismorpheme als primäre Morpheme bezeichnen, z.b.: {Furcht} als Basismorphem in furchtsam, furchtbar {bieder} in Biederkeit. smorpheme Als smorpheme bezeichnet man den Morphemtyp, der die Bedeutung der Basismorpheme modifiziert, aber selbst nicht frei vorkommt. Sämtliche Affixe (d.h. Suffixe und Präfixe) gelten als smorpheme (auch als Formationsmorpheme bezeichnet). Präfixe können z.b. sein ge-, be-, er- und Suffixe etwa nis, -haft, -keit. Sie dienen der semantischen, d.h. der inhaltlichen Erweiterung eines Basismorphems (oder Morphemkonstruktion) und zur Überführung eines Basismorphems in verschiedene Wortarten. smorpheme können nie alleine vorkommen und frei stehen. Es handelt sich immer um ein gebundenes Morphem, das mit mindestens einem Basismorphem auftreten muss. Bei Präfixen ändert sich nur die Semantik, nie aber die Wortart. So kann z.b. suchen durch Präfixe inhaltlich modifiziert werden zu versuchen, aussuchen. Bei Suffixen kann die Wortart verändert werden, so etwa durch heit bei schön zu Schönheit, andererseits kann die Wortart auch gleich bleiben bei Mensch zu Menschheit und Mann zu Mannschaft. Natürlich modifizieren Suffixe auch inhaltlich das Basismorphem. {Mensch } {Mensch}+{heit} {Mann} {Mann}+{schaft} mit besonderen Fähigkeiten ausgestattetes höchstentwickeltes Lebewesen Gesamtheit der Menschheit erwachsene Person männlichen Geschlechts Gruppe von Sportlern; Besatzung eines Schiffes; Arbeitsteam.

250 Flexionsmorpheme Sie treten nur als gebundene Morpheme auf. Durch die Flexionsmorpheme werden keine neuen Wörter geschaffen, sondern die Beziehungen der Wörter im Satz ausgedrückt. Flexionsmorpheme sind also auf Satzebene relevant und haben im Wesentlichen syntaktische Funktion. Da Flexionsmorpheme nur grammatische Bedeutung tragen und nur am Ende von Morphemkonstruktionen vorkommen können, haben sie nur einen sekundären Stellenwert. Flexionsmorpheme weisen einen Spezialfall auf; aufgrund ihrer rein syntaktischen grammatischen Funktion besteht das Paradigma zur Kasusbezeichnung im Singular z.b. bei dem Wort Wolf aus: Nom. der Wolf {-0} Nullmorphem Gen. des Wolfes {-es} den Genitiv kennzeichnendem Flexionsmorphem Dat. dem Wolf(e) {-e} Dativmarkierung (heute nur noch selten) Akk. den Wolf {-0} Nullmorphem Die Morpheme können wir nach folgendem Diagramm klassifizieren (LÜHR 1993: 146): Morpheme frei gebunden lexikalisch grammatisch lexikalisch grammatisch {schlange} {im}: {sorg} -t, -e: Allomorphe von {haus}: Portemanteau- {ruh}: Flexionsmorphemen Basismorphem Morphem Basismorphem {un}: {für} smorphem: Präfix {e}: smorphem: Suffix 1.2 Sonderfälle der Morpheme Neben der bisherigen Einteilungsmöglichkeit und Definition der Morphemtypen gibt es noch weitere wichtige methodische und terminologische Ergänzungen. Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen:

Grammatik 251 Morphemvarianten Allomorphe Portemanteau-Morpheme diskontinuierliche Flexionsmorpheme unikale Morpheme Nullmorpheme Fugenelemente. Morphemvarianten Wenn ein Morphem innerhalb von skonstruktionen in unterschiedlichen Varianten bzw. Formen auftritt, spricht man von Morphemvarianten. Die ausdrucksseitige Form darf sich aber nur geringfügig ändern. Die Bedeutung (Inhaltsseite) der Varianten muss dabei immer identisch sein, die schriftliche oder lautliche Erscheinungsweise (Ausdrucksseite) geringfügig variieren. Das ist bspw. der Fall beim verbalen Basismorphem {back}, das in der Substantivkonstruktion Bäcker als Morphemvariante {bäck} realisiert ist. Bei den Verben kommen Morphemvarianten nur bei den starken Verben vor, denn da ändert sich der Stammvokal, im Gegensatz zu schwachen Verben, die ausdrucksseitig gleich bleiben: z.b.1. Person Sg. {lauf}+ {-e} zu {lief} vs. {mach}+ {-e} zu {mach}+{-te}. Von Morphemvarianten spricht man auch bei der Pluralbildung, wenn neben dem Flexionsmorphem als Pluralmarker auch noch ein Umlaut auftaucht, etwa bei {Frucht} vs. {Frücht}+{-e}. Allomorphe Allomorphe (griechisch: allo-»ein anderer«) nennt man Varianten eines Morphems. Die Wahl des Pluralmorphems -n oder -en der Mehrheit der Feminina oder der schwachen Maskulina ist von der Lautstruktur des vorausgehenden Morphems abhängig, vgl. Frauen, aber Schwestern. Ebenso lautlich bedingt ist die Wahl von -n oder -en beim Infinitiv (leben aber gabeln). Man kann sagen, -n steht nach Vokalen und einigen Konsonanten, -en nur nach Konsonanten. Im Allgemeinen kann man folgende Typen der Allomorphe unterscheiden: Null-Allomorphe: Ein Null-Allomorph liegt vor, wenn eine grammatische Funktion, die lautlich realisiert ist, auch durch ein Nullelement zum Ausdruck gebracht werden kann, z.b. Singular Lehrer vs. Plural Lehrer + gegenüber der Pluralform Frau + en. Phonetisch determinierte Allomorphe liegen vor, wenn die Form von der lautlichen Umgebung abhängig ist, z.b. nehmen - handeln. Morphologisch determinierte Allomorphe liegen vor, wenn Morphe mit gleicher Bedeutung eine unterschiedliche Form haben, die nicht phonologisch determiniert ist, sondern in der Umgebung eines Morphems auftreten, in der

252 das andere Morph nicht auftreten kann. Sie sind also komplementär vergleicht. Vgl.: (ich) denk-e (Präsens) (ich) dach-t-e (Präteritum) Vor dem Präsens-Morphem {e} erscheint denk-, vor dem Präteritum-Zeichen -t-e erscheint dach-. Sie können aber in der gleichen Umgebung nicht vorkommen. Syntaktisch determinierte Allomorphe sind durch den syntaktischen Zusammenhang bedingt. Vgl. : aus einer guten Familie aus guter Familie Die Suffixe -en und -er sind Allomorphe, die in unterschiedlicher syntaktischer Umgebung vorkommen. Portemanteau-Morpheme Da die kleinsten bedeutungstragenden sprachlichen Einheiten, die Morpheme, manchmal auch mehrere Bedeutungen gleichzeitig (in einem Morphem vereint) tragen können, bezeichnet man diese dann als Portemanteau-Morpheme (von. franz. Portemanteau = Kleiderständer ).Dies ist der Fall, wenn die beiden Basismorpheme in und dem zusammenfallen zu im. Ebenfalls in der Form sprach von sprechen trägt dieses eine Morphem mehrere Bedeutungen, nämlich mindestens die grammatischen Hinweise Präteritum und 1. oder 3. Person Sing. Diskontinuierliche Flexionsmorpheme Als diskontinuierliche Elemente bezeichnet man in der Sprachwissenschaft generell sprachliche Elemente, die zusammengehören, aber in ihrer Aufeinanderfolge durch andere Elemente, die dazwischenstehen, unterbrochen werden. So etwa die abtrennbaren Präfixe bei diskontinuierlichen Verben: Er spricht das Wort nicht richtig aus. Diskontinuierliche Flexionsmorpheme kommen bei der Partizipbildung vor: kommen machen ge-komm-en ge-mach-t Das Partizip II wird durch die Kombination von Präfix {ge-}und Suffix {-en} oder {-t} gebildet. In diesem Fall spricht man von diskontinuierlichen Flexionsmorphemen.

Grammatik 253 Unikale Morpheme Das unikale Morphem stellt einen Sondertyp der Morpheme dar und wird auch als blockiertes Morphem genannt, da er synchron nur in Verbindung mit anderen Morphemen vorkommen kann, ursprünglich jedoch ein eigenständiges Wort (Basismorphem) war. Seine weitere sfähigkeit ist blockiert. Folgende Elemente kann man als unikale Morpheme bezeichnen: {-igam} {-igall } {-him} {-lind} Nullmorpheme in Bräutigam in Nachtigall in Himbeere in Lindwurm. Ein Nullmorphem tritt auf der Ausdrucksseite nicht als Flexionsmorphem auf, besetzt aber im Flexionsparadigma eine phonemisch nicht besetzte Stelle im Auslaut und steht in morphologischer Opposition zu den anderen Flexionsmorphemen dieses Paradigmas. So wären z.b. Lauf, Versuch Ableitungen mit Nullmorphem am Ende des Wortes, da ihnen Nomina actionis mit Suffixen gegenüberstehen: Lauf-erei, Versuch-ung. Fugenelemente Die Fugenelemente bezeichnet man auch als Bindevokal, Kompositionsfuge oder Infix. Folgendes Phänomen gilt als Fugenelement: Gelegenheit-s-diebe Hühn-er-bein Hund-e-leine Sonne-n-schein Das Fugenelement tritt an der Nahtstelle von unmittelbaren Konstituenten auf. Es steht bei Zusammensetzungen von Morphemen und immer nach der ersten Vollstelle (Endsilbe) der jeweils ersten unmittelbaren Konstituente. Fugenelemente stehen immer nur zwischen Basismorphemen. Ein Wort kann als komplexe Morphemkonstruktion mehrere Fugenelemente haben, jedoch immer nur jeweils eines zwischen zwei Basismorphemen, wie in Arbeitskleidungsbestimmung. Das Fugenelement hat nicht den Stellenwert eines Morphems. Es gibt mehrere Typen von Fugenelementen im Deutschen, am häufigsten tritt jedoch das -s- auf: -(e)s-, -e-, -(e)n-, -er-, -ens-. Die Gebrauchsregeln sind nur teilweise zu erkennen und nicht systematisch. Oft handelt es sich um das Überbleibsel einer alten Genitivkonstruktion.

254 1.3 Das Morph Das Element -(e)n findet sich ferner in anderen Funktionen. Es kann bezeichnen z.b. alle Kasus bei der sog. schwachen Deklination (außer Nominativ), alle vier Kasus im Plural z.b. bei der Mehrheit der Feminina, Dativ Plural in der überwiegenden Mehrheit aller Substantiva, aber auch im Infinitiv, vgl. {Bär}- en, {Frau}-en, {Teil}-{e}-n; {spiel}-en, {fahr}-en. Das Element -(e)n haben wir hier nur aufgezählt, aber weiter nicht klassifiziert. Sie sind zwar lautlich identisch, haben aber nicht die gleiche Distribution. Hier liegen homonyme Morphe vor. Da sie in verschiedenen Funktionen verwendet werden, handelt es sich offenkundig um verschiedene Morpheme. Vergleichen wir die Bildung des Plurals (von der inneren Flexion sehen wir jetzt ab). Im Deutschen kann der Plural durch folgende Morphe gebildet werden: Suffix Maskulina Feminina Neutra - Kessel Mütter Fenster -e Abende Hände Jahre -en Menschen Frauen Hemden -er Wälder Blätter -s Vatis Muttis Autos usw. Die Morpheme, -e, -en, -er, -s, obwohl sie formal verschieden sind, haben eine gemeinsame grammatische Bedeutung. Mit anderen Worten: das Morphem mit der Bedeutung»Plural«ist etwas Abstraktes. Es kann durch verschiedenartige ( konkrete ) Morphe repräsentiert werden. Das Morphem des Plurals ist eine abstrakte Einheit, eine Einheit der»langue«. Das Morph erscheint auf der Ebene der»parole«als konkrete Realisierung der Langue in der Sprachverwendung. Ein Morph ist das kleinste bedeutungstragende lautliche Segment einer Äußerung auf der Ebene der Parole, während das Morphem eine abstrakte Einheit auf der Ebene der Langue darstellt (LÜHR 1993:133). 1.4 Das Wort Wörter sind die sprachlichen Einheiten, die sich für den alltäglichen Sprachbenutzer am unmittelbarsten intuitiv erkennen lassen. Doch wie die folgenden Beispiele zeigen, gibt es definitorische Probleme. Hilfe! Ein Wort oder ein Satz? Die Sonne geht auf Zwei, drei oder vier Wörter? Sein ständiges auf-die-uhr-schauen Eine Wortgruppe? das Weiße Haus Ein Wort oder zwei?

Grammatik 255 Es gibt mehrere Möglichkeiten, den Begriff Wort zu definieren. In der Regel wird, je nach Forschungsrichtung und sprachwissenschaftlicher Disziplin, eine entsprechende geeignete Definition gewählt. Thea SCHIPPAN (1992: 87) nennt folgende Merkmale der Einheit Wort : Wörter sind Benennungseinheiten für Gegenstände, Prozesse, Handlungen usw. Sie haben eine nominative Funktion, sie stehen für ein Objekt und eine Klasse von Objekten. Wörter haben eine relativ selbstständige Bedeutung, sie haben eine semantische Funktion. Wörter existieren als System- und Textwort. Wörter sind isolierbare Einheiten, die aufgezählt, aufgelistet alphabetisch oder nach der Bedeutung geordnet werden können. Sie werden als Wortschatzelemente, als Lexikoneinheiten behandelt. Als Einheiten des Systems haben sie grammatische Eigenschaften, auf denen die Fügungspotenzen beruhen. Wörter treten, entsprechend ihrer Wortart, in der sprachlichen Kommunikation geformt auf sie erscheinen als Wortexemplar. Wörter lassen sich nach formalen und/oder inhaltlichen Kriterien zu Klassen ordnen. Wörter können mehr Informationen vermitteln, als durch die Zuordnung zum Bezeichnungsobjekt gegeben sind. Man unterscheidet zwei Gruppen von Wörtern: Autosemantika sind relativ selbstständige, begriffliche Bedeutung tragende Einheiten, die benennen und dabei das Einzelne der Klasse zuordnen. Synsemantika besitzen keine lexikalisch-semantische Selbstständigkeit, sondern dienen ausschließlich der Organisation des Textes, indem sie Beziehungen zwischen sprachlichen Einheiten herstellen. 1.4.1 Wort und Lexem Häufig wird in der Literatur für die Grundeinheit des Lexikons der Begriff Lexem statt Wort verwendet. Obwohl eine gewisse inhaltliche Übereinstimmung beider Termini besteht, sollte man diese Kategorien nicht identifizieren. Als Lexeme werden benennende und verallgemeinernde Wortschatzelemente, Einzelwörter oder feste Wortgruppen, bezeichnet. Insofern ist der Lexembegriff weiter als der des Wortes. Lexeme sind z.b. kurz und gut, guten Morgen, silberne Hochzeit als Mehrwortbezeichnungen, Phraseologismen und kommunikative Formeln.

256 Im Text begegnen uns sprachliche Gebilde, die wir als Wörter identifizieren, obwohl sie nicht Bestandteile des Wortschatzes der deutschen Sprache sind, sondern einmalig in diesem Text existieren, okkasionell sind, z.b: Meine Anderthalbmeter-Großmutter hexelt nur für den Hausgebrauch (STRITTMATTER, Der Laden,13). Anderthalbmeter-Großmutter und hexeln haben Wortfunktionen, benennen und folgen den Regeln der deutschen Grammatik, ohne Wortschatzelemente zu sein (SCHIPPAN 1992: 95). Okkasionelle skonstruktionen werden nicht zu den Lexemen gezählt. Ihr Anteil ist in bestimmten Texten relativ hoch. Zwischen Okkassionalismen einerseits und Lexemen andererseits muss man ein breites Übergangsfeld annehmen. Nicht alle Okkasionalismen festigen sich im Sprachgebrauch so weit, dass sie gespeichert werden. Ihre Lexikalisierung ist primär außersprachlich bedingt, und zwar hängt sie davon ab, ob in der Kommunikationsgesellschaft eine entsprechende Bezeichnungsnotwendigkeit vorliegt und die skonstruktion akzeptiert wird. 2 Der Wortschatz der deutschen Sprache Neuere Forschungen schätzen den Wortbestand der deutschen Sprache auf ungefähr 400 000 Wörter. Davon sind etwa die Hälfte Substantive, ungefähr ein Viertel Verben, etwa ein Sechstel Adjektive und Adverbien. Präpositionen und Konjunktionen gibt es nur ungefähr 200. Der Wortschatz bildet ein offenes System. Die großen Gruppen vermehren sich laufend, kleine Gruppen, wie etwa die Präpositionen und Konjunktionen bleiben relativ konstant. 2.1 Die Erweiterung des Wortschatzes Wie bereits gesagt, ist der Wortschatz (das Lexikon) einer Sprache ein offenes System, das einer ständigen Veränderung, Bereicherung unterworfen ist. Neuere Erkenntnisse, wissenschaftliche und technische Erfindungen, alle Wandlungen im Leben des Menschen müssen in der Regel benannt und sprachlich eingeordnet werden. Viele der folgenden Neuprägungen werden nicht von allen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft verstanden: Datenautobahn, netsurfen, Raumkapsel, Mondbasis, vernetzt. Es gibt im allgemeinen folgende Gründe für die Entstehung neuer Wörter: das Streben nach Deutlichkeit, Anschaulichkeit und Ausdruckskraft: Walfisch für Wal, Riecher (ňufák) für Nase; Metaphern wie Schlafmütze (ľahostajník), kalte Ente (bowle s citrónom); Personifikationen wie Stiefelknecht (vyzuvák).

Grammatik 257 das Streben, verdunkelte Bildungen volkstümlich zu verdeutlichen: Hängematte < westindisch hamaca, Maulwurf < ahd. mu we rf (Tier, das Erdhaufen aufwirft). das Streben nach Kürze: Bus (Autobus, Automobilomnibus), Pils (Pilsner Bier), Labor (Laboratorium), Dok (Doktor). Abkürzungen und Kurzwörter: PC, PKW. 2.1.1 Wege zur Bereicherung des Wortschatzes Der Wortschatz der Sprache kann auf vielen Wegen erweitert werden. Die wichtigsten Mittel sind folgende: durch Zusammensetzung, z.b.: Blutprobe, Kalbfleisch, Einkommensteuer, kohlpechrabenschwarz, durch Ableitung, z.b.: Lehrer, fehlerhaft, neblig, durch Wortartwechsel (Konversion) z.b.: lesen das Lesen, wenn das Wenn u.a., durch Abkürzungen und Kurzwörter, z.b.: Bd. (Band), Prof. (Professor), SPD, (Sozialdemokratische Partei Deutschlands); Demo (Demonstration), Uni (Universität). Entlehnung aus fremden Sprachen Fremdwörter: Amateur, Computer, Layout, Konzept, Milieu, Lehnwörter: Fenster, Nase, Straße, Tisch, Internationalismen: Thermodynamik, thermonuklear, Alkohol. Entlehnungen aus mundartlichem und umgangssprachlichem Wortgut Oberdeutsch: Buckel, Fasching, rodeln, Mitteldeutsch: heucheln, hoffen, kauen, Niederdeutsch: Diele, Ebbe, Lippe, paddeln, waten, Umgangssprache: Knirps, sich vertippen. Wieder beleben alten Wortgutes: Ampel, Truhe, Turnier. Bedeutungsveränderung Bedeutungsübertragung: Kopf <Hohlgefäß> für Haupt, Bedeutungserweiterung: Ding <Gerichtsverhandlung> heute für Sache, Bedeutungsverengung: Hochzeit <hohes Fest> heute nur Vermählung, Werterhöhung: Minister <Diener> heute für Mitglied der Regierung, Wertminderung: Gift <Gabe> heute für tödliche Gabe,

258 Bedeutungsdifferenzierung: der Band und das Band, die Steuer und das Steuer; mit lautlicher Veränderung: Mond Monat. 2.2 und Wortschöpfung Neben der Übernahme des fremden Wortgutes ist die die wichtigste Quelle des Ausbaus des deutschen Wortschatzes. Analog zu bestehenden Lexemen werden nach Modellen und Mustern mit vorhandenem morphematischen und lexischem Material skonstruktionen gebildet. Sie benutzt vorhandene sprachliche Einheiten. Die Regelhaftigkeit der führte dazu, dass die als syntaktische Erscheinung aufgefasst wurde. Andererseits wird ein großer Teil solcher komplexen Wörter zur festen Wortschatzeinheit und im Wortschatz gespeichert (was für syntaktische Fügungen nicht in gleicher Weise gilt). Daraus resultieren wortschatzinterne (paradigmatische) lexikalisch-semantische Relationen, die sich mit syntaktischen Phänomenen nicht vergleichen lassen. So erklärt sich die Auffassung vom Doppelcharakter der : Schaffung von Benennungseinheiten und Bildung syntaktischer Parallelkonstruktionen. Unter Wortschöpfung ist die erstmalige Zuordnung eines Lautkomplexes zu einer Bedeutung zu verstehen, die sich ohne Verwendung vorhandener Elemente vollzieht. Sie besteht darin, dass Wörter aus Lautkomplexen geschaffen werden, die in der Sprache (noch) nicht als bedeutungstragende Elemente (Zeichen) vorhanden sind; es entstehen also neue Wortwurzeln. Im Frühzustand der menschlichen Sprachen wird ein großer Teil der Wörter auf diese Weise entstanden sein. Diese Art der Bereicherung des Wortschatzes kann man heute fast nur in der Kindersprache antreffen. Es handelt sich oft um usualisierte Neubildungen, wie z.b puff-puff, wau-wau, töff-töff; Nicht selten kommen ganz individuelle Wortschöpfungen zustande. 2.3 Motiviertheit und Unmotiviertheit der Morphemverbindungen Morphemverbindungen wie Haustür, denen jeder Deutschsprechende die richtige Bedeutung zuordnen kann, nennt man motiviert, d.h. in der formalen und inhaltlichen Beschaffenheit durchschaubar, aus sich selbst verständlich; unmotiviert sind dagegen Haus und Tür; denn die Bedeutungen dieser Wörter muss man entweder wissen oder im Lexikon nachschlagen (LÜHR 1993:146f.). Man unterscheidet folgende Arten der Motivation: Phonetisch-phonemische Motivation: Es besteht hier eine gewisse historisch bedingte einzelsprachliche Beziehung zwischen dem Lautkomplex und der Bedeutung. Hierzu gehören hauptsächlich Onomatopoetika und Geräusch

Grammatik 259 imitationen. Ein oft genanntes Beispiel ist die Benennung des Kuckucks in verschiedenen Sprachen. Morphosemantische Motivation: Darunter wird die mehr oder weniger vollständige Erschließbarkeit der Wortbedeutung aus seinen Bestandteilen verstanden, z.b. Haustür = Tür des Hauses, fehlerlos = ohne Fehler usw. Teilmotivation liegt bei grammatikalisierten Bildungen vor, wie -fälle in Regenfälle, wo die Komponente -fälle die Funktion des Pluralzeichens hat, oder in Zusammensetzungen Brombeere (černica), Butzenscheibe ((malá) okenná tabuľa)), Damhirsch (daniel škvrnitý), Fledermaus (netopier), Himbeere (malina), Schornstein (komín) u.a. Teilmotiviert sind die Bildungen mit den verdunkelten Elementen -fried, -(i)gal, -(i)gam; lind- in Bergfried (hradná veža), Bräutigam (snúbenec), Lindwurm (drak, obluda). Sie waren ursprünglich freie Morpheme und sind daher nur etymologisch zu erklären. So etwa das Element -igal im Wort Nachtigall geht auf das germ. *galan»singen«zurück. Im Wort Himbeere ist ahd. hinta»hirschkuh«enthalten. Diese Morpheme werden in der Fachliteratur als unikale Morpheme bezeichnet. Teilmotiviert sind Komposita wie Jungfrau (panna), Muttersprache (materinský jazyk), Blaubeere (čučoriedka obyčajná) u.a. Eine Jungfrau ist keine junge Frau, Muttersprache ist nicht die Sprache der Mutter und nicht jede blaue Beere ist eine Blaubeere. Wie der Vergleich zeigt, funktionieren im Deutschen und Slowakischen jeweils andere Merkmale als Benennungsmotive. Die Entsprechungen sind häufig in der einen oder anderen Sprache unmotiviert, z.b. Blaubeere čučoriedka. 2.4 sarten 2.4.1 durch Zusammensetzung Durch Zusammensetzung (Komposition) werden in der Regel zwei oder mehr selbständige Wörter miteinander zu einer Einheit verbunden. Das Ergebnis der Zusammensetzung, der Komposition nennt man Kompositum. Die Glieder einer Komposition (als unmittelbare Konstituenten genannt) können entweder in einer Beziehung der Unter- bzw. Überordnung (Subordination), oder sie können gleichgeordnet sein (Koordination). Im Deutschen ist die Zusammensetzung ein verbreiteter styp. Das Slowakische kennt ebenfalls die Komposition, aber ihre Reichweite ist viel geringer als im Deutschen. Wörter können mit oder ohne Fugenelemente zusammengesetzt werden, z.b. Haustür, schneeweiß, denkfaul, Eisenbahn, Schnellzug; Altertums forschung, Eierschale, Hundemarke u.a.

260 Eisenbahn Eierschale {eisen} {bahn} {ei} -er {schale} Fugenelement frei frei frei frei Basismorphem Basismorphem Basismorphem Basismorphem Die Fugenelemente im Deutschen sind: (s): Säuglingspflege, Altertumsforschung, Schaffenskraft, Schiffahrtsweg, Landsmann, Volkslied, Freiheitskampf, Universitätsgebäude, Zeitungsartikel u.a.. Dieses Fugenelement erscheint regelmäßig nach den Suffixen -ing, -tum, -en; -heit -keit, -schaft, -ung, -ion, -tät. Der Gebrauch dieses Fugenelements kann in einigen Fällen schwanken und manchmal ist mit Bedeutungsdifferenzierung oder stilistischen Differenzierung verbunden, z.b. Landsmann (= Mitbürger), Landmann (= Landwirt, Bauer), Lehrerfamilie (Familie, in der es viele Lehrer gibt), Lehrersfamilie (Familie des Lehrers), Waldesrand (stilistisch gehoben), Waldrand (stilistisch neutral). e: Hundefutter, Lesehalle, Zeigefinger. (e)n: Menschenleben, Frauenarbeit, Heldentat, Stundenplan. er: Bücherstube, Kälberstall, Rinderbraten, Hühnerstange, Kinderzimmer. o: Automobil, Psychologie, Soziolinguistik u.a. Das Fugen-s wird in mehrgliedrigen Zusammensetzungen verwendet: Werkzeug aber Handwerkszeug, Nachtglocke aber Weihnachtsglocke. Manche Wörter werden mit oder ohne Fugen-s zusammengesetzt, z.b. Zuschlag[s]karte, zuschlag[s]frei, zuschlag[s]pflichtig. Aber nur: Zuschlagstoff (= Füllstoff) Fugenelemente haben eine doppelte Funktion: sie erleichtern die Artikulation des Kompositums und fungieren im Allgemeinen als Grenzsignale, d.h. sie markieren die Grenzen der zusammengefügten Glieder. An der Komposition können Lexeme verschiedener Wortarten beteiligt sein. Bei den flektierbaren Wortarten (Substantiv, Verb, Adjektiv) ergeben sich für zweigliedrige Bildungen folgende Kompositionsmöglichkeiten: 1. Substantiv + Substantiv Feuerstein, Kirschbaum, Wochenlohn 2. Substantiv + Adjektiv krebsrot, taghell 3. Substantiv + Verb bauchreden, bergsteigen, kopfrechnen, schutzimpfen 1 1 aber: Rad fahren, Dank sagen (auch: danksagen) u.a.

Grammatik 261 4. Adjektiv + Substantiv Hochstand, Rotkraut 5. Adjektiv + Adjektiv dummdreist, hochaktuell, hellblau 6. Adjektiv + Verb frohlocken, langweilen, liebäugeln 7. Verb + Substantiv Schreibkraft, 8. Verb + Adjektiv denkfaul 9. Verb + Verb pressschweißen, schwingschleifen 5.1.1 Formen der Zusammensetzung Man unterscheidet zwei- und mehrgliedrige Zusammensetzungen. Zweigliedrige Zusammensetzungen bestehen aus einem Grundwort (Basiswort) und einem Bestimmungswort, z.b.: Krankenhaus {krank-} + en {haus} Fugenelement Bestimmungswort Grundwort Zusammensetzungen können ihrerseits wieder aus Grundwort und Bestimmungswort bestehen: Kinderkrankenhaus {kind} + er {krankenhaus} Fugenelement Bestimmungswort {krank} + en {haus} Fugenelement Grundwort Bestimmungswort Die prinzipielle Einteilung der Komposita aufgrund ihrer formalen und semantischen Interpretation (als synchronisches Phänomen) ist wie folgt (SCHUNK 1997:130):

262 1. Determinativkompositum 2. Possessivkompositum 3. Kopulativkompositum 4. Sonderformen der Komposita 2.4.2 Determinativkompositum Der Typ des Determinativkompositums ist die häufigste nominale Wortzusammensetzung. Hierbei wird das zweite Glied der Komposition (das Grundwort) durch das erste Glied (das Bestimmungswort) näher bestimmt, determiniert. Das Determinativkompositum verkörpert am deutlichsten die Basisstruktur der deutschen. Diese Struktur wird von der Reihenfolge Determinans plus Determinatum bestimmt. Tisch Konferenztisch Wohnzimmertisch Arbeitstisch Weitere Beispiele für kompositorische Zusammensetzungen von unterschiedlichen Wortarten sind: Rotwein, arbeitsfähig, erwägenswert, gesundbeten. Die grammatischen Beziehungen zwischen den Einzelelementen sind innerhalb des Kompositums weitgehend gelöscht, allerdings immer hypotaktisch organisiert. Das Zweitglied legt dabei die grammatische Funktionsklasse des Gesamtkomplexes fest; das vorangestellte Erstglied gibt intensivierende oder spezifizierende Zusatzmerkmale und trägt in der Regel den Hauptakzent. Wichtig ist bei Komposita aber die Reihenfolge der Zusammensetzung, denn diese ist ausschlaggebend für die semantische Interpretation der Elemente. 5.1.1.2 Possessivkompositum Das Possessivkompositum wird oft auch als Untergruppe der Determinativkomposita eingeordnet, denn auch bei diesem styp spezifiziert das erste Glied semantisch das zweite. Allerdings bezieht sich bei diesem Kompositionstyp das Bestimmungswort nur auf ein prominentes, herausragendes Merkmal, eine besondere Eigenschaft des bezeichneten Objekts, das durch das Grundwort repräsentiert wird. Der Merkmalsträger wird semantisch durch ein possessives Verhältnis klassifiziert, und ist durch ein Haben-Verhältnis charakterisiert. Beispiele: Rotkäppchen červená čiapočka»ein Mädchen, das ein rotes Käppchen hat«achtzylinder osemvalcový motor»ein Auto, dessen Motor acht Zylinder hat«(motor) Hahnenfuß iskerník»eine Pflanze, deren Blätter wie die Füße

Grammatik 263 von Hähnen aussehen«lockenkopf kučeravé vlasy»mensch mit Kopf mit Locken«Goldhaar Zlatovláska»Mensch mit goldglänzendem Haar«Dickkopf, Dickschädel tvrdohlavec»eigensinniger Mensch«Schafskopf hlupák, tupec»mensch mit dem Kopf eines Schafes, einfältiger Mensch«Das Possessivkompositum wird auch als exozentrischer Typ bezeichnet, im Unterschied zu den esozentrischen. Die Determinativkomposita und Possessivkomposita sind einander ähnlich, je nach Kontext können einige sowohl als Determinativkompositum als auch als Possessivkompositum verwendet werden, z.b.: Hasenfuß zajačia noha = Fuß des Hasen (Determinativkompositum) Hasenfuß bojko, strachopud =»einer, der die (schnellen) Füße eines Hasen hat, der feige ist«(possessivkompositum) Schafskopf ovčia hlava = Kopf des Schafes (Determinativkompositum) Schafskopf hlupák, tupec = dummer, einfältiger Mensch (Possessivkompositum) 5.1.1.3 Kopulativkompositum Die Kompositionsglieder der kopulativen Zusammensetzung stehen gleichberechtigt und im Verhältnis der Koordination zueinander. Zusammen bezeichnen sie etwas Neues (LÜHR1993:164). Beispiele: Dichterkomponist Strumpfhose Hemdbluse Dichter und Komponist zugleich Strumpf und Hose bilden eine Einheit Hemd und Bluse Weitere Beispiele: Gastfreund, Nordost, Prinzregent, Strichpunkt, Tannenbaum Hierzu gehören einige geographische Namen, politische Begriffe u.a.: Oder- Spree-Kanal, Elsass-Lothringen, Schleswig-Holstein, christlich-demokratisch. 5.1.1.4 Sonderformen der Komposita Zu den Sonderformen der Komposita zählen wir: Zusammenrückung Tautologien Konfixkomposita präpositionales Rektionskompositum

264 Zusammenrückung ist ein Sonderfall der Zusammensetzung und steht zwischen syntaktischer Fügung und Zusammensetzung. Aus einer syntaktischen Gruppe wird ein neues Wort gebildet, indem Wortfolge und gegebenenfalls die Flexion beibehalten wird, z.b.: Dummerjungenstreich (nerozvážny) mládežnícky kúsok, (ein) Hoherpriester veľkňaz (aber: der Hohepriester, des Hohenpriesters, Plural: die Hohenpriester); ebenso: Sauregurkenzeit uhorková sezóna, Genitiv: Saurengurkenzeit. Der erste Teil der Zusammensetzung ist ein Adjektiv und wird ebenso wie ein Adjektiv flektiert. Weitere Beispiele für Zusammenrückung sind: Inbetriebsetzung (etwas in Betrieb setzen), der sog. Bindestrichinfinitiv Von-der-Hand-in-den-Mund- Leben (LÜHR 1993: 152). Zu den Zusammenrückungen zählt man die sog. S a t z n a m e n, wie Rührmichnichtan netýkavka, Stelldichein schôdzka, rendezvous, Vergissmeinnicht nezábudka, Springinsfeld neposedník, vetroplach, Tunichtgut, Taugenichts naničhodník usw. Seltene Typen sind Bildungen ohne ein Verb, wie z.b. Dreikäsehoch špunt (malý chlapec), Nimmersatt nenásytník u.a. Auch Bildungen mit einem nicht adverbiellen/präpositionellen zweiten Element gelten als Zusammenrückung: jederzeit, zugunsten, zuliebe, zeitlebens, trotzdem, immerhin, zudem, nachdem u.a. Tautologien (Doppelungen) sind Komposita, bei denen die erste Konstituente meist archaisiert oder ein Fremdwort durch die zweite Konstituente erläutert werden soll, obwohl diese eine Vergegenwärtigung/Verdeutschung der ersten ist: Hirschkuh, Kieselstein, Tannenbaum; Lindwurm (ahd. lint = Schlange), Kichererbse (lat. cicer = Erbse). Konfixkomposita sind skonstruktionen mit Konstituenten, die im Deutschen nicht frei als Grundmorpheme vorkommen und auch nicht als Varianten. Sie treten in drei Strukturtypen auf (FLEISCHER/BARZ 1995:67 f): Konfix als Erstglied + Substantiv: Aerobus, -medizin; Bioblock, -gas, -reiniger, -milch; Mini-Gebirgsketten, Neopositivismus, Konfix als Zweitglied, kombiniert mit einer wortfähigen Erstkonstituente: Autodrom, Motodrom, Kosmodrom, Photothek, Phonothek, Konfix als Erst- und Konfix als Zweitglied: Astronaut, Aquanaut. Präpositionales Rektionskompositum besteht aus einer Präposition und einem Nomen. Beispiele: Nachmittag Vormittag»die Zeit nach dem Mittagdie Zeit vor dem Mittag«

Grammatik 265 Vorjahr Zwischeneiszeit»die Zeit vor einem Jahrdie Zeit zwischen den Eiszeiten«Das Denotat der gesamten Morphemverbindung ist hier nicht in dem Denotat der zweiten Konstituente enthalten (LÜHR 1993:163). So ist z.b. ein Vormittag oder ein Nachmittag kein Mittag. In diesem Falle liegt ein exozentrisches Bedeutungsverhältnis vor. 2.4.3 durch Ableitung Neue Wörter können nicht nur durch Zusammensetzung, sondern aus bereits vorhandenen Wörtern durch Ableitung gebildet werden. Der Vorgang dieses styps wird mit dem Begriff Ableitung (Derivation), das Ergebnis mit dem Begriff Derivat bezeichnet. Die erste Konstituente der Ableitung ist ein freies, die zweite ein gebundenes Morphem, das Ableitungssuffix. Mit dem Ableitungssuffix wird eine Reihe von Wörtern ähnlicher Wortart gebildet, wobei das Suffix die Wortartzugehörigkeit bestimmt, z.b. glücklich, das gegenüber dem substantivischen Basismorphem {glück} ein Adjektiv ist. Fleischer/Barz (1995: 47ff.) unterscheiden folgende Arten der Derivation: 1. Explizite Derivation Suffigierung Präfigierung kombinatorische Derivation 3. implizite Derivation 4. Rückbildung 5.2.1 Explizite Derivation Fleischers Klassifikationsmodell unterscheidet drei Typen der expliziten Ableitung: Suffigierung Präfigierung kombinatorische Derivation. Eine explizite Ableitung kann folgendermaßen charakterisiert werden: eine explizite Ableitung ist : Derivationsbasis plus Derivationsaffix Derivationsbasis kann sein: freies Morphem (oder Morphemkostruktionen) als Wort, Wortgruppe oder auch als Initialform Derivationsaffixe können sein: alle Suffixe, Präfixe oder bei einer kombinatorischen Derivation beides.

266 Beispiele: Präfix Basis-M Suffix Suffixderivation sand -ig Schön -heit rad -eln Präfixderivation Un- sinn Kombinatorische Derivation zer- schlagen Ge- red -e Ver- such -ung Flexionsmorpheme sind nicht Bestandteil der. Im Beispiel: Seine neue Freundin ist {-e} ein Flexionsmorphem. Es trägt nur rein grammatische Bedeutung. Flexionsmorpheme bilden nur eine andere Wortform aber kein neues Wort. 5.2.1.1 Suffigierung Entsprechend der Unterteilung der Affixe in Suffixe und Präfixe wird ein Typ expliziter Ableitungen auch als Suffigierung bezeichnet. Man versteht darunter Bildung von komplexen Wörtern/Wortformen durch Anhängen eines Suffixes an den Wortstamm. Mehr als zwei aufeinanderfolgende Suffixe sind im Deutschen selten. Beispiele: -mäßig -arm -haft -tum -er -ig 5.2.1.2 Präfigierung unimäßig, arbeitsmäßig kalorienarm, rauscharm jugendhaft, krankhaft Irrtum, Eigentum Lehrer, Hocker kräftig, schädig Die Präfixbildung oder Präfigierung wird bei FLEISCHER/BARZ (1995:199 ff.) als eine Form der expliziten Ableitung betrachtet. Der Typ ist charakterisiert durch die sstruktur: smorphem plus Basismorphem (oder Morphemkonstruktion). BUSSMANN (1990:825f.) bezeichnet die Präfixbildung als eigenständiger styp. Bei der Präfigierung wird die Bedeutung des Basismorphems durch das Präfix modifiziert. Die Präfigierung bewirkt keinen Wortartwechsel, sie ändert

Grammatik 267 nicht die syntaktische Funktion des präfigierten Wortes in seiner grammatischen Klasse. Fast alle Präfixe sind wortartenunabhängig, so kann sich etwa das Präfix miss- mit einem Substantiv, Adjektiv und Verb verbinden: Misshandlung, miss-liebig, miss-brauchen. Die Präfigierung tritt am häufigsten bei Verben auf. 5.2.1.3 Kombinatorische Derivation Dieser styp kommt sehr selten vor. Es handelt sich bei einer kombinatorischen Derivation, auch als kombinierte Präfix-Suffix-Ableitung bezeichnet, um eine, die an ein Basismorphem, bzw. eine Morphemkonstruktion ein Präfix und ein Suffix gleichzeitig anhängt. Beispiele: Ge sing e be grad igen Ge bäud e Die kombinatorische Derivation ist im Bereich des Substantivs nur noch bei Ableitungen mit dem Präfix Ge- produktiv. Die deverbale Derivation mit den unmittelbaren Konstituenten Ge- + -e ist eine der produktivsten dieses seltenen styps kombinatorischer Ableitungen. 5.2.1.4 Implizite Derivation Bei der impliziten Ableitung handelt es sich um eine Morphemkombination oder ein freies Morphem ohne irgendwelche Ableitungsaffixe. Diesen Typ bezeichnet man auch als innere Ableitung, denn es liegt kein ausdrucksseitiges Merkmal vor. Die implizite Ableitung betrifft nur die starken Verben und geht immer einher mit einer Wortklassenänderung, also einer Transposition. Beispiele: werfen Wurf ziehen Zug gehen Gang 5.2.1.5 Rückbildung Die Rückbildung ist ein nur selten auftretender Fall der Derivation. Dabei werden aus en Wörter ohne selemente rückgebildet. Die rückgebildeten Wörter, die eher als sbasen erscheinen, haben aber vorher nicht existiert. Sie scheinen nur die Derivationsbasen für explizite Derivationen zu sein.

268 Beispiele: Zwangsräumung zwangsräumen Ehebruch ehebrechen ferngelenkt fernlenken Notlandung notlanden. 5.2.1.6 durch Konversion Von der Konversion spricht man dann, wenn ein neues Wort durch die Überführung in eine neue Wortart ohne formale Veränderung (ohne irgendwelche selemente, d.h. Suffixe und Präfixe) gebildet wird. Beispiele: N V Schule schulen V N schlafen Schlaf N A Klasse klasse = Verbalisierung = Substantivierung = Adjektivierung Die Konversion als sart ist umstritten. Grundsätzlich lassen sich alle Wörter substantivieren, aber nur wenige dieser Bildungen werden lexikalisiert, d.h. bilden ein neues Lexikonelement. Insofern kann die Konversion als grammatische Erscheinung von der abgegrenzt werden. Es gibt aber auch Besonderheiten, die die Zuordnung der Konversion zur rechtfertigen: z. B. kann zwar von jedem Infinitiv ein Substantiv gebildet werden das Lesen, das Tanzen, das Stehen, aber nicht von jeder lexikalisch-semantischen Variante: Dresden liegt an der Elbe nicht: * das Liegen Dresdens an der Elbe. FLEISCHER/BARZ (1995: 48) definieren die Konversion: Bei der (reinen) Konversion (Ergebnis: Konversionsprodukt) handelt es sich um eine syntaktische Transposition von Wörtern oder Wortgruppen bzw. Sätzen (dann Univerbierung) mit potenzieller semantischer Eigenentwicklung und Lexikalisierung ohne Stammvokalveränderung oder Affigierung. Die Basis der Konversion können siplizische (laufen Lauf, hoch Hoch) oder komplexe Wörter (miteinander Miteinander, besuchen Besuch) oder Sätze, sog. Zusammenrückungen (z.b. Vergissmeinicht aus Vergiss mein nicht!) sein. Substantivieren kann man: Verbstamm: r Ruf, r Lauf, r Streit Infinitiv: s Lesen, s Kochen, s Waschen Partizip I und II: r, e Reisende, r, e Liebende, r, e Angestellte, r, e Geliebte

Grammatik 269 Adjektiv: r, e, s Hohe, s Hoch, r, e Alte, s Alte Adverb: das Hin und Her, das Oben und Unten, Numerale: eine Eins, eine Fünf Pronomen: ein Irgendwer, die Meinen, die Unsern Präposition: das Für und Wider Adjektiviert werden: Verben: starr, rege, wach Partizip I und II: liebend, glänzend, gefragt, gekauft Substantive: klasse, angst, ernst, schade Verbalisieren kann man: Substantive: weihnachten, frühstücken, herbsten Adjektive: lahmen. 2.5 Abkürzungen und Kurzwörter Abkürzungen sind ein produktives smittel des modernen Sprachgebrauchs. Man kann zwei Arten von Abbreviationen unterscheiden: Abkürzungen werden gewöhnlich in der geschriebenen Sprache gebraucht. Es sind insbesondere Schreibsymbole, wie % (Prozent), & (und), (Paragraph); konventionelle Siglen für Gewichts-, Maß- und Münzbezeichnungen (g, kg, ha, km/h, DM), sowie Abkürzungen in Fachsprachen wie S für Schwefel, H für Wasserstoff u.a. Es gibt Abkürzungen, die nur in der geschriebenen Sprache gebraucht werden, vgl. Abk. = Abkürzung, Bd. = Band, dt. = deutsch, g = Gramm, Dr. = Doktor, Prof. = Professor u.a. Kurzwörter. Man unterscheidet folgende drei Typen, je nach der Position des Kurzwortsegments im Basislexem: Anfang, Mitte und Schluss: Kopfwörter Rumpfwörter Endwörter. Von Kopfwörtern (Kopfformen) spricht man, wenn von einer Zusammensetzung nur der erste Teil gebraucht wird. Z.B.: r Akku(mulator), s Auto(mobil), s Labor(atorium), e Limo(nade), e Uni(versität), r Krimi(nalroman), e Demo(nstration). Kurzwörter dieser Art werden häufig selber Komponenten von Zusammensetzungen, vgl.: Unibetrieb, Fotostelle, Demoversion (eines Computerspiels) u.a. Um solche Zusammensetzungen handelt es sich auch, bei denen attributive Adjektive gekürzt in die eingehen: Bioladen (biologisch), Euroscheck (europäisch).

270 Es gibt auch Bildungen, die durch ihre ikonischen Formen geprägt sind: X- Beine, O-Beine. Von Rumpfwörtern (Rumpfformen oder Klammerformen) spricht man, wenn das Mittelglied eines dreigliedrigen Kompositums ausfällt: Fernamt statt Fernsprechamt, Ölzweig statt Ölbaumzweig, Gleiskolonne statt Gleisbaukolonne, Lohnbuchhalter statt Lohnbuch-Buchhalter. Oft ist das Mittelglied ein Affix, vgl. Wohn[ungs]bau. Diese Form tritt auch bei einigen Vornamenkürzungen auf, z.b. Lisa<Elisabeth, Resi <Theresia, Basti < Sebastian. Von Endwörtern (Endformen oder Schwanzwörter) spricht man, wenn der zweite Teil einer Zusammensetzung gebraucht wird: r Bus (Omnibus), r Schirm (Regenschirm), e Platte (Schallplatte), e Pille (Antibabypille) u.a. Zu Kurzwörtern aus Morphemanfängen gehören die Initialkurzwörter und Silbenkurzwörter als die zentralen Typen der Kurzwörter. Initialkurzwörter sind aus einzelnen Anfangsbuchstaben, Initialen zusammengesetzt, z. B. LKW (Lastkraftwagen), PKW (Personenkraftwagen), EDV (Elektronische Datenverarbeitung). In Silbenkurzwörtern stammen die Segmente von Basislexem-Morphemanfängen und bilden zugleich eine Kurzwortsilbe, z. B. Fuzo < Fussgängerzone, Kripo< Kriminalpolizei. Außerdem gibt es verschiedene abweichende Bildungen, deren Segmente weder ausschließlich Initialen noch Kurzwortsilben sind. Wir sprechen von Mischkurzwörtern, z.b. Gema < Gesellschaft für musikalische Aufführungsund Vervielfältigungsrechte, Arfu < Arbeitsgemeinschaft für Unterhaltungsund Tanzmusik, Liva < Linzer Veranstaltungsgesellschaft. Innerhalb der Kurzwörter, die aus mehr als einem Segment bestehen, lassen sich als ein besonderer Typ die partiellen Kurzwörter ausgliedern. Es handelt sich um Kurzwörter mit (Determinativ-)Komposita als Basislexem, deren letzte in der Regel ist das die zweite unmittelbare Konstituente ungekürzt bleibt, z.b.: U-Bahn (Untergrundbahn), S-Bahn (Straßenbahn, Schnellbahn), O-Ton (Originalton), U-Haft (Untersuchungshaft). In den anderen Kurzwörtern aus mehr als einem Segment werden in der Regel sämtliche Bestandteile des Basislexems gekürzt, seien es die unmittelbaren Konstituenten in komplexen Wörtern oder die Einzelwörter in Wortgruppenlexemen. Wir nennen sie als multisegmentale Kurzwörter, z. B.: Azubi (Auszubildender). 2.6 Kontamination Ein weiterer, eher seltener Sonderfall der Ausdruckskürzung ist die Kontamination, für die es zahlreiche Bezeichnungen gibt: Blending, haplologische

Grammatik 271 Zusammensetzung, Portemanteauwort, Kofferwort, Wortmischung, Wortkreuzung, Wortverschmelzung). Als Kontamination bezeichnet man, wenn zwei Ausdrücke in Teilen zu einem neuen Ausdruck kombiniert werden, zu einem neuen Wort fusionieren. Wie etwa bei: Tragik + Komik Tragikomik raffinement + finesse Rafinesse (Kontamination im Deutschen) Kur + Urlaub Kurlaub smoke + fog smog (Kontamination im Englischen) Kontaminationen werden oft als stilistisches Mittel oder Ironisierung eingesetzt. Es kann sich aber auch um Analogiebildungen oder sogar Fehlprägungen handeln. Sprachspielerische Beispiele sind: Demokratur Bullizisten Kommunikaze Zu Kontamination rechnet man auch Okkasionalismen (Gelegenheitsbildungen) wie z.b.: Bankfurt, Punkfurt, Zankfurt (für Frankfurt). 2.7 des Verbs Es gibt einfache Verben und solche, die aus anderen Wörtern oder Wortbestandteilen gebildet wurden. 2.7.1 styp Zusammensetzung Zusammengesetzte Verben gibt es im Deutschen viel weniger als Präfixverben oder suffixierte Verben. Auch dieses Kompositum besteht aus einem Grundwort und einem Bestimmungswort. Das Grundwort steht immer an der zweiten Stelle und ist immer ein Verb. Das Bestimmungswort kann einer anderen Wortklasse angehören. Es kann sein: Adjektiv: schwarzmalen, schwarzsehen, schwarzhören, schwarzarbeiten (aber: schwarz färben, sich schwarz ärgern) Adverb: heimsuchen, bloßstellen Substantiv: brustschwimmen, kopfrechnen. 2.7.2 styp Präfixbildungen Die meisten Präfixe (Verbzusätze) sind entweder trennbar oder untrennbar (fest). Die Präfixe durch, um, über, unter, wider, wieder sind teils trennbar, teils untrennbar.

272 Die festen Präfixe sind: be-: ge-: ent-: er-: hinter-: miss-: ver-: zer-: signalisiert Bewirkung: begeistern, beherrschen, bezwingen es kann ornative Bedeutung haben: begrenzen, begrünen, bewaffnen, bereifen kennzeichnet Transitivierung: betreten (statt treten in + A), besteigen, besiegen dient zu Neubildungen: bekommen, berichten, betrügen, beziehen im Infinitiv hat es keine eigene Bedeutung: gelingen, gewinnen, gedenken, gedeihen signalisiert Bewegung»von etwas weg«: entlaufen, enteilen, entschwinden, entfliehen markiert Beginn eines Geschehens: entbrennen, entflammen, entstehen, entzünden signalisiert Beginn eines Geschehens: erblühen, erbauen, erblinden, ertönen drückt den erfolgreichen Abschluss aus: erhalten, erklimmen, erreichen dient zu Neubildungen: erzählen,(sich) erkälten bezeichnet Gegenteil, Negation: hintertreiben, hinterziehen isolierte Bildungen: hintergehen, hinterfragen signalisiert Negation: missbilligen, misslingen, missraten signalisiert Vollendung eines Geschehens: verhungern, verleihen, verspielen, versteppen, verändern drückt Auseinanderbewegung aus: zerbrechen, zerschlagen, zerspringen Die wichtigsten festen Präfixe fremder Herkunft sind: de-: dis-: in-: re-: drückt Gegensatz aus: deformieren, demaskieren, demilitarisieren markiert Gegensatz: dislozieren signalisiert Bewegung in etwas hinein: injizieren, infiltrieren markiert Wiederholung eines Geschehens: remilitarisieren, reprivatisieren Die wichtigsten unfesten (trennbaren) Präfixe sind: ab-: an-: auf-: aus-: markiert Wegbewegung: abblitzen, abfahren, abnehmen markiert Einschränkung, Trennung: abbeißen, abnehmen (an Gewicht), abtrennen, abschlagen markiert Gegensatz, Aufhebung: abberufen, abwählen markiert Hinbewegung, Hinwendung: ankommen, anfahren, ansprechen, anschneiden markiert Anfang eines Geschehens: anbraten, anbrennen hat einen vielseitigen Bedeutungsumfang: aufmachen, aufstemmen, aufstützen, aufhellen, aufessen markiert Bewegung von etwas weg: ausgehen, aussteigen markiert Beendigung eines Geschehens: ausplaudern, ausdiskutieren

Grammatik 273 bei-: ein-: los-: mit-: nach-: vor-: zu-: kennzeichnet ein Geschehen als begleitenden Umstand: beilegen, beimessen, beischlafen markiert Bewegung in etwas hinein: einfahren, einwerfen, einmarschieren Beginn eines Geschehens: einfahren (in Schwung bringen), sich einleben markiert Beginn eines Geschehens: losfahren, losmarschieren markiert begleitendes Geschehen: mitessen, mitfahren markiert räumliche und zeitliche Perspektive: nachgehen, nachforschen, nachfragen Imitation: nachahmen, nachschreiben markiert räumliche und zeitliche Perspektive (auch in übertragener Bedeutung): vorgehen, vorsehen, vorsingen markiert Hinbewegung, Hinwendung: zufließen, zugießen, zusehen Einige Präfixe kommen sowohl betont und trennbar als auch unbetont und untrennbar vor. Dazu gehören: durch-: Beispiele: trennbar und betont: markiert Passieren eines Raumes: durchackern (Partizip II durchgeackert) preorať, durchbacken prepiecť, durchbringen preniesť, durchgehen prechodiť, durchfahren precestovať, durchgreifen prestrčiť ruku, zakročiť untrennbar und unbetont: markiert Anfang Ende: durchackern (Partizip II durchackert) prehrýzť sa, durchbacken zapiecť, durchfahren prejsť (určitú trasu), durchbringen stráviť signalisiert die Bewegung durch etwas hindurch: durchdringen, durchleuchten, durchscheinen Das Feld ist durchgeackert. Pole je preorané. Die Sterne blicken durch. Hviezdy presvietajú (cez mraky). Das Brett ist durchgebohrt. Doska je prevŕtaná. Der Schmuggler hat seine Ware nicht durchgebracht. Pašerák nepreniesol svoj tovar. Das Wasser dringt durch den Mantel durch. Voda premoká cez plášť. Der Zug fährt durch. Vlak prechádza bez zastávky. Der Student ist bei der Prüfung durch Dieses Gebiet der Astronomie ist schon durchackert. Táto oblasť astronómie je už prebádaná. Ich durchblicke ihn. Vidím mu do duše. Sie hat ihn mit Blicken durchbohrt. Prevŕtala ho pohľadmi. Sie durchbrachte eine schlaflose Nacht. Strávila bezsennú noc. von Dankbarkeit durchdrungen sein byť plný vďaky Der Rennfahrer durchfuhr die Strecke in Rekordzeit. Pretekár prešiel trať v rekordom čase. Ihn durchfuhr ein Schreck. Zmocnila sa