NS-Dokumentationszentrum München Gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger
Gutachterliche Stellungnahme zur Errichtung eines NS-Dokumentationszentrums in München Das Kulturreferat der Stadt München beauftragte im August 2003 Frau Cilly Kugelmann (Jüdisches Museum Berlin) und die Herren Norbert Frei (Universität Bochum), Albert Lichtblau (Universität Salzburg) und Winfried Nerdinger (TU München) mit einer gutachterlichen Stellungnahme zu dem vom Münchner Stadtrat und dem Bayerischen Landtag beschlossenen NS-Dokumentationszentrum in München. Auf der Basis der Beschlüsse von Stadtrat und Landtag sowie unter Einbeziehung eines Gutachtens des Instituts für Zeitgeschichte, einer Stellungnahme des Stadtarchivs, der Ergebnisse zweier Symposien des Kulturreferats und der Landeszentrale für politische Bildung sowie der Stellungnahme des Initiativkreises für ein NS-Dokumentationszentrum sollten sich die Gutachter über Rahmenbedingungen zur Durchführung des geplanten Dokumentationszentrums äußern. Vorbemerkung Nach einem Vorgespräch mit den Vertretern des Initiativkreises am 14. August 2003 und einem ersten Treffen der Gutachter am 23. September 2003 wurde auf ausdrücklichen Wunsch von Herrn Frei und Frau Kugelmann noch Herr Volker Knigge (Gedenkstätte Buchenwald) hinzugezogen. Beim zweiten Treffen am 9./10. November 2003 zeigte sich, daß in der Gruppe der Gutachter zwischen Frau Kugelmann, Herrn Frei und Herrn Knigge auf der einen und dem Vf. auf der anderen Seite, völlig konträre Vorstellungen vorhanden waren, insbesondere bezüglich Konzept: Museum vs. Dokumentationszentrum Inhalt: Ausstellung von NS-Objekten und Konzentration auf Biographien vs. Struktur- und Ereignisgeschichte mit biographischen Elementen Zielsetzung: deutsche Gesellschaftsgeschichte im Nationalsozialismus vs. München und der Nationalsozialismus Da sich diese Gegensätze beim Versuch eine gemeinsame Stellungnahme zu schreiben, noch verschärften, schied Herr Lichtblau aus dem Gutachterkreis aus und der Vf. formulierte die hier vorgelegte eigene Stellungnahme.
Zielsetzung des NS-Dokumentationszentrums München Daß es richtig und wichtig ist, in München ein NS-Dokumentationszentrum einzurichten, braucht nicht mehr eigens begründet zu werden, denn dies ist durch die Beschlüsse des Münchner Stadtrats und des Bayerischen Landtags, mit denen langjährige Forderungen vieler Bürger und Gruppierungen erfüllt wurden, zur Genüge bekräftigt worden. Als Ziel kann allgemein formuliert werden, daß ein Ort geschaffen werden soll, wo sich alle Interessierten, von Münchner Schulklassen und Bürgern bis zu auswärtigen Besuchern, über Entwicklung, Herrschaft und Wirkung des Nationalsozialismus, unter besonderer Beachtung der Rolle Münchens, informieren können. Das NS-Dokumentationszentrum soll ein lebendiger und zentraler Ort der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus werden, hier sollen neben einer Dauerausstellung auch Wechselausstellungen, Veranstaltungen oder Diskussionen stattfinden, in denen wechselnde Themen oder aktuelle Fragestellungen zum Nationalsozialismus und seiner Wirkung in kleinen oder größeren Gruppen behandelt werden können, so daß davon Anregungen und Anstöße zu weiteren Diskussionen ausgehen. Die Dauerausstellung soll weder belehrend noch auf Emotionen zielend konzipiert werden, sondern soll dokumentierend, d.h. rational nachprüfbar, Fakten, Informationen und Erläuterungen zu allen relevanten Bereichen liefern. Die Zielsetzung richtet sich also auf ein Dokumentationszentrum für mündige Bürger. Struktur Im Dokumentationszentrum darf der Nationalsozialismus nicht zu politischen Zielen instrumentalisiert, sondern es soll kritische Aufklärung unter dem Leitthema Wie konnte es passieren betrieben werden. Es handelt sich um einen Lernort und kein Museum (charakterisiert durch Präsentation von Originalen). Bei der Darstellung des Nationalsozialismus geht es vorrangig um die Auseinandersetzung mit Tätern und Mitläufern, deren Umfeld, Motive und Handlungen sowie den Folgen (es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß zu Tätern immer Opfer gehören, die selbstverständlich entsprechend, aber in anderer Form einzubeziehen sind). Die dazu angemessene Darstellungsform ist die Präsentation von Dokumenten - dies umfaßt alle Formen schriftlichen, fotografischen oder filmischen Materials -, die präzise, nachprüfbare Einblicke in Strukturen, Zusammenhänge und Auswirkungen aufzeigen und die Evidenz, also sich selbst erklärende Einsicht vermitteln. Eine Darstellung der Struktur- und Ereignisgeschichte ist gleichermaßen wichtig und notwendig wie die Vermittlung von Biographien und Lebenswelten, beide Seiten sind unab-
dingbar zum Verständnis und müssen sich ergänzen. Jede Form von emotionaler Attraktion, biographischer Einfühlung oder einseitiger Personalisierung sollte unbedingt vermieden werden. Derartige Präsentationsformen können bei Gedenkstätten, in denen an die Opfer erinnert werden soll, angemessen und richtig sein, aber selbst hier wird heute vielfach auf diese Mittel verzichtet, wie beispielsweise die Neueinrichtung der KZ-Gedenkstätte Dachau eindrücklich belegt. Der kategoriale Unterschied zwischen Gedenkstätte, Holocaust-Museum oder einem Jüdischen Museum und einem NS-Dokumentationszentrum muß immer beachtet werden, denn er bestimmt auch die Struktur der Einrichtungen. Aus diesem Grund sollte auch auf das Ausstellen von Objekten aus der NS-Zeit vollständig verzichtet werden. Seit etwa 30 Jahren sind alle Versuche sowohl einer Musealisierung als auch einer wie auch immer gearteten Verfremdung von NS-Objekten zur musealen Präsentation mißlungen oder gescheitert. Wer glaubt, man müsse eine Darstellung des Nationalsozialismus für die nächsten Generationen spannend oder attraktiv machen, würde bereits im Ansatz die grundsätzliche Bedeutung und Zielsetzung der Aufgabe verfehlen. Bei der Darstellung des Nationalsozialismus geht es nicht um museologische Techniken zur Aktivierung des Interesses, sondern um evidente Vermittlung von Fakten. Dies kann mit größtem Erfolg durch Dokumentation erreicht werden, wie die seit den 80er Jahren entstandenen Dokumentationszentren von der Topographie des Terrors in Berlin über das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln bis zu den beiden bayerischen Zentren in Nürnberg und am Obersalzberg mit eindrucksvollen Besucherzahlen belegen. Ein Dokumentationszentrum ist die angemessene und zeitgemäße Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der schon seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr von Zeitgenossen, sondern von den nachfolgenden Generationen erforscht und vermittelt wird. Selbstverständlich müssen auch die Möglichkeiten der modernen medialen Vermittlung eingesetzt werden, aber nicht im Sinne einer Fiktionalsierung oder gar Virtualisierung. Die heutigen Betrachter von Bildern sind in ganz anderem Maße als frühere Generationen für die Manipulierbarkeit jeder Art von Information und insbesondere von Bildträgern sensibilisiert. Die rationale, überprüfbare Vermittlung authentischer Eindrücke und Fakten ist deshalb von zentraler Bedeutung. Dazu gehört auch die Aufklärung über Intention und Blickwinkel von Dokumenten und Aussagen jeder Art. Das Thema Nationalsozialismus ist weder wissenschaftlich noch gesellschaftlich abgeschlossen, dies belegen die seit Jahrzehnten immer wieder neuen Themen und Diskussionen von der Goldhagen-Debatte, über den Holocaustdenkmal-Streit oder die Wehrmachtsausstellung bis zu den jüngsten Auseinandersetzungen um die Opferrolle bei
Vertreibung und Bombenkrieg. Auch innerhalb der Geschichtswissenschaft finden sich widerstreitende Positionen sowie ein Wandel der Themen. Das Dokumentationszentrum darf kein Forum einer bestimmten Interpretationsrichtung sein, sondern muß die verschiedenen Deutungsansätze wie Führerstaat, rassistische Volksgemeinschaft, Verführung und Gewalt etc. einbeziehen. Die Dauerausstellung sollte deshalb nicht als fixierte, definitive und abgeschlossene Darstellung konzipiert werden, sondern sollte die Möglichkeit bieten, auf neue Fragestellungen, Forschungen etc. zu reagieren, also prozessual angelegt sein. Dies würde auch den Charakter eines lebendigen Lernortes verstärken. Inhalt Die Erarbeitung aller inhaltlichen Details des NS-Dokumentationszentrums ist Aufgabe einer Expertenkommission. Dabei muß die spezifische Rolle Münchens im Nationalsozialismus besonders beachtet und dargestellt werden, denn daraus ergibt sich auch die besondere Stellung und Bedeutung des Münchner NS-Dokumentationszentrums im Vergleich mit allen anderen Dokumentationszentren in Deutschland. Im Folgenden werden nur einige ausgewählte Themenfelder genannt, um Bedeutung und Breite der Aufgaben anzudeuten: Da sich Gründung und Aufstieg des Nationalsozialismus in München vollzogen, muß einer der Schwerpunkte der Dokumentation darauf gelegt werden, das geistige, gesellschaftliche, personelle und politische Umfeld aufzuzeigen, das den Nationalsozialismus ermöglichte. Münchens Doppelrolle als Hauptstadt der Bewegung sowie als Hauptstadt der Deutschen Kunst beinhaltet eine Vielzahl Themen, die speziell auf München bezogen sind und dargestellt werden sollten, wie beispielsweise: Ritual und Kult des 9. November, Zentrum von Parteiorganisationen, Mitgliederzentrale, Instrumentalisierung der Künste (Haus der Kunst, Festzüge, Ausstellung Entartete Kunst ), Vorbildfunktion der Bauten am Königsplatz Am Zusammenhang zwischen der Terrorzentrale der Gestapo im Wittelsbacher Palais und dem ersten Konzentrationslager, das in Dachau eingerichtet wurde und als Modell für alle weiteren Konzentrationslager diente, können Verfolgung, Terror und Widerstand behandelt werden. Das NS-Dokumentationszentrum in München und die Gedenkstätte in Dachau könnten antithetisch aufeinander bezogen werden, damit die Besucher der beiden Einrichtungen sich ergänzende Informationen am jeweiligen Ort erhalten. Zwangsarbeit in München und Außenlager, aber beispielsweise auch die Arisierungen gehören in diesen Zusammenhang.
Die Topographie des Terrors in München und die funktionalen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Bauten sowie die Biographien und Lebenswelten der beteiligten Personen sollten aufgezeigt werden, so daß die authentischen Orte mit Geschichte aufgefüllt und mit entsprechendem Hintergrundwissen aufgesucht werden können. Die für München spezifischen Themen sollten, sofern möglich und notwendig, in größere Zusammenhänge eingeordnet werden, damit sich ein zutreffendes Gesamtbild der Phänomene ergibt. Selbstverständlich gehören zahlreiche Bereiche, die nicht münchenspezifisch, aber zum Verständnis des Nationalsozialismus erforderlich sind, ebenfalls in das NS-Dokumentationszentrum. Die Wirkungen des Nationalsozialismus über 1945 hinaus, wie beispielsweise Kontinuitäten des Antisemitismus und Rassismus, sowie der Umgang mit diesen Themen und Problemen sollten in entsprechender Form einbezogen werden, damit das NS-Dokumentationszentrum ein lebendiger Lernort wird und bleibt. Ort An keinem anderen Ort in München verdichtet sich die Geschichte des Nationalsozialismus in dieser Stadt geographisch so stark wie in dem Bereich um das ehemalige Braune Haus am Königsplatz. Mit dem 1930/31 zur Parteizentrale umgebauten Palais Barlow können Aufstieg, Anspruch und Verwurzelung der NSDAP in München in besonderem Maße verbunden werden. Nach 1933 entstand hier das erste Bautenensemble des Dritten Reichs, das sowohl als Vorbild für Repräsentationsbauten in ganz Deutschland als auch als Zentrum für Parteiorganisationen und Stätte eines pseudoreligiösen Märtyrer -Kults diente. In direkter Umgebung befinden sich der Führerbau (Ort des Münchner Abkommens), das Verwaltungsgebäude der NSDAP (Sitz des Schatzmeisters der Partei und Ort der Mitgliederkartei), die Reste der Ehrentempel sowie zahlreiche weitere mit der Geschichte des Nationalsozialismus verknüpfte Bauten und Orte von der Gestapo-Zentrale im ehemaligen Wittelsbacher Palais bis zum Bunker des Kanzleigebäudes an der Gabelsbergerstraße. Information und Dokumentation können in ihrer Wirkung verstärkt werden, wenn sie mit den Orten des Geschehens, an das erinnert werden soll, verknüpft sind. Das abgeräumte Grundstück des ehemaligen Braunen Hauses ist deshalb historisch, inhaltlich und städtebaulich der adäquate Ort für den Bau und die Einrichtung des NS-Dokumentationszentrums in München. Ein Neubau auf dem Gelände des Braunen Hauses, der sich bewußt in dem Ensemble des ehemaligen Parteiviertels und NS-Kultzentrums ar-
chitektonisch artikuliert, wäre auch ein optisches Signal dafür, daß und wie sich die Stadt München der spezifischen Verantwortung stellt, die ihr auf Grund ihrer Rolle als Ort des Aufstiegs der NSDAP und als ehemalige Hauptstadt der Bewegung zukommt. Im direkten Umfeld des ehemaligen Braunen Hauses sind genügend bebaubare Flächen vorhanden, bzw. können geschaffen werden, um alle notwendigen Räumlichkeiten und Funktionen für ein NS- Dokumentationszentrum unterzubringen. Eine Vielzahl von Möglichkeiten der räumlichen Nutzung bieten sich an, die durch einen möglichst breit und offen ausgeschriebenen Architekten-Wettbewerb geklärt werden sollten. Der Ort befindet sich in direkter Nähe eines U-Bahnhofs sowie mehrerer Bus- oder Straßenbahnhaltestellen und ist deshalb sowohl für Münchner wie für auswärtige Besucher gut erreichbar. Darüber hinaus ist das Gelände in das besonders gut frequentierte Museumsviertel eingebunden, so daß sich eine gegenseitige Anziehungskraft zwischen Museen und NS-Dokumentationszentrum und deren Besuchern entwickeln könnte. Raumprogramm und Flächenbedarf Aus Struktur und inhaltlichen Aufgaben des NS-Dokumentationszentrums ergibt sich folgender ungefährer Flächenbedarf: - ca. 2000qm ständige Ausstellung - ca. 300qm Wechselausstellungen/Projekträume - ca. 250qm Film-, Veranstaltungs- und Vortragssäle - ca. 150qm Lese- und Infobereich - ca. 100qm Büroräume für Mitarbeiter - ca. 100qm Archiv- und Studienräume - Nebenräume (Lager, WC etc.) zusammen ca. 3000qm Die Anzahl des Personals sollte sich am NS-Dokumentationszentrum in Nürnberg orientieren. Organisation Das NS-Dokumentationszentrum muß unabhängig von Interessen oder Gruppierungen sein. Inhalt und Struktur werden von einem wissenschaftlichen Beirat erarbeitet, der interdisziplinär ausgerichtet und zusammengesetzt ist und der seine Vorstellungen auch öffentlich zur Diskussion stellt, damit das Ergebnis von einer interessierten Mehrheit der Bürger
mit getragen wird. Ein mit Vertretern aller relevanten Gruppierungen zusammengesetztes Kuratorium überwacht und garantiert die Unabhängigkeit und Qualität des NS-Dokumentationszentrums München. Univ.-Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger München, den 5. Februar 2004 Die Gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger wurde mit Beschluss der Vollversammlung des Stadtrats vom 20.04.2004 zur Arbeitsgrundlage der Stadt München bestimmt. Folgende erweiternden Fragestellungen wurden für die Entwicklung eines inhaltlichen Konzepts gewünscht (Beschluss des Kulturausschusses vom 01.04.2004): Mit welcher Konzeption können junge Menschen erreicht werden? Wie kann mit den veränderten Rezeptionsweisen der modernen Mediengesellschaft das Thema des Nationalsozialismus aufgegriffen werden, ohne in postmoderne Beliebigkeit zu verfallen? Wie sind die Strukturen des nationalsozialistischen Terrorregimes darstellbar? Wie werden verschiedene Dokumente (Fotos, Filmmaterial, Zeitzeugenberichte, Objekte) unter Berücksichtigung der jeweiligen Perspektive (Opfer-, Widerstand- und Täterposition) in der Ausstellung präsentiert? Welche Rolle ist München in der Entstehungsphase des Nationalsozialismus zuzuordnen?