25 Jahre Freiheit und Einheit

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Transkript:

25 Jahre Freiheit und Einheit

25 Jahre Freiheit und Einheit

Inhalt Grußwort der Bundeskanzlerin 6 Kapitel 1: Wir sind das Volk! 9 Kapitel 2: Das Jahr der Wiedervereinigung 23 Kapitel 3: Neue Strukturen schaffen 33 Kapitel 4: Unrecht benennen und aufarbeiten 47 Kapitel 5: Erfolgsstory Aufbau Ost 55 Kapitel 6: Stadtumbau und Denkmalschutz 73 Kapitel 7: Reiche Kulturlandschaft erhalten 81 Kapitel 8: Wissen schafft Wohlstand 89 Kapitel 9: Die Sanierung der Umwelt 99 Kapitel 10: Bessere Gesundheits versorgung 111 Kapitel 11: Auf gute Nachbarschaft 117 Kapitel 12: Eine Bilanz 125 Impressum 134

wer Anfang 1989 vorhergesagt hätte, im Laufe des Jahres werde das SED-Regime in der DDR seine Macht verlieren und die Berliner Mauer fallen, hätte bestenfalls ungläubiges Kopfschütteln geerntet. Doch nach den Kommunalwahlen im Mai entwickelte die Protestbewegung nach und nach mehr Kraft. Am Ende waren es Hunderttausende, die gegen staatliche Bevormundung, Repression und Misswirtschaft auf die Straßen gingen. Sie zwangen das Regime mit dem Ruf Wir sind das Volk! in die Knie. Und es geschah, was kaum jemand so schnell für möglich hielt: Die innerdeutsche Grenze öffnete sich. Danach sollte es kein Jahr mehr dauern, bis die Deutsche Einheit vollendet war eine geradezu zwangsläufige Konsequenz vorangegangener Ereignisse und doch angesichts vieler Unwägbarkeiten ein Glücksfall, der einem feinen politischen Gespür für die Gunst der Stunde und großem diplomatischen Geschick zu verdanken war. Was zeigt uns der Blick zurück auf die vergangenen 25 Jahre? Ob es um Lebensqualität im Allgemeinen oder um Infrastrukturen im Besonderen geht heute sind zwischen den neuen und alten Bundesländern kaum noch Unterschiede festzustellen. Wir haben die Folgen der sozialistischen Misswirtschaft weitgehend überwunden. So kurz und nüchtern diese Feststellung auch sein mag, dahinter stehen Jahre gewaltiger Kraftanstrengungen und großer Solidarität in unserem Land. 6

GRUSSWORT DER BUNDESKANZLERIN Besonderen Respekt haben diejenigen verdient, die beruflich wieder ganz von vorn anfangen mussten. Die schlechte wirtschaftliche Ausgangslage zog einen langwierigen Strukturwandel nach sich, was einen Neustart vielfach schwieriger machte als anfangs gedacht. Inzwischen ist die Arbeitslosigkeit erheblich gesunken. Dennoch fällt sie im Osten immer noch höher aus als im Westen. Daher hält die Bundesregierung an ihrer Zusage weiterer Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen des Solidarpakts II fest. Im Laufe der Jahre haben sich die Aufgaben gewandelt, vor denen unser Land steht. Die demografische Entwicklung erfordert ebenso neue Antworten wie die digitale Revolution, um nur zwei innenpolitische Beispiele zu nennen. Deutschland ist aber auch gefragt, in der Welt Verantwortung zu übernehmen. Schon allein aus eigenem Interesse an Frieden und Freiheit sind wir gefordert, an der Lösung von Konflikten mitzuwirken. Die friedlich wiedererlangte Deutsche Einheit, die von Erfolg gekrönte Zivilcourage, die viele mutige Menschen vor 25 Jahren bewiesen, nähren auch heute unsere Zuversicht, dass, wo auch immer auf der Welt, keine Mauer so hoch und kein Graben so breit sein kann, um nicht überwunden zu werden. Nichts muss so bleiben, wie es ist diese tiefgreifende Erfahrung nach jahrzehntelanger Teilung ist uns auch heute Ansporn und Inspiration, um Dinge zum Guten zu wenden. Diese Erfahrung zählt wohl mit zu den besten, die wir Deutsche jemals gewinnen durften. Bundeskanzlerin 7

KAPITEL 1 Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. 8

Wir sind das Volk! Kapitel 1 Wir sind das Volk! 7. Mai 1989: Kommunalwahlen in der DDR. Als die staatlich gelenkten Medien am Abend die Ergebnisse präsentieren, ahnt niemand, dass dieser Tag ein Meilenstein ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Freiheit und zur Deutschen Einheit. Denn zum ersten Mal gelingt es Bürgerrechtlern nachzuweisen, dass die SED Wahlen fälschen lässt. In der DDR beginnt eine Welle des Protests. Nur ein Jahr später finden die ersten freien Kommunalwahlen statt in einer völlig veränderten DDR. Denn deren Bevölkerung hat am 18. März 1990, bei der ersten freien Volkskammerwahl, der Herrschaft der SED ein Ende bereitet. Das geteilte Deutschland Es lässt sich darüber streiten, wann das Ende der SED-Diktatur begann. Mancher hat dem Arbeiter- und Bauernstaat schon bei der Gründung 1949 kaum Überlebenschancen eingeräumt. Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 sahen sich die Skeptiker bestätigt. Spätestens der Mauerbau am 13. August 1961 kam in den Augen vieler Beobachter einer Bankrotterklärung des SED-Staates gleich. Denn der eigentliche Zweck des antifaschistischen Schutzwalls bestand darin, die Menschen mit aller Gewalt an der Flucht in den Westen zu hindern, nachdem die Flüchtlingszahlen in den Monaten davor erheblich gestiegen waren. Volksaufstand am 17. Juni 1953. 9

KAPITEL 1 Nach dem Mauerbau können sich getrennte Familien und Freunde nur noch zuwinken. Dennoch war nicht vorherzusehen, dass ein gutes Vierteljahrhundert später die Mauer und die DDR verschwinden würden. Die SED-Herrschaft, gestützt durch die Sowjetunion, schien zementiert. Nach Jahren der Konfrontation hatte die neue Ostpolitik der Bundesregierung ab Anfang der 1970er Jahre die Tür für ein Nebeneinander der beiden deutschen Staaten geöffnet ohne die DDR damit völkerrechtlich anzuerkennen. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt erhielt für seine Entspannungspolitik 1970 den Friedensnobelpreis. Doch nicht nur zwischen den beiden deutschen Staaten begann sich dadurch der Umgang zu entspannen. Es gelang der DDR, binnen eines knappen Jahrzehnts mit rund 200 Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Auch ökonomisch schien die DDR zu erstarken. Selbst im Westen nahmen viele die geschönten Wirtschaftsstatistiken für bare Münze, wonach die DDR eine der zehn wirtschaftsstärksten Industrienationen der Welt sei. Die böse Überraschung sollte erst nach dem Ende der SED-Diktatur kommen. Der bundesdeutschen Politik ging es nach dem Mauerbau vorrangig um menschliche Erleichterungen. Die Passierscheinabkommen in den 1960er Jahren sowie der Grundlagenvertrag von 1973 ermöglichten es den Deut- 10

Wir sind das Volk! schen in Ost und West, sich trotz der Teilung zu begegnen. Die DDR zeigte Entgegenkommen, auch weil sie Devisen brauchte. Die Zunahme im Reiseund Besucherverkehr hatte für die Machthaber in Ost-Berlin einen unwillkommenen, von der Bundesregierung erhofften Effekt: Sie erhielt und förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Das Interesse an der Bundesrepublik nahm in der DDR nicht ab, sondern zu. West-Fernsehen und -Rundfunk waren für viele DDR-Bürger die Hauptinformationsquellen. Zugleich schuf die KSZE-Schlussakte von 1975 mit ihrem Passus zu Menschenrechten und Grundfreiheiten eine legitime Grundlage für Ausreiseanträge. Ihre Zahl stieg ständig an auch weil sich ab Mitte der 1970er Jahre die Wirtschaftsund Versorgungslage verschlechterte. Dem Ziel, die Folgen der Teilung erträglicher zu machen, dienten das Vier- Mächte-Abkommen über Berlin, die innerdeutschen Verträge und letztlich auch die Gegeneinladung des DDR-Staatschefs und SED-Parteichefs Erich Honecker nach Bonn nach Helmut Schmidts Besuch am Werbellinsee und in Güstrow 1981. Für den gebürtigen Saarländer ging mit seinem Besuch ein Lebenstraum in Erfüllung. Allerdings musste er sich von Bundeskanzler Helmut Kohl beim offiziellen Abendessen anhören, dass die Bundesrepublik am Ziel der Deutschen Einheit festhalte, weil sie dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht. 7. September 1987: Bundeskanzler Helmut Kohl empfängt den DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vor dem Bundeskanzleramt mit militärischen Ehren. 11

KAPITEL 1 DIE MAUER UND DIE INNERDEUTSCHE GRENZE IN ZAHLEN Todesopfer an der Berliner Mauer mindestens 138* Todesopfer an der innerdeutschen Grenze insgesamt rund 1.000** Gesamtlänge der innerdeutschen Grenze Innerstädtische Grenze zwischen Ost- und West-Berlin Gesamtlänge der Berliner Mauer 1.378 km 43,1 km 167,8 km Anzahl der Wachtürme 302 Selbstschussanlagen (zwischen 1971 und 1984) 55.000 Verlegte Minen an der Grenze rund 1,3 1,4 Millionen auf Menschen abgerichtete Hunde (bis 1980er Jahre) rund 3.000 * Ergebnis eines Forschungsprojekts der Gedenkstätte Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam ** Offizielle Zahlen liegen nicht vor; die Schätzungen reichen bis zu 1.129 (Forschungsverbund SED-Staat, Stand: November 2013) Wachsende Unzufriedenheit In den 1980er Jahren nahm die Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung dramatisch zu, vor allem unter den Jüngeren. Zeitgleich wuchs der Mut der Menschen. Selbst bei offiziellen Demonstrationen, wie der alljährlichen Kranzniederlegung am Grab von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde, trauten sich einige Bürgerrechtler 1988, Plakate und Spruchbänder mit dem Luxemburg-Zitat Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden hochzuhalten. Das Ministerium für Staatssicherheit zwang die Protestierenden, die Plakate einzurollen und verhaftete sie sowie andere vermeintliche Staatsgegner, die gar nicht teilgenommen hatten. Dank eines ARD-Kamerateams waren die Bilder allerdings umgehend in den Nachrichten zu sehen. Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 und der oft unfreiwilligen Ausreise mehrerer namhafter Schriftsteller und Künstler war 12

Wir sind das Volk! Wolf Biermann bei seinem Konzert in der Kölner Sporthalle am 13. November 1976. Drei Tage später hört er im Radio, dass die DDR ihn ausgebürgert hat. langsam, aber stetig eine Oppositionsund Bürgerrechtsbewegung entstanden. Das Regime ging dagegen mit allen Mitteln vor, wie Hunderttausende von Stasi-Berichten zeigen. In vielen Städten bildeten sich häufig unter dem schützenden Dach der Kirchen Jugendgruppen, die sich gegen die Politik des SED-Regimes auflehnten. Friedensbewegte Gruppen kritisierten den neu eingeführten Wehrkundeunterricht und das Fehlen eines zivilen Ersatzdienstes. Unter dem Motto Schwerter zu Pflugscharen wandten sie sich zudem gegen die Stationierung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa. Zunehmend wurde auch die allgegenwärtige Verschmutzung der Umwelt zum Anstoß für Protest. Bürgerrechtsgruppen forderten die Wahrung der Menschenrechte, und Ausreisewillige schlossen sich zusammen, um sich für ihre Rechte einzusetzen. Mit Verboten sowie durch Verfolgung oder Verhaftung versuchte das Regime, diese Entwicklung einzudämmen. Seit 1985 führte der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow tiefgreifende Reformen unter den Schlagwörtern Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) durch. Die hartnäckige Weigerung der SED- Führung, in der DDR einen ähnlichen Reformprozess zu vollziehen, führte zu immer größerem Missmut selbst innerhalb der SED, der in den 1980er Jahren über zwei Millionen Mitglieder angehörten. Abstimmung mit den Füßen Im Sommer 1989 begann der Ansturm auf die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin und die bundesdeutschen Botschaften in den Nachbarländern Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Auslöser war, dass Ungarn am 2. Mai begonnen hatte, die elektrische Grenzsicherung abzu- 13

KAPITEL 1 DDR-Flüchtlinge klettern über den Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag (Oktober1989). bauen. Zahlreiche DDR-Bürger flüchteten im Sommer auf diesem Weg nach Österreich und in die Bundesrepublik. Zehntausende hielten sich in Budapest auf und hofften auf eine Ausreisemöglichkeit; allein auf das Prager Botschaftsgelände flüchteten rund 6.000 Menschen aus der DDR. Am 10. September 1989 öffnete die ungarische Regierung die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger. Innerhalb von 72 Stunden nutzten 15.000 Ostdeutsche die Chance zur Flucht in den Westen. Die DDR erlebte mit dem Massenexodus einen Aderlass wie schon einmal kurz vor dem Mauerbau. Erich Honeckers herablassende Bemerkung, den Flüchtlingen solle man keine Träne nachweinen, heizte die Stimmung zusätzlich an. Am 30. September 1989 gelang es Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, für die Botschaftsflüchtlinge in Prag die freie Ausreise in den Westen auszuhandeln. Die Bilder von Genschers umjubelter Ankündigung auf dem Botschaftsbalkon sind unvergesslich. In den kommenden Wochen und Monaten überschlugen sich die Ereignisse. Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 wurden von Protesten begleitet. In Ost-Berlin gab es die ersten Verletzten, als Volkspolizei und Stasi die Demonstranten mit Gewalt zurückdrängten. Zuvor hat- 14

Wir sind das Volk! Michail Gorbatschow am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, in Ost-Berlin. ten die Ost-Berliner den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow begeistert gefeiert und mit Gorbi, hilf uns! -Rufen empfangen. Seine mahnenden Worte an die reformunwillige DDR-Führung Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben sind in die Geschichte eingegangen. Montagsdemonstrationen In Leipzig hatten bereits am 4. September 1989 die montäglichen Demonstrationen begonnen. Bald gingen auch in anderen Städten die Menschen mutig und entschlossen auf die Straßen und riefen: Wir sind das Volk! Am 9. Oktober versammelten sich in der Messestadt über 70.000 Teilnehmer zur größten Protestaktion seit dem 17. Juni 1953. Das Großaufgebot an Sicherheitsorganen bekam keinen Einsatzbefehl und hielt sich angesichts der Masse der friedlichen Demonstranten zurück. Für die Bürgerrechtler war das ein Signal und der entscheidende Wendepunkt. Die sowjetischen Panzer blieben, anders als 1953, in den Kasernen. Moskau kam der SED- Führung nicht mehr zu Hilfe. Montagsdemo am 9. Oktober 1989 in Leipzig. 15

KAPITEL 1 Schon eine Woche später, am 18. Oktober, trat Erich Honecker als SED-Generalsekretär und von seinen weiteren Funktionen als Staatsratsvorsitzender und Chef des Verteidigungsrates zurück. Sein Nachfolger wurde Egon Krenz. Er nahm gleich telefonischen Kontakt zu Bundeskanzler Helmut Kohl auf und suchte wenig später Michail Gorbatschow im Kreml auf, um Unterstützung für einen halbherzigen Reformprozess zu erhalten. Krenz wollte die SED weiterhin als führende Kraft in der DDR erhalten. Er versuchte sogar, sich mit der SED an die Spitze der Reformbewegung zu setzen, um den DDR-Sozialismus zu retten. Am 6. November fragte die neue DDR-Führung in Bonn nach der Möglichkeit, Kredite in ganz neuer Dimension zu bekommen. Bundeskanzler Helmut Kohl antwortete mit der Forderung nach durchgreifenden Reformen: Verzicht auf das Machtmonopol der SED, Zulassung demokratischer Parteien, freie Wahlen. Es waren dieselben Forderungen, die auch die Demonstranten erhoben. Die Mauer fällt Wie sehr der Staatsführung das Heft des Handelns bereits entglitten war, zeigte die gewaltige Massendemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Hunderttausende forderten mehr Demokratie und Reformen ein und brachten ihre Unzufriedenheit mit dem neuen Staatschef zum Ausdruck. Die Menschen feiern die Grenzöffnung auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. 16

Wir sind das Volk! Berlin, Grenzübergang Bornholmer Straße, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss das Politbüro ein Reisegesetz, das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz am frühen Abend des 9. Novembers 1989 mit einem Nebensatz in Kraft setzte. Er löste damit noch in der Nacht einen Ansturm auf die Berliner Grenzübergangsstellen aus, so dass den Grenzposten, die keine Anweisungen erhalten hatten, nichts anderes übrigblieb, als die Schlagbäume zu öffnen. Nach 28 Jahren trennten Mauer und Todesstreifen Deutsche nicht mehr von Deutschen. Wahnsinn!, riefen die Ersten, die in dieser Nacht über den Grenzübergang an der Bornholmer Straße von Ost- nach West-Berlin kamen. Fernsehsender aus aller Welt schalteten, so schnell sie konnten, live zu den Ereignissen an der Berliner Mauer. Eine solche Revolution, ausgelöst durch friedliche Proteste gegen die ständige Bevormundung, gegen Unfreiheit und die Verletzung elementarer Menschenrechte, hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben. 17

KAPITEL 1 Das rasante Tempo, in dem die DDR zerfiel, überraschte nicht nur die SED- Führung, sondern auch die Bundesregierung und die Opposition in Bonn. Helmut Kohl befand sich am Tag der Maueröffnung auf einem offiziellen Besuch in Polen und erfuhr telefonisch von dem historischen Ereignis. Er versuchte, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren, ohne die polnischen Gastgeber vor den Kopf zu stoßen. In Bonn unterbrach der Bundestag seine Haushaltsberatungen, in der Parlamentslobby verfolgten die Abgeordneten die Berliner Ereignisse am Fernsehschirm. Als Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth die Maueröffnung verkündete, stimmten die Abgeordneten spontan die Nationalhymne an. Versuche, den DDR-Sozialismus zu retten In der DDR trat schon wenige Tage nach der Grenzöffnung Willi Stoph als Vorsitzender des Ministerrats zurück. Sein Nachfolger wurde der Dresdner SED-Chef Hans Modrow, den zu dieser Zeit auch im Westen einige als Hoffnungsträger ansahen. Aber auch Modrow ging es in erster Linie darum, mit Reformen die DDR als sozialistischen Staat zu erneuern. Der Zentrale Runde Tisch im Ost-Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus. 18

Wir sind das Volk! Im Dezember formierte sich der Zentrale Runde Tisch mit 33 Mitgliedern aller politischen Gruppen und Parteien. Den Vertretern der Parteien, die in der Nationalen Front zusammengeschlossen waren, jetzt aber nach und nach aus dem Parteienblock ausbrachen, saßen die Abgesandten des FDGB und der Oppositionsgruppen gegenüber Vertreter des Demokratischen Aufbruchs, der Sozialdemokratischen Partei, von Demokratie Jetzt und dem Neuen Forum, der Initiative für Frieden und Menschrechte, dem Unabhängigen Frauenverband und der Vereinigten Linken sowie der Grünen Partei und der Grünen Liga. Die Moderation der Treffen lag in den Händen von drei Kirchenvertretern. Kohls Zehn-Punkte-Programm Ende November 1989 ging Helmut Kohl mit einem Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands in die Offensive. Darin mahnte der Bundeskanzler, wie er es schon am 7. und 8. November getan hatte, die Aufhebung des Machtmonopols der SED an. Im Zentrum von Kohls Deutschlandplan stand der Vorschlag, in einem stufenweisen Vorgehen die Wiedervereinigung Deutschlands anzustreben mit der Zwischenetappe konföderativer Strukturen und eingebettet in die gesamteuropäische Entwicklung. Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand, sagte Kohl vor dem Bundestag. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher. Damals war Helmut Kohl noch davon überzeugt, dass die Einheit erst in drei oder vier Jahren kommen werde, auf jeden Fall erst nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes, wie er später in seinen Memoiren schrieb. Die Dynamik des Vereinigungsprozesses sollte diese Erwartung schnell überholen. Entscheidend aber war: Das Thema Deutsche Einheit stand nun auf der internationalen Tagesordnung. Bundeskanzler Kohl trägt im Deutschen Bundestag sein Zehn-Punkte-Programm vor (28. November 1989). 19

KAPITEL 1 Wir sind ein Volk! In den Städten der DDR demonstrierten die Menschen indes weiter für demokratische Veränderungen. Aus dem Ruf Wir sind das Volk! wurde jedoch zunehmend Wir sind ein Volk!. Die Umfragen unter der DDR-Bevölkerung widersprachen sich allerdings. Während die Befragungen der Westmedien ergaben, dass die Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung wolle, war das Ergebnis bei den DDR-Demoskopen genau entgegengesetzt. Nach ihren Umfragen wollte die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt vor allem eine bessere DDR. Ein Transparent mit der Aufschrift Wir sind ein Volk! bei einer Montagsdemonstration in Leipzig. 20

Wir sind das Volk! 19. Dezember 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden. Die Bilder sprachen allerdings eine deutliche Sprache: Drei Wochen nach dem Zehn-Punkte-Programm begrüßten Hunderttausende Bundeskanzler Helmut Kohl begeistert vor der Dresdner Frauenkirche mit Deutschlandfahnen und sogar mit Transparenten wie Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler. Endgültige Klarheit brachte dann die Volkskammerwahl vom 18. März 1990. 21

KAPITEL 2 Silvesterparty 1989/90 am Brandenburger Tor. 22

Das Jahr der Wiedervereinigung Kapitel 2 Das Jahr der Wiedervereinigung Es war eisig kalt, als sich am Brandenburger Tor Hunderttausende aus Ost und West zu einer riesigen Silvesterparty versammelten. Noch wenige Wochen zuvor hätte sich das niemand vorstellen können. Es ließ sich bereits ahnen, dass die Böllerschüsse der bevorstehenden Einheit galten. 1990 sollte für Deutschland zum geschichtsträchtigsten Jahr seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden. Massenexodus Ein neuer Slogan machte insbesondere unter jungen Ostdeutschen die Runde: Kommt die DM, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh n wir zu ihr. Um die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren und den anhaltenden Massenexodus zu stoppen, bat die Regierung Modrow um Finanzhilfen der Bundesrepublik. Doch damit stieß sie bei der Bundesregierung auf taube Ohren. Einen Lastenausgleich von rund 15 Milliarden DM lehnte sie strikt ab auch beim Februar-Treffen in Bonn, als Hans Modrow mit 17 Vertretern von Parteien und Gruppierungen zu Kohl an den Rhein kam. Die Bundesregierung wollte zuerst die Ergebnisse der ersten freien Wahlen abwarten, um dann mit einer legitimierten Regierung verhandeln zu können. Stattdessen bot die Bundesregierung eine deutsche Wirtschafts- und Währungsunion an und drängte darauf, möglichst bald über die Schritte zur Demonstranten fordern die Einführung der D-Mark während einer Montagsdemonstration im Januar 1990 in Leipzig. 23

KAPITEL 2 Verwirklichung der Einheit zu sprechen. Dafür waren inzwischen auch in der DDR alle politischen Parteien und Gruppen mit Ausnahme der Grünen und der SED/PDS. Einen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 lehnte aber zum Beispiel der Zentrale Runde Tisch zu diesem Zeitpunkt noch ab. Besonders in Reihen der Oppositionsgruppen befürworteten viele ein Zusammengehen beider Staaten nach Artikel 146, der die Ausarbeitung einer gemeinsamen neuen Verfassung vorsah. Der Zentrale Runde Tisch beschloss jedoch, die ersten freien Volkskammerwahlen vom 6. Mai auf den 18. März 1990 vorzuziehen. Die wirtschaftliche Lage entwickelte sich in den ersten Januar-Wochen so dramatisch, dass es notwendig war, so zügig wie möglich eine handlungsfähige Regierung zu bekommen. Im ganzen Jahr 1989 waren knapp 344.000 Menschen aus der DDR in den Westen übergesiedelt, vom 1. Januar bis zum 17. Februar 1990 waren es bereits 89.000. Die Folge war, dass vielerorts plötzlich Fachkräfte fehlten. Eins kam zum anderen: In vielen Betrieben kam es zu Arbeitsniederlegungen, weil die Beschäftigten verhindern wollten, dass die SED Macht behielt oder sogar wiedergewinnen konnte. Ab Februar streikten sie auch für höhere Löhne. Zwischen Parteien und politischen Gruppen entbrannte ein Streit um den Umgang mit dem Volkseigentum, den verstaatlichten Betrieben. Die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern verschlechterte sich zusehends. Erste Subventionen entfielen. Auf dem Schwarzmarkt kostete eine D-Mark bis zu 18 DDR-Mark. Alle Versuche der Regierung, die Entwicklung in den Griff zu bekommen, scheiterten im Ansatz. Die Verunsicherung in der Bevölkerung wuchs und hatte zur Folge, dass sich jetzt, bei einer Umfrage im Februar 1990, drei Viertel für eine Wiedervereinigung Deutschlands aussprachen, 27 Prozent mehr als im Herbst 1989. Vorbehalte im Ausland zerstreuen In den folgenden Monaten standen die Bedingungen für eine mögliche Wiedervereinigung im Fokus der bundesdeutschen Außenpolitik. Der Bundeskanzler 24

Das Jahr der Wiedervereinigung Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs und Außenminister am 28. April 1990 in Dublin. war insbesondere damit beschäftigt, den westlichen Verbündeten, aber auch den deutschen Nachbarn, Vorbehalte und Ängste zu nehmen. Unterstützung erhielt Kohl dabei vor allem von der US-Regierung. Am 13. Februar 1990 beschlossen die einstigen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die beiden deutschen Staaten in Ottawa, Schritte auf dem Weg zu einer möglichen Deutschen Einheit einzuleiten. Damit war der Prozess der Zwei-plus-Vier- Verhandlungen eingeleitet. Die erste freie Volkskammerwahl Zu dieser Zeit hatte der Wahlkampf längst begonnen. 19 Parteien und fünf Listenverbindungen wetteiferten um die Stimmen von 12,2 Millionen Wählern. Einige Vertreter der DDR-Opposition wandten sich vergeblich gegen eine Beteiligung der westdeutschen Parteien. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach auf Kundgebungen in sechs DDR- Städten. Auch Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und andere bundesdeutsche Spitzenpolitiker absolvierten zahlreiche Wahlkampfauftritte. Willy Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt am 4. März 1990 in Erfurt. 25

KAPITEL 2 Brandt kam zum Beispiel nach Erfurt und besuchte das Hotel Erfurter Hof, wo er sich 1970 mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph getroffen hatte. Die Erfurter hatten den damaligen Bundeskanzler mit ihren Rufen Willy Brandt ans Fenster! begeistert empfangen. Die Wahl am 18. März mit einer Beteiligung von 93,4 Prozent endete anders, als es die Demoskopen vorausgesagt hatten. Wahlsiegerin war die Allianz für Deutschland, ein Wahlbündnis von CDU, DSU und DA. Es erhielt 48,1 Prozent aller Stimmen. Die SPD wurde mit einem Stimmenanteil von 21,9 Prozent zweitstärkste Partei. Die PDS belegte mit 16,4 Prozent den dritten Rang. Volkskammerwahl am 18. März 1990: Wahllokal im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. ERGEBNISSE DER DDR-VOLKSKAMMERWAHL VOM 18. MÄRZ 1990 Partei (bzw. Liste) Prozent Mandate Allianz für Deutschland Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) Deutsche Soziale Union (DSU) Demokratischer Aufbruch (DA) 40,8 6,3 0,9 163 25 4 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 21,9 88 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 16,4 66 Bund Freier Demokraten 5,3 21 Bündnis 90 2,9 12 Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) 2,2 9 Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband 2,0 8 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) 0,4 2 Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) 0,3 1 Aktionsbündnis Vereinigte Linke 0,2 1 Sonstige 0,3 0 26

Das Jahr der Wiedervereinigung Votum für die Wiedervereinigung Das Wahlergebnis bedeutete ein klares Votum für eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands. Jetzt ging es in Bonn und Ost-Berlin um den konkreten Fahrplan dorthin. Lothar de Maizière, Chef der Ost-CDU und damit der stärksten Partei in der Allianz, übernahm die Regierungsbildung. Er wollte angesichts der bevorstehenden Aufgaben eine möglichst breite Mehrheit in der Volkskammer. Deshalb bildete er eine Große Koalition mit der SPD und dem Bund Freier Demokraten. Wilhelm Ebeling, Rainer Ortleb, Lothar de Maizière, Markus Meckel und Rainer Eppelmann am 11. April 1990, einen Tag vor ihrer Vereidigung. Die Regierungen in Ost und West einigten sich schnell auf den 1. Juli als Starttermin für die Wirtschafts- und Währungsunion, damit die Ostdeutschen rechtzeitig zu Urlaubsbeginn im Besitz der D-Mark sein würden. Mit der Ankündigung sollte gleichzeitig der Strom der Übersiedler eingedämmt werden. Streitpunkt blieb jedoch lange der Umtauschkurs. Der von der Bundesbank vorgeschlagene Umtauschkurs von 2:1 sorgte wegen anderer Versprechen im Wahlkampf bei der ostdeutschen Bevölkerung für eine Welle des Protests. Auch der neue Regierungschef Lothar de Maizière wehrte sich entschieden dagegen. Unterzeichnung des Vertrags über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 18. Mai 1990: DDR-Finanzminister Walter Romberg, Ministerpräsident Lothar de Maizière, Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesfinanzminister Theo Waigel. 27

KAPITEL 2 Die D-Mark ist da. Warten auf den Geldumtausch in Görlitz. Am Ende kamen beide Seiten überein, dass alle laufenden Zahlungen Löhne und Gehälter, Renten, Stipendien und Sozialleistungen im Verhältnis 1:1 in D-Mark umgewandelt werden sollten. Jeder DDR-Bürger zwischen 14 und 59 Jahren sollte von seinen Ersparnissen 4.000, Rentner 6.000 und Kinder 2.000 Ost-Mark 1:1 umtauschen können. Die darüber hinausgehenden Beträge wurden im Verhältnis 2:1 getauscht. Im Gesamtdurchschnitt ergab sich ein Verhältnis von 1,8:1. Am 18. Mai 1990 wurde im Bonner Palais Schaumburg der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterzeichnet. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR. Die Volkskammer, auch wenn sie nur wenige Monate existierte, war ein wichtiger Bestandteil des Demokratisierungsprozesses in der DDR. Die Bürger konnten nicht nur erstmals frei wählen, sondern auch über den Weg entscheiden, den ihr Land künftig gehen soll. 28

Das Jahr der Wiedervereinigung Beseitigung internationaler Hindernisse Während zwischen den beiden deutschen Staaten die Verhandlungen zur Wiedervereinigung auf Hochtouren liefen immer mehr befürworteten einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes, galt es auch, die internationale Zustimmung zu gewinnen. Denn nach wie vor hielten die vier Alliierten des Zweiten Weltkriegs Souveränitätsrechte über die beiden deutschen Staaten. Und es gab insbesondere bei der britischen Premierministerin Margaret Thatcher Vorbehalte gegenüber der Deutschen Einheit. Dass es letztlich gelang, diese zu überwinden, lag vor allem an der Unterstützung durch den amerikanischen Präsidenten George Bush sen. sowie an der veränderten Haltung Moskaus. Lange hatte der Kreml auf einen Austritt des vereinigten Deutschlands aus der NATO bestanden. Sonst gerate das Kräfteverhältnis in Europa aus dem Gleichgewicht, lautete die Begründung. Kreml-Chef Michail Gorbatschow brachte sogar eine doppelte Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und in der NATO ins Gespräch. Die geringe Neigung Moskaus zu einem Kompromiss überschattete die erste Runde der Zwei-plus-Vier-Gespräche im Mai in Bonn. Diese Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den Alliierten sollten die außenpolitischen Voraussetzungen für die Einheit schaffen. Am 31. Mai gab Gorbatschow bei einem Gipfeltreffen mit US-Präsident Bush erstmals seine Bereitschaft zu erkennen, den Deutschen die Wahl ihrer Bündniszugehörigkeit selbst zu überlassen. Der endgültige Durchbruch gelang Mitte Juli bei einem Treffen von Kohl und Gorbatschow im Kaukasus. Dabei sicherte der sowjetische Präsident dem vereinigten Deutschland nicht nur die sofortige volle Souveränität zu, son- Helmut Kohl, Michail Gorbatschow und Hans- Dietrich Genscher am 16. Juli 1990 im Kaukasus. 29