Gerechtigkeit in der Ökonomischen Auseinandersetzung

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Transkript:

SKOS Mitgliederversammlung «Soziale Gerechtigkeit» Luzern, 22.5.2014 Gerechtigkeit in der Ökonomischen Auseinandersetzung Florian Wettstein Institut für Wirtschaftsethik Universität St. Gallen

Gerechtigkeitsfokus Gerechtigkeit Was wir einander schuldig sind; Gerechtigkeitspflichten sind geschuldete Pflichten Was geschuldet ist, kann eingefordert werden: Gerechtigkeitspflichten korrelieren mit Rechten Im Gegensatz zu Philanthropie, Wohltätigkeit (optional/erwartet geschuldet) Gerechtigkeit macht den «Hauptteil und den unvergleichlich bedeutsamsten und verbindlichsten Teil aller Moral» aus (John Stuart Mill) Präsumtion der Gleichheit Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es im Kern immer um Gleichheit/Ungleichheit Aus der fundamentalen Gleichheit der Menschen leitet sich prima facie eine Präsumtion für Gleichverteilung ab D.h. Ungleichverteilung ist immer begründungspflichtig, Gleichverteilung hingegen nicht

Was ist Gerechtigkeit? Gerechtigkeit nach John Rawls (1921-2002) Institutioneller Fokus: Grundstruktur Fokus auf grundlegende institutionelle Arrangements Politische Konstitution und wichtigste ökonomische und soziale Arrangements Zwei Gerechtigkeitsprinzipien (1) Anspruch auf grösstmögliche, gleiche Freiheit aller (2) Ungleichheiten müssen (a) zum Vorteil der schwächsten Gesellschaftsmitglieder sein und (b) auf Chancengleichheit beruhen Gerechtigkeit nach Aristoteles (384-322 v. Chr.) Personaler Fokus: Tugend Fokus auf den menschlichen Charakter D.h. Gerechtigkeit als Charaktereigenschaft, als menschliche Disposition und Einstellung Sie äussert sich in der Empathie, im Interesse und der Anteilnahme am Schicksal anderer

Strukturelle Gerechtigkeit im Markt: Ungleichheit (2a) Wettbewerb und Ungleichheit Wettbewerb ist per Definition selektiv Konsequenz: im Markt gibt es immer Gewinner und Verlierer Frage ist nicht ob Markt Ungleichheit zulässt: sie ist im Markt endemisch Die Frage ist, ob sie den Schwächsten am meisten nützt Global Wealth Report 2013 (Credit Suisse):

Schweiz Einkommen: oberste 10% mit ca. 30% des Volkseinkommens Vermögen: oberste 10% mit ca. 70% aller Vermögen Oberstes 1% legt am meisten zu Thomas Piketty: «trickle-down» Theorie ist realitätsfremd D.h. die im Markt endemische Ungleichheit nützt v.a. den Stärksten und nicht den Schwächsten

Strukturelle Gerechtigkeit im Markt: Chancengleichheit (2b) Formale vs reale Chancengleichheit Nicht der formale, sondern der reale Zugang zum Markt muss gleich sein De facto sind die Voraussetzungen dazu höchst ungleich verteilt: Z.B. Zugang zu Kapital und Kredit Z.B. Zugang zu Netzwerken Z.B. Zugang zu Wissen

Strukturelle Gerechtigkeit im Markt: Chancengleichheit (2b) Chancen vs Fähigkeiten Amartya Sen: was zählt sind nicht Chancen, sondern Fähigkeiten davon Gebrauch zu machen De facto sind Fähigkeiten, Talente usw. ungleich verteilt und der Markt ist diesbezüglich sehr selektiv Benachteiligung von Menschen mit psychischen, seelischen, körperlichen Gebrechen usw wirtschaftliche (und in der Marktgesellschaft: gesellschaftliche) Ausgrenzung Nicht-neutralität hinsichtlich Lebensentwürfen Selektivität des Marktes hinsichtlich «Effizienz» der Lebensentwürfe Bevorteilung karriereorientierter Lebensentwürfe (gegenüber z.b. familienorientierten Lebensentwürfen) Zwang zur marktkonformen Lebensführung (mit zunehmender Ökonomisierung des sozialen Lebens immer weiter reichende Implikationen) Nicht nur das Prinzip der (realen) Chancengleichheit (2b) ist verletzt, sondern auch das Prinzip der grösstmöglichen, gleichen Freiheit aller (1)

«Die Marktgemeinschaft kennt direkten Zwang kraft persönlicher Autorität formal nicht. Sie gebiert an seiner Stelle aus sich heraus eine Zwangslage und zwar dies prinzipiell unterschiedslos gegen Arbeiter wie Unternehmer, Produzenten wie Konsumenten in der ganz unpersönlichen Form der Unvermeidlichkeit, sich den rein ökonomischen Gesetzen des Marktkampfes anzupassen Der Wettbewerbsprozess läuft instanzlos ab, er ist eine herrenlose Sklaverei» (Max Weber)

Personale Gerechtigkeit im Markt Logik und Form von Marktbeziehungen: «die neoliberale Theorie rechnet allein mit Privatrechtssubjekten, die in den Grenzen gesetzlicher Handlungsspielräume nach eigenen Präferenzen und Wertorientierungen tun und lassen, was sie wollen. Sie brauchen sich wechselseitig nicht füreinander zu interessieren, sind also nicht mit einem moralischen Sinn für soziale Verpflichtungen ausgestattet.» (Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation) «The market exemplifies an ideal of interaction among persons who, taking no interest in each other s interests, need only follow the dictates of their own individual interests to participate effectively in a venture for mutual advantage.» (David Gauthier, Morals by Agreement) Der Gerechtigkeit als Tugend und als Einstellung im Umgang mit anderen wird im (idealtypischen) Markt abgeschworen

Personale Gerechtigkeit im Markt Logik des Marktes Die Marktlogik baut auf eine «Ethik ohne Moral» D.h. das ethische Optimum ist möglich, ohne sich moralisch verhalten zu müssen! Im Gegenteil, wir sollen sogar nur auf uns selbst schauen Adam Smith als (vermeintlicher) Vordenker: «Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe...» Empathie wird im Markt nicht nur als überflüssig, sondern geradezu als schädlich (da ineffizient) gedeutet

Was ist die Folge fehlender Gerechtigkeit in einer «Marktgesellschaft»? «Gerechtigkeit ist der Hauptpfeiler, der das ganze Gebäude (der Gesellschaft) stützt. Wenn dieser Pfeiler entfernt wird, dann muss der gewaltige, der ungeheure Bau der menschlichen Gesellschaft in einem Augenblick zusammenstürzen und in Atome zerfallen.» Adam Smith (Theorie der ethischen Gefühle) D.h. strukturelle Gerechtigkeit wird in Adam Smiths Markttheorie als konstitutiv vorausgesetzt «Viel für andere zu fühlen und wenig für uns selbst; unsere Selbstsucht beschränken und unsere wohlwollende Zuneigung zu üben, stellt die Perfektion der menschlichen Natur dar» Adam Smith (Theorie der ethischen Gefühle) D.h. sich für das Gegenüber zu interessieren, ist bei Smith auch in Marktbeziehungen vorausgesetzt. Rücksichtsloses Profitstreben steht dazu im Widerspruch Empathie, d.h. Gerechtigkeit als Tugend, ist im wohlverstandenen (!) Selbstinteresse vorausgesetzt und mitgedacht

Implikationen für Unternehmensverantwortung Strukturelle Gerechtigkeit Als Institutionen sind Unternehmen Teil der Grundstruktur Verteilungswirkung ist auf Gerechtigkeitskriterien zu prüfen Stichwort: Entlöhnungsstrukturen, Steuerehrlichkeit, usw. Gerechtigkeitspflichten, keine freiwillige «CSR»! Als Akteure haben Unternehmen Wirkung auf die Grundstruktur Verantwortung zur Aufrechterhaltung gerechter Strukturen wo vorhanden (Compliance, Geschäftsintegrität) Verantwortung zur Initiierung und Förderung gerechter Strukturen wo nicht vorhanden (politische Mitverantwortung) Personale Gerechtigkeit Gerechtigkeit als Tugend zielt auf die Unternehmenskultur Kultur = Charakter der Unternehmung Förderung einer Verantwortungskultur: Vision, Werte, Anreize, Führungsgrundsätze

Was folgt für die Sozialhilfe? Wo setzt Sozialhilfe aus Gerechtigkeitsperspektive an? Kompensation: Korrektur durch monetäre Leistungen Kompensation für strukturelle Ungerechtigkeit Integration: Befähigung durch nicht-monetäre Leistungen Beseitigung struktureller Ungerechtigkeiten (z.b. Chancengleichheit erhöhen) Wo sind die Limiten so verstandener der Sozialhilfe? Empathie als marktwirtschaftlichen Grundwert etablieren: erfordert Transformation der Marktlogik und praxis Wichtiger Hebel gegen Ausgrenzung Aber: als Ausdruck gesellschaftlicher Empathie mit den schwächsten Gesellschaftsmitgliedern ist Sozialhilfe essentiell! Den Zwang zur Marktkonformität (z.b. durch Integration) durchbrechen: erfordert Emanzipation durch neue Ansätze (bedingungsloses Grundeinkommen?)

Herzlichen Dank!! Haben Sie Fragen oder Kommentare? florian.wettstein@unisg.ch