Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Verfasst von Cédric Müller

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Transkript:

Strafprozessrecht II FS 2016 1 Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Verfasst von Cédric Müller I. Einleitung Abgesehen von den Fällen nach Art. 307 Abs. 4 StPO 1 (Verzicht auf Rapportierung durch die Polizei) und Art. 310 StPO (Nichtanhandnahmeverfügung) kann ein eröffnetes Untersuchungsverfahren gemäss dem Erledigungsprinzip (Art. 2 Abs. 2 und Art. 299 Abs. 2 StPO) nur in den Formen der Anklage (Art. 324 ff. StPO), der Einstellung (Art. 319 ff. StPO) oder des Strafbefehls (Art. 352 ff. StPO) abgeschlossen werden. 2 Daraus wird die starke Stellung der Staatsanwaltschaft in diesem Verfahrensstadium ersichtlich. Abgesehen von der Prüfung der Anklage (Art. 329 StPO) durch das Gericht und abgesehen von der Möglichkeit der Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung (Art. 322 Abs. 2 StPO) hat alleine die Staatsanwaltschaft, d.h. normalerweise der jeweils mit dem Fall befasste Staatsanwalt, darüber zu befinden, wie das Verfahren nach abgeschlossener Untersuchung weitergeführt werden soll. 3 Dieser Entscheid über die Weiterführung des Strafverfahrens durch Anklage bzw. dessen Beendigung durch Einstellung stellt eine wesentliche Weichenstellung für das Schicksal der Strafsache und damit auch jenes der Verfahrensbeteiligten, vor allem der beschuldigten Personen dar. 4 Für die Entscheidung ist insbesondere das Legalitätsprinzip, welches für die Staatsanwaltschaft in Art. 16 Abs. 1 StPO konkretisiert ist, bzw. der Verfolgungszwang (Art. 7 Abs. 1 StPO) massgebend, wonach Anklage zu erheben ist, sofern zureichende tatsächliche und rechtliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen. Allerdings ist im Interesse der Verfahrensökonomie und der Schonung von beschuldigten Personen darauf zu achten, dass keine leichtfertigen Anklagen erhoben werden. 5 Weiter ist das Prinzip der Gewaltentrennung zu beachten: Über Schuld und Unschuld beschuldigter Personen haben grundsätzlich unabhängige Gerichte (Art. 13 StPO) zu befinden und nicht die Staatsanwaltschaft, es sei denn im Strafbefehlsverfahren. Stellt sich jedoch im Verlaufe des Vorverfahrens heraus, dass die Beweislage für einen Schuldspruch nicht genügen wird oder dass aus anderen Gründen ein Freispruch sehr wahrscheinlich ist, wäre es weder dem Beschuldigten noch dem Staat, der dafür die Kosten tragen müsste, zumutbar, eine Hauptverhandlung zu erdulden resp. durchzuführen. 6 Die StPO regelt deshalb, unter welchen Voraussetzungen die Staatsanwaltschaft auf die Anklageerhebung verzichten kann resp. muss. Generell gilt der Grundsatz "in dubio pro duriore" bzw. "im Zweifel für die Anklageerhebung", der zwar nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt ist, sich jedoch verfassungsrechtlich aus dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV 7 ) und sinngemäss aus Art. 324 Abs. 1 i.v.m. Art. 319 Abs. 1 StPO ergibt. 8 Danach darf eine 1 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0). 2 DONATSCH ANDREAS/HANSJAKOB THOMAS/LIEBER VIKTOR (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2014 (zitiert: Bearbeiter, Kommentar StPO, Art. xx N yy), LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 1. 3 DONATSCH ANDREAS/SCHWARZENEGGER CHRISTIAN/WOHLERS WOLFGANG, Strafprozessrecht, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2014, 279. 4 SCHMID NIKLAUS, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013 (zitiert: SCHMID, Handbuch, N xx) N 1249. 5 (LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 3.) 6 NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/WIPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, 2. Auflage, Basel 2014 (zitiert: Bearbeiter, Basler Kommentar, Art. xx N yy), GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 1. 7 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101).

Strafprozessrecht II FS 2016 2 Einstellung durch die Staatsanwaltschaft nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen verfügt werden. 9 In Zweifelsfällen hat hingegen eine Anklage und gerichtliche Beurteilung zu erfolgen (sofern der Fall nicht mit Strafbefehl erledigt werden kann). 10 II. Gründe für die Einstellung, Art. 319 StPO Allgemeines Nach Beachtung des in Art. 318 StPO vorgesehenen Verfahrens ist das Untersuchungsverfahren umgehend einzustellen, wenn aus einem der in Art. 319 StPO genannten Gründe kein Anlass mehr besteht, das Verfahren weiterzuführen. 11 Die Liste der Einstellungsgründe nach Art. 319 StPO ist nicht abschliessend zu verstehen. 12 Allgemeine Opportunitätsüberlegungen ausserhalb der vom Gesetz ausdrücklich normierten Fallgruppen (Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO) können aber nicht zu einer Einstellung führen. 13 Wird ein Strafverfahren eingestellt, obwohl ein unter Art. 319 StPO aufgeführter oder in pflichtgemässer Rechtsfortbildung gewonnener Einstellungsgrund nicht vorliegt, kann der Tatbestand der Begünstigung (Art. 305 StGB 14 ) erfüllt sein. 15 Die in Art. 319 Abs. 1 StPO aufgeführten Fallgruppen führen mit Ausnahme derjenigen unter lit. e enumerierten Gründe zwingend zur Verfahrenseinstellung, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. 16 Kein anklagegenügender Tatverdacht (Abs. 1 lit. a) Nach Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO ist einzustellen, wenn im Vorverfahren der ursprünglich vorhandene Anfangsverdacht (Art. 309 Abs. 1 lit. a StPO) gegen die beschuldigte Person in der Untersuchung nicht in einem Mass erhärtet werden konnte, dass sich eine Anklage rechtfertigt. 17 Die Staatsanwaltschaft ist nicht dazu berufen, über Recht oder Unrecht zu richten, weshalb der Tatverdacht bereits dann als anklagegenügend (d.h. hinreichend i.s.v. Art. 324 StPO) angesehen wird, wenn der Staatsanwalt die Tatbeteiligung sowie eine Strafe bzw. Massnahme im Zeitpunkt der Anklageerhebung für bloss wahrscheinlich hält. 18 Der Staatsanwalt hat nicht eine abschliessende Beurteilung darüber vorzunehmen, ob sich die beschuldigte Person einer ihr zu Last gelegten Tat strafbar gemacht hat, sondern nur, ob genügend Anhaltspunkte vorliegen, die es rechtfertigen, das Verfahren fortzuführen. 19 Nur wenn aufgrund objektiver Kriterien von vornherein fest steht, dass jedes andere Ergebnis als ein Freispruch ausgeschlossen erscheint, kann und muss eine Einstellung erfolgen. 20 Die Staatsanwaltschaft tritt nicht selbst an die Stelle des Sachgerichts, sondern erwägt in Berücksichtigung der massgebenden 8 Vgl. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 S. 1273; GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 8-11; BGE 138 IV 86 E. 4.2; BGE 137 IV 219 E. 7.1-7.2. 9 Urteile des Bundesgerichts 1B_46/2011 vom 1. Juni 2011 E. 4; 1B_1/2011 vom 20. April 2011 E. 4; 6B_588/2007 vom 11. April 2008 E. 3.2.3. 10 BGer vom 11. Juli 2011, 1B_123/2011, E. 7.1. 11 LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 12. 12 SCHMID NIKLAUS, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Auflage, Zürich/St. Gallen 2013 (zitiert: SCHMID, Praxiskommentar, Art. xx N yy) Art. 319 N 4. 13 GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 5. 14 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0). 15 BGE 109 IV 46. 16 LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 14; GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 6. 17 SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 5. 18 LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 15. 19 BGE 138 IV 186 E. 4.2.1. 20 OBERHOLZER NIKLAUS, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Auflage, Bern 2012 (zitiert: OBERHOLZER, N xx) N 1396.

Strafprozessrecht II FS 2016 3 Beweiswürdigungs- und Subsumtionsgrundsätze, welche Möglichkeiten für das Gericht offenstehen. 21 In Zweifelsfällen tatsächlicher oder rechtlicher Natur darf keine Einstellung erfolgen, da in diesen Fällen das Urteil dem Gericht überlassen bleiben soll: Beim Entscheid über Anklageerhebung oder Einstellung gilt nicht der in Art. 10 Abs. 3 StPO verankerte Grundsatz "in dubio pro reo", sondern "in dubio pro duriore". 22 Kein Straftatbestand erfüllt (Abs. 1 lit. b) Nach Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO ist das Vorverfahren einzustellen, wenn kein Straftatbestand erfüllt ist, d.h. wenn das untersuchte Verhalten, selbst wenn es nachgewiesen wäre, den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Strafnorm nicht erfüllt, so z.b., weil es von rein zivil- oder verwaltungsrechtlicher Relevanz ist. 23 Eine Verfahrenseinstellung kann erfolgen, wenn ein Tatbestandselement (z.b. beim Betrugstatbestand die Arglist oder beim Fahrlässigkeitsdelikt die Sorgfaltspflichtverletzung) ganz offensichtlich nicht gegeben ist. Allerdings ist auch bei der hier durch die Staatsanwaltschaft vorzunehmenden Prüfung darauf zu achten, dass bei Ermessensfragen und vor allem bei nicht durch die Literatur oder Rechtsprechung klar gelösten Streitfragen nach dem Grundsatz in dubio pro duriore Anklage zu erheben ist. Gleich verhält es sich, wenn Auslegungs- oder Wertungsfragen zu beurteilen sind, denn solche Fragen sind vom Strafrichter zu entscheiden. 24 Vorliegen von Rechtfertigungsgründen (Abs. 1 lit. c) Art. 319 Abs. 1 lit. c StPO kommt bei Rechtfertigungsgründen 25 (Art. 14 ff. StGB) und (obwohl nicht ausdrücklich in Art. 319 Abs. 1 lit. c StPO erwähnt) bei Vorliegen von Schuldausschlussgründen 26 (Art. 19 ff. StGB) zur Anwendung. 27 Dies ergibt sich implizit auch aus Art. 374 Abs. 1 StPO, welcher davon ausgeht, dass das Vorverfahren bei Schuldunfähigkeit grundsätzlich eingestellt wird. Wie unter Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO ist jedoch eine Einstellung des Verfahrens nur dann möglich, wenn das Vorliegen von Rechtfertigungs- oder Schuldausschlussgründen klar erstellt ist. 28 Fehlen von Prozessvoraussetzungen (Abs. 1 lit. d) Das Vorverfahren ist nach Art. 319 Abs. 1 lit. d StPO einzustellen, wenn sich während der Untersuchung zeigt, dass Prozessvoraussetzungen definitiv nicht zu erfüllen (z.b. Strafantragsfrist abgelaufen, Art. 31 StGB) oder Prozesshindernisse nicht zu beseitigen sind (z.b. Rückzug des Strafantrags, Art. 33 StGB; Verjährung, Art. 97 f. StGB; fehlende Ermächtigung, Art. 302 StGB; dauernde Verhandlungsunfähigkeit, Art. 114 Abs. 3 StPO, bzw. Tod der beschuldigten Person; Erlass einer Amnestie, Art. 384 StGB). 29 Auch in diesen Fällen darf die Einstellung nur erfolgen, wenn die Sach- und Rechtslage eindeutig ist. Die Einstellung darf nur bei offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. 30 21 OBERHOLZER, N 1395. 22 GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 8; LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 16. 23 SCHMID, Handbuch, N 1252. 24 Zum Ganzen: LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 19 f. 25 Wie Notwehr, Notwehrhilfe (Art. 15 StGB), rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB), gesetzliche Erlaubnistatbestände (Art. 14 StGB) und die übergesetzlichen Rechtfertigungsgründe wie die Einwilligung des Verletzten. 26 Wie entschuldbare Notwehr (Art. 16 Abs. 2 StGB), entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 2 StGB) und Schuldunfähigkeit (Art. 19 Abs. 1 StGB). 27 SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 7. 28 SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 7. 29 SCHMID, Handbuch, N 1254; SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 8. 30 BGE 138 IV 186 E. 4.1.

Strafprozessrecht II FS 2016 4 Gesetzlich vorgesehene Strafbefreiung (Abs. 1 lit. e) Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO verweist auf Fälle, in denen nach der StPO (z.b. abgeschlossener Vergleich, Art. 316 Abs. 3) oder aber bereits nach dem allgemeinen oder besonderen Teil des StGB auf eine Strafverfolgung oder Bestrafung verzichtet werden kann (etwa Art. 3 Abs. 3, Art. 22 Abs. 2, Art. 52-54, Art. 55a, Art. 171 Abs. 2, Art. 171 bis, Art. 187 Ziff. 3, Art. 188 Ziff. 2, Art. 192 Abs. 2, Art. 193 Abs. 2, Art. 304 Ziff. 2, Art. 305 Abs. 2, Art. 322 octies StGB oder Art. 100 Ziff. 1 Satz 2 SVG). 31 Hier einzureihen sind sodann Fälle, in denen bei Anwendung von Art. 49 Abs. 2 StGB bei retrospektiver Konkurrenz auf die Ausfällung einer Zusatzstrafe verzichtet wird und eine Einstellung nach Art. 319 ff. StPO vorzunehmen ist. 32 In diesen Fällen, die also stets durch Einstellung und nicht Freispruch zu erledigen sind, richten sich die materiellen Voraussetzungen der Einstellung nach den vorerwähnten Normen und nicht nach Art. 319 StPO. 33 Auf jeden Fall kann eine Strafbefreiung nur in der Form der Einstellungsverfügung erfolgen. 34 Einstellung im Interesse des Kindes (Abs. 2) Nach Art. 319 Abs. 2 StPO kommt eine Einstellung infrage, wenn das Interesse des Opfers die Einstellung zwingend verlangt, dieses Interesse dasjenige des Staates an der Strafverfolgung offensichtlich überwiegt und das Opfer oder bei Urteilsunfähigkeit sein gesetzlicher Vertreter der Einstellung zustimmt. Wenn diese drei Voraussetzungen erfüllt sind, müsste die Staatsanwaltschaft m.e. das Verfahren zwingend einzustellen, obschon die Gesetzesbestimmung vom Wortlaut her als Kann-Vorschrift formuliert ist. 35 Kommt die Staatsanwaltschaft zum Schluss, dass das Interesse des Opfers die Einstellung zwingend verlangt und dieses Interesse klar stärker zu gewichten ist als das Strafverfolgungsinteresse, dann muss das Verfahren eingestellt werden, wenn das Opfer dies verlangt. 36 Diese Einstellung im Interesse des kindlichen Opfers unter 18 Jahren ist nach dem Wortlaut der Bestimmung als blosse Ausnahme gedacht. Es genügt nicht, wenn eine solche bloss angebracht wäre; diese muss bei einer Abwägung aller im Spiel stehender Interessen, so auch unter Berücksichtigung des Legalitätsprinzips vorab bei schwereren Straftaten, unumgänglich sein, etwa wenn das Kind suizidgefährdet ist. Ausserdem ist erforderlich, dass der Schutz des Kindes vor weiteren Übergriffen auf andere Weise sichergestellt ist. 37 III. Einstellungsverfügung Form und Wirkung Nach Art. 320 Abs. 1 StPO richten sich Form und allgemeiner Inhalt der Einstellungsverfügung nach den Art. 80 und 81 StPO. Einstellungsentscheide erwachsen in Rechtskraft, wenn die Voraussetzungen von Art. 437 StPO erfüllt sind, namentlich wenn die Rechtsmittelfrist unbenützt abgelaufen oder das Rechtsmittel gescheitert ist. 38 Rechtskräftige Einstellungsverfügungen kommen einem freisprechenden Endentscheiden gleich (Art. 320 Abs. 4 StPO), was auch für die Nebenpunkte solcher Entscheide gilt (Art. 31 SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 9. 32 SCHMID, Handbuch, N 1255. 33 GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 18. 34 LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 30. 35 GRÄDEL/HEINIGER, Basler Kommentar, Art. 319 N 35. 36 LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 319 N 34. 37 Zum Ganzen: SCHMID, Praxiskommentar, Art. 319 N 10. 38 RIKLIN FRANZ, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. überarbeitete Auflage, Zürich 2014 (zitiert: RIKLIN, Art. xx N yy) Art. 323 N 1.

Strafprozessrecht II FS 2016 5 320 Abs. 1 i.v.m. Art. 81 Abs. 4 lit. e StPO). 39 Das bedeutet insbesondere, dass Einstellungsverfügungen Sperrwirkung entfalten und eine neuerliche Strafverfolgung in derselben Angelegenheit gegen denselben Beschuldigten deshalb grundsätzlich ausgeschlossen ist (ne bis in idem, Art. 11 StPO). 40 Die materielle Rechtskraft ist allerdings aufgrund der möglichen Wiederaufnahme des Verfahrens (Art. 323 StPO) beschränkt. Rechtsmittel Nach Art. 322 Abs. 2 StPO können die Parteien die Einstellungsverfügung innert 10 Tagen bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Beschwerdeberechtigt sind nicht nur die Parteien i.s.v. Art. 104 StPO, sondern auch andere Verfahrensbeteiligte i.s.v. Art. 105 StPO, wenn die Einstellung ihre rechtlich geschützten Interessen tangiert, was z.b. bei Entscheiden betreffend Einziehungen i.s.v. Art. 69 StGB oder bei Kostenauflagen bzw. Entschädigungsentscheiden nach Art. 417, Art. 427 oder 434 StPO der Fall sein kann und denen deshalb gemäss Art. 321 Abs. 1 lit. c StPO der Einstellungsentscheid zuzustellen ist. 41 Das Beschwerdeverfahren richtet sich nach den Art. 393 ff. StPO sowie nach den allgemeinen Vorschriften betreffend die Rechtsmittel (Art. 379 ff. StPO). Wiederaufnahme des Verfahrens Gemäss Art. 320 Abs. 4 StPO kommt eine rechtskräftige Einstellungsverfügung einem freisprechenden Endentscheid gleich. Da aber Einstellungsverfügungen nicht von einer Gerichtsbehörde erlassen werden und häufig auf einer eher dürftigen Aktenlage beruhen, ist ihre materielle Rechtskraft beschränkt. 42 Die Staatsanwaltschaft verfügt nämlich nach Art. 323 Abs. 1 StPO die Wiederaufnahme eines durch Einstellungsverfügung rechtskräftig beendeten Verfahrens, wenn ihr neue Beweismittel oder Tatsachen bekannt werden, die für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der beschuldigten Person sprechen und sich nicht aus den früheren Akten ergeben. 39 BGer vom 2. April 2012, 1B_505/2011, E. 2. 40 RIEDO CHRISTOF/FIOLKA GERHARD/NIGGLI MARCEL ALEXANDER, Strafprozessrecht, sowie Rechtshilfe in Strafsachen, Basel 2011, (zitiert: RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, N xx) N 2394. 41 SCHMID, Handbuch, N 1261; RIKLIN, Art. 322 N 3; LANDSHUT/BOSSHARD, Kommentar StPO, Art. 322 N 11. 42 RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, N 2473.