1 Anrede! Sehr geehrte Damen und Herren, Psychiatrie gehört zum Kerngeschäft der bayerischen Bezirke. Sie ist uns durch die Bezirksordnung als Pflichtaufgabe aufgetragen. Damit gehört sie sozusagen zum Alltagsgeschäft der Bezirke und ihres Spitzenverbandes. Auf Verbandsebene befassen wir uns in unserem Fachausschuss für Psychiatrie und Neurologie unter dem Vorsitz von Oberbürgermeister und Bezirksrat Franz Stumpf, der zudem auch Vorsitzender der Bayerischen Krankenhausgesellschaft ist, sehr intensiv mit den aktuellen Fragen und Entwicklungen der Psychiatrie. Psychiatrie ist und darf aber nicht nur ein Thema für Fachärzte und Gesundheitsexperten sein. Sie geht uns alle an alle Bezirkspolitikerinnen und Bezirkspolitiker, aber auch die gesamte Öffentlichkeit. Wir haben die Psychiatrie bei unserer Verbandsversammlung 2001 in Amberg in den Mittelpunkt der Beratungen gestellt. Seinerzeit war das Motto Psychiatrie im Umbruch. Nach neun Jahren ist die Psychiatrie erneut zentrales Thema unserer Verbandsversammlung diesmal unter dem Titel Psychiatrie in Bewegung. Wir sehen, die Psychiatrie ist im zurückliegenden Jahrzehnt, nach dem Umbruch, den wir 2001 zum Thema gemacht haben, nicht zum Stillstand gekommen. Sie bleibt in Bewegung. Wohin sie sich bewegt, welche Herausforderungen
sich ihr stellen, darüber werden wir heute sicher mehr von unseren beiden Experten Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schreiber, dem Sprecher der Konferenz der Ärztlichen Direktoren der Bayerischen Fachkrankenhäuser für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosoma-tik, sowie von Herrn Dr. Manfred Lütz, dem Ärztlichen Direktor einer Kölner Fachklinik und bekanntem Fachschriftsteller, erfahren. Einleitend einige Anmerkungen von mir. 2 Die psychischen Erkrankungen gehen längst nicht mehr nur Psychiater und Psychologen, Patienten und deren Angehörige an. Sie zeigen auch weitreichende gesellschaftliche, volkswirtschaftliche und politische Auswirkungen. Die Europäische Kommission hat das 2005 in ihrem Grünbuch Die psychische Gesundheit verbessern hervorgehoben und die psychische Gesundheit der Bevölkerung als wichtige Ressource für langfristigen wirtschaftlichen Wohlstand, Solidarität und soziale Gerechtigkeit bezeichnet. Lassen Sie mich dass mit einigen wenigen Zahlen untermauern: Nach dem DAK Gesundheitsreport 2010 machten psychische Erkrankungen im Jahr 2009 10,8 Prozent des Gesamtkrankenstands aus; sie stehen damit an vierter Stelle der Krankheitsarten. Nach Untersuchungen sollen innerhalb eines Jahres ca. 31 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren an mindestens einer psychischen
Störung leiden. Das sind in absoluten Zahlen 16,5 Mio. Erwachsene im Erwerbsalter. Die Wahrscheinlichkeit mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung zu erkranken, wird sogar auf 43 Prozent beziffert. Die Kosten für Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen werden in Deutschland auf ca. 10 Prozent der Kosten der gesetzlichen Kranken-versicherung geschätzt. Neben den direkten Behandlungskosten kommen bei einer Reihe psychischer Störungen in erheblichem Umfang weitere indirekte Kosten durch Minderung der Arbeitsproduktivität, hohe Ausfallszeiten, Frühberentung und Arbeits-losigkeit hinzu. Psychische Krankheiten sind zudem die häufigste Ursache für eine Frühberentung oder eine verminderte Erwerbsfähigkeit. Im Jahr 2003 sollen psychi-sche Erkrankungen bei einem Viertel der Männer und sogar einem Drittel der Frauen der Grund für die Frühberentung gewesen sein. 3 Für den Anstieg psychischer Erkrankungen werden unterschiedlichste Ursachen genannt: Vom Anstieg der Zahl der niedergelassenen Psychiater und Psychothera-peuten, der zu einem Anstieg einschlägiger Diagnosestellungen führen könnte, so etwa die Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden, die darin einen möglichen Grund sieht, bis hin zum Stress der modernen Arbeitswelt, aber auch Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg. Möglicherweise werden
4 auch Krankheitszustände, die früher unter anderen Diagnosen erfasst wurden, heute eher als psychische Störungen erkannt. Zudem dürfte auch die demografische Entwicklung eine Rolle spielen. Etwa 25 bis 30 Prozent der über 65jährigen leiden unter psychischen Erkrankungen; dabei machen Demenzen zwei Drittel der Krankheitsfälle aus. Weniger bekannt ist, dass 10 bis 20 Prozent der Menschen in höherem Lebensalter an einer Depression und mehr als 10 Prozent an einer Neurose oder Persönlichkeitsstörung erkranken. Wie ich eingangs schon sagte, tragen in Bayern die Bezirke die Gesamtverantwor-tung für die psychiatrische Versorgung. Mit modernen, gestuften psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen werden die Gesundheitsunternehmen der Bezirke dieser Verantwortung gerecht. In den Jahren seit unserer Verbandsver-sammlung 2001 gab es hier viel Bewegung. Die psychiatrischen Fachkrankenhäuser sind weiter in die Fläche gegangen. Dies hat zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgung beigetragen. Heute können insgesamt mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen adäquat versorgt werden. Entgegen der Erwartung der Krankenhaus-planung hat sich dadurch die Bedeutung der spezialisierten großen Häuser kaum verringert. Durch den Ausbau des tagesklinischen Angebots ist sichergestellt, dass so wenig Hospitalisierung wie möglich erfolgt.
5 In erheblichem Maße tragen dazu auch unsere Psychiatrischen Institutsambu-lanzen bei. Die bayerischen Bezirke betreiben inzwischen 43 Psychiatrische Institutsambulanzen mit ca. 200 000 Quartalsfällen im letzten Jahr. Mit einem Umsatzvolumen von rd. 43 Mio. Euro ist dieses Versorgungssegment zudem sehr günstig! Im Durchschnitt kostet damit ein Patient der Psychiatrischen Institutsambu-lanz, der sog. PIA, 215,-- Euro im Quartal. Das ist deutlich weniger, als er an Arzneimittelkosten verursacht. Unsere Servicestelle Qualitätssicherung, die die Dokumentationen aller PIAs auswertet, hat zudem den Nachweis erbracht, dass in den PIAs vorwiegend längerfristig und schwer erkrankte Patienten behandelt werden. In einer gemeinsamen Erklärung haben die Krankenkassen in Bayern bestätigt, dass das bayerische PIA- Angebot hinsichtlich Art, Dauer und Schwere der Erkrankung die erwünschte Zielgruppe anspricht und damit ein wesentliches Ziel der Sozial-psychiatriereform nach der Psychiatrie-Enquete von 1975 erfüllt ist. Auch das Konzept der multiprofessionellen interdisziplinären Betreuung in den PIAs hat sich bewährt. Die Psychiatrischen Institutsambulanzen helfen, Krankenhausaufnahmen zu vermeiden und stationäre Behandlungszeiten zu verkürzen. Dabei sind wir mit den niedergelassenen Psychiatern und Nervenärzten bestens vernetzt. Dies zeigen auch die hohen Zuweisungs- und Weitervermittlungszahlen. Auf diese Vernetzung mit den
niedergelassenen Ärzten legen wir sehr großen Wert. Die Sicherstellung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen kann nur im Miteinander der Versorgungssektoren gelingen. Wir haben deshalb auch im letzten Jahr im Hauptausschuss eine Resolution verabschiedet, in der wir den niedergelassenen Fachärzten eine intensive Kooperation anbieten und eine adäquate Vergütung für die Leistungen auch der Niedergelassenen fordern. 6 Ein Teil unserer Patienten ist mittlerweile auch für andere Klinikträger attraktiv geworden. 2004 wurde die Fachrichtung Psychosomatik, vielleicht auch nur einem modischen Trend folgend, neu in den Krankenhausplan eingeführt. Tatsächlich werden in den Fachbereichen Psychiatrie und Psychotherapie einerseits und Psychosomatik andererseits weitgehend überlappende Patientenkreise versorgt. Damals wurden konsequenterweise in einem ersten Schritt mehr als 1.100 psychia-trische Betten der Bezirkskrankenhäuser in Psychosomatik-Betten umgewandelt und seither weiter ausgebaut. Nach wie vor haben die Bezirke den größten Anteil in der akutstationären Versorgung in der Fachrichtung Psychosomatik. Wir stellen damit sicher, dass auch die Psychosomatik-Patienten von der niederschwelligen und durchlässig organisierten Vollversorgung der bezirklichen Kliniken profitieren können. Es zeigt sich hier aber auch, dass
7 sich die Bezirkskliniken mehr und mehr im Wettbe-werb befinden und sich diesem Wettbewerb auch stellen. Aufgrund der demografischen Entwicklung besteht zunehmend auch klinischer Behandlungsbedarf für ältere Menschen, deren Belastung mit psychischen Erkrankungen ich bereits angesprochen habe. Diesem steigenden Bedarf tragen wir mit dem Aufbau eines spezialisierten Angebots in der Gerontopsychiatrie besonders Rechnung. Wir sind damit noch nicht am Ende. Durch die Neuordnung der akutgeriatrischen Versorgung müssen auch die Bezirkskliniken ihr bisheriges Leistungsangebot fortentwickeln und anpassen. Es stellt sich die Frage, ob die geriatrische Versorgung ausschließlich der somatischen Medizin überlassen werden soll oder ob auch die bezirklichen Fachkrankenhäuser ihren Hut in den Ring werfen. An dieser Stelle, meine Damen und Herren, möchte ich doch auch anmerken, dass die Gesundheitseinrichtungen der Bezirke neben ihrer herausragenden Bedeutung für die Gesundheitsversorgung der bayerischen Bevölkerung besonders im ländlichen Raum auch große Bedeutung für deren Wirtschaftskraft haben. Die bayerischen Bezirke betreiben insgesamt 38 Krankenhäuser und 15 Heimeinrichtungen an unterschiedlichen Standorten. Sie repräsentieren damit 10 Prozent der bayerischen Krankenhäuser. Mit 11.500 Betten und Plätzen in unseren Kliniken verfügen wir über 15 Prozent aller Krankenhausbetten in Bayern. Die
Auslastungsgrade vieler Psychiatrischer Fachkliniken liegen deutlich über 90 Prozent, mancherorts sogar über 100 Prozent. Unsere Kliniken bieten größtenteils hochqualifizierte, vor allen Dingen aber krisensichere Arbeitsplätze. In einigen Regionen sind die Bezirkseinrichtungen die größten Arbeitgeber vor Ort. Insgesamt beschäftigen die Gesundheitseinrichtungen der Bezirke mehr als 21.000 Menschen, das sind rund 14 Prozent der in bayerischen Krankenhäusern beschäftigen Personen. 1,7 Mrd. Euro Bilanzsumme im Jahr 2007 bewirtschaften diese Einrichtungen der Bezirke; das sind etwa ein Fünftel der Budgets aller bayerischen Krankenhäuser. 8 Damit ist das Stichwort Budget gefallen. Wer über die Entwicklung der psychia-trischen Versorgung spricht, kommt, die Mediziner unter uns mögen mir das nachsehen, nicht umhin, auch über die Finanzen zu sprechen. Ab 2013, also in gut zweieinhalb Jahren, wird, wenn es nach dem Krankenhausfinanzierungsreform-gesetz vom 1. Januar 2009 geht, ein neues pauschalierendes Entgeltsystem eingeführt. Wie es die Versorgung durch unsere Fachkrankenhäuser verändern wird, können wir heute noch nicht sagen. Lassen Sie mich dazu gleichwohl einige Anmerkungen schon jetzt machen. Ziel des Krankenhausfinanzierungsreformgesetzes ist es, die Psychiatrie in ein leistungsorientiertes pauschalierendes Vergütungssystem überzuführen. Im Unter-schied zu den sog.
DRG s in der Somatik kann sich aber eine Pauschale in der Psychiatrie nicht am durchschnittlichen Gesamtaufwand einer bestimmten Diagnose orientieren. Zumindest die Diagnose allein ist bei psychischen Erkrankungen ein ungeeignetes Merkmal zur Abschätzung der Durchschnittskosten. Bei gleicher Diagnose unterscheidet sich der notwendige Aufwand viel zu sehr, um einen angemessenen Durchschnittswert bilden zu können. In der Psychiatrie müssen weitere Einflussfaktoren, wie etwa der Schweregrad, das Alter und weitere soziale Faktoren berücksichtigt werden. Wir brauchen hier angemessene tagesgleiche Pflegesätze und dies ohne zeitliche Beschränkung, um Anreize zur vorzeitigen Entlassung zu vermeiden. Unser Ziel muss sein, ein praxistaugliches, kostenund leistungsgerechtes Entgeltsystem. Dafür bedarf es in den kommenden Monaten noch intensiver Beratungen. 9 Sehr geehrte Damen und Herren, mein kleiner Aufriss hat Ihnen vielleicht schon gezeigt: In der Psychiatrie ist viel in Bewegung. Das gilt schon für die Verwaltung und gewiss noch viel mehr für den medizinischen Bereich. Die beiden heutigen Hauptredner werden uns dies sicher eindrucksvoll nahe bringen. Herrn Professor Schreiber, den ich nun zum Pult bitte, ist nicht nur der Ärztliche Direktor im niederbayerischen
Bezirkskrankenhaus Mainkofen, auf den ich als Bezirkstagspräsident stolz sein darf. Er ist derzeit auch Sprecher der Konferenz der Ärztlichen Direktoren der bayerischen Bezirkskrankenhäuser für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Herrn Professor Schreiber wird uns nun aufzeigen, was die Psychiatrie historisch bewegt hat, heute neben dem in Entwicklung befindlichen Entgeltsystem bewegt und welche Perspektiven sie hat. Ich denke, er wird auch deutlich machen, dass die Psychiatrie in der öffentlichen Hand bestens aufgehoben ist. Für mich steht außer Frage, dass die Psychiatrie und nicht nur der Maßregelvollzug, in die öffentliche Hand gehört! Die Bezirke stehen dafür mit großem Engagement ein. 10 Nach der Rede von Prof. Schreiber: Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, darf ich als Redner jetzt Herrn Dr. Manfred Lütz begrüßen. Herr Dr. Lütz ist ebenfalls Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor des Alexianer-Krankenhauses Köln und zugleich Schriftsteller und Theologe. Viele von Ihnen kennen sicher sein jüngstes Buch mit dem provokanten Titel Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Ich bin sehr gespannt, was uns Herr Dr. Lütz über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheit berichten wird.