VII. Arbeiten mit Quellen 1. Definition des Begriffs Quelle Quellen bilden die Grundlage jedes historischen Arbeitens. Jedoch, die Vorstellung davon, was dem Historiker als Quelle des Wissens über die Vergangenheit dienen kann, hat sich im Laufe der Zeit verändert. Folgende Quellendefinitionen sollen das illustrieren. 1.1. Ernst Bernheim 1 : Resultate menschlicher Betätigungen, welche zur Erkenntnis und zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen entweder ursprünglich bestimmt oder doch vermöge ihrer Existenz, Entstehung und sonstiger Verhältnisse vorzugsweise geeignet sind. 1.2. Paul Kirn 2 : Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1908, Neudruck 6 1960, S. 184 bzw. in der Ausgabe von 1908, S. 252. Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann. Paul Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 5 1968, S. 29 bzw. ebd., Berlin 2 1952, S. 30. 1.3. Hubert Mohr und Walter Eckermann 3 : Die Quellengrundlage der marxistischen Geschichtswissenschaft [bildet] der gesamte Niederschlag menschlicher Tätigkeit, soweit er Aussagen über die geschichtliche Entwicklung machen kann...[einschließlich der] Natur als Quelle für die Erforschung der Umweltbedingungen (geographische und klimatische Verhältnisse). Walter Eckermann/ Hubert Mohr (Hrsg): Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin (Ost) 1966, S. 266 bzw. ebd, Berlin (Ost) 3 1979, S. 237. 1 *1859 in Hamburg, 1942 in Greifswald, Studium der Geschichte in Berlin und Heidelberg, 1875 Habilitation in Göttingen, 1883-1921 Professor für Geschichte in Greifswald, u.a. Mitarbeit an der Monumenta Germaniae Historica. 2 *1890 in Basel, 1965 in Frankfurt, Studium der Geschichte in Tübingen und Leipzig, Professor für mittlere und neuere Geschichte und historische Hilfswissenschaft in Leipzig und Frankfurt. 3 Mohr und Eckermann waren beide Professoren an der Pädagogischen Hochschule Karl Liebknecht in Potsdam. 32
1.4. Winfried Schulze 4 : Quelle ist alles, worauf unsere Kenntnis der Vergangenheit ursprünglich zurückgeht. Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, S. 32. 2. Möglichkeiten zur Einteilung von Quellen Wie die obigen Quellenbegriffe nahe legen, können Quellen sehr vielfältig sein. Zu recht sollte man vom weitest möglichen Quellenbegriff ausgehen. Es ist deshalb sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, wie sich die große Masse an Quellen in verschiedene Gattungen zerlegt werden kann. 2.1. Einteilung nach Johann Gustav Droysen Historisches Material Überreste Quellen Denkmäler Überreste ( was aus jenen Gegenwarten, deren Verständnis wir suchen, noch unmittelbar vorhanden ist ): a) Werke menschlicher Formgebung b) Zustände sittlicher Gemeinsamkeiten c) Darlegung von Gedachtem d) geschäftliche Papiere Quellen ( [aus der zu untersuchenden Zeit] in die Vorstellung der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist ). Denkmäler ( Dinge, in denen sich beide Formen verbinden ; = Überreste, bei deren Hervorbringung zu anderen Zwecken (des Schmuckes, der praktischen Benutzung usw.) die Absicht der Erinnerung mitwirkte ): 4 * 1942 in Bergisch Gladbach, 1965-1970 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie Politische Wissenschaften in Köln und Berlin, 1970 Promotion bei Gerhard Stourzh zum Thema "Landesdefension und Stadtbild. Studien zum Kriegswesen des innerösterreichischen Territorialstaats 1564-1619", 1970-1974 Assistent und kurzzeitig Assistenzprofessor an der FU Berlin, ehe er 1974 schon vor seiner Habilitation (1975) einen Ruf nach Kassel annahm, 1976-1978 Professor an der FU Berlin, 1978-1993 an der Universität Bochum. Seit 1993 ist Winfried Schulze Professor für Neuere Geschichte an der Universität München und seit 1998 Vorsitzender des Wissenschaftsrates. 33
- Denkmäler im engeren Sinne - Urkunden - Kunstwerke - Inschriften - Münzen - Medaillen - Grenzsteine - Wappen - Titel und Namen Näheres findet sich bei Johann Gustav Droysen: Auszüge aus dem Grundriß der Historik, in: Wolfgang Hardtwig: Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 83-117, hier: S. 94ff. 2.2. Quelleneinteilung nach Ernst Bernheim Wenn wir zunächst alles Quellenmaterial in die zwei großen Gruppen der Tradition und der Überreste scheiden, so bezeichnen wir damit den wichtigsten Unterschied für die methodische Behandlung der Quellen: Alles, was unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben und vorhanden ist, nennen wir Überrest; alles, was mittelbar von den Begebenheiten überliefert ist, hindurchgegangen und wiedergegeben durch menschliche Auffassung, nennen wir Tradition. a) Überreste: Jede Quelle, die unmittelbar von den Begebenheiten übriggeblieben ist und in ihrer Entstehung nicht den Zweck historischer Unterrichtung der Mit- und Nachwelt verfolgt, sondern aus anderer Zwecksetzung entstanden ist. Überreste im engeren Sinne: Denkmäler - körperliche Reste - Inschriften - Sprache - Monumente - Zustände und Institutionen - Urkunden - Produkte 34
- geschäftliche Akten, einschließlich Briefe b) Tradition: Jede Quelle, die eigens zum Zweck der historischen Unterrichtung der Mitoder Nachwelt geschaffen wurde, von einem oder mehreren Berichterstattern (Autoren, Erzählern) für diesen Zweck verfaßt oder überliefert wird, wird als Traditionsquelle bezeichnet. bildlich: mündlich: schriftlich: - historische Gemälde - Erzählung - Historische Inschriften - topographische Darstellungen - Sage - Genealogien - historische Skulpturen - Anekdoten - Kalender - Sprichwörter - Annalen - Historische Lieder - Chroniken - Zeugenaussage - Biographien - Memoiren 2.3. Quelleneinteilung nach Paul Kirn Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann a) nach dem Ursprung zeitgenössisch oder entfernt unmittelbar oder mittelbar privat oder öffentlich b) nach dem Inhalt für die Geschichte des Krieges der Rechtspflege der Verwaltung der Wirtschaft der Kunst der Religion usw. c) nach dem Zweck Bericht Chronik Urkunde Brief d) nach dem Erkenntniswert Überrest Tradition 35
2.4. Primärquellen Sekundärquellen Primärquellen: Zeugnisse aus erster Hand. d. h. ihr Urheber teilt den Inhalt aus eigener Kenntnis und eigenem Erleben mit. Sekundärquellen: eine Sekundärquelle liegt dann vor, wenn der Quelle eine andere Quelle zugrunde liegt, die primär ist. Wo die Vorlage einer Quelle nicht mehr überliefert oder rekonstruierbar ist, da ist diese Quelle primär, auch wenn sie eindeutig Vorlagen gehabt hat. 2.5. Gedruckte Quellen - ungedruckte Quellen (veröffentlicht - unveröffentlicht) 3. Historische Methode Historische Forschungsarbeit wird in folgende Denkschritte unterteilt: 1. Heuristik (Gegenstandsbereich und methodisches Vorgehen einer Wissenschaft) Das historische Fragen: Was wollen wir wissen? Was kann gewußt werden? 2. Kritik der Quellen philologisch-hermeneutische Textkritik historische Kritik Ideologiekritik 3. Interpretation Die Einordnung von Tatsachen in einen historischen Zusammenhang. Die unterschiedlichen Quellenbestände werden mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden (vgl. 5. Historische Hilfswissenschaften) erschlossen und bearbeitet. 4. Quellenkritik und Quelleninterpretation Um in einer Quelle die wahrscheinlichste (vielleicht sogar tatsächliche) Antwort auf eine historische Frage zu finden, müssen Aussagewert und 36
Informationsqualität der Quelle bestimmt werden. Die textimmanente Kritik, sowie dessen Interpretation mit dem Ziel, seinen Gehalt zu erfassen und ihn auszudeuten, bezeichnet man auch als Hermeneutik. Die Geschichtswissenschaft geht durch ihre Kontextbezogenheit über die pure hermeneutische Methode hinaus. Die zu diesem Zweck zu gehenden Schritte sind hier systematisiert in der Praxis überschneiden sie sich häufig. In vielen Punkten läßt sich die Quellenkritik nicht selbständig bewältigen, sondern man muß sich auf Vorarbeiten verlassen: Quelleneditionen, Nachschlagewerke. vgl. hierzu: Borowsky, Peter/ Vogel, Barbara/ Wunder, Heide: Einführung in die Geschichtswissenschaft I, Opladen 5 1989, S. 120-174. 4.1. Quellenkritik Quellenbeschreibung: Art der Quelle, Quellengattung, evtl. Beschreibung der Handschrift (u.a. Original oder Kopie), Überlieferungsgeschichte und Aufbewahrungsort. Textsicherung: Feststellung der Echtheit (Paläographische Sicherung, Erschließung der ursprünglichen Form (des Wortlautes), evtl. Textbereinigung, Lesarten (Vergleich von Quellen, um auf den Urtext zu kommen), Interpolationen. Äußere Kritik : Entstehungszeit, Entstehungsort, Verfasser (Augenzeuge? Zeitzeuge?) und Adressat. Innere Kritik : - sachlich: Aufschlüsselung von Begriffen (Bedeutung im historischen Kontext, Wandel?), Anspielungen auf bestimmte Personen und Ereignisse. - sprachlich: Stilanalyse (rhetorische Figuren, Topoi, Zitate, Kanzleibräuche usw.) zur Isolierung der historisch relevanten Information. 4.2. Quelleninterpretation (Auswertung) Inhaltsangabe (Regest): Kernbereiche der Quelle, nur texteigene Angaben 37
Eingrenzung des inhaltlichen Aussagebereiches: Standpunkt des Verfassers/ der Verfasserin, ihre Absichten, ihr Gegenstand, aber auch unabsichtliche Inhalte, Kontrolle durch andere Quellen: z.b. gibt es Informationen über den Verfasser und seine Lage zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes? Einordnung in ein genetisches, biographisches, soziales, wirtschaftliches, rechtliches, politisches ideologisches und kulturelles Umfeld mit Hilfe von Fachliteratur historischer Kontext, (Bezug der Quelle zu ihrer Zeit (Ursache und Wirkung?) Bestimmung des Erkenntniswertes für die eigene Fragestellung (Ergebnis und Zusammenfassung): Formulierung des Ergebnisses, Ergebnis aus den Stufen der Quellenarbeit herausentwickeln, Zusammenfassung von Teilergebnissen, Anknüpfen an die eingangs gestellte Fragestellung! Ständige Überprüfung der eigenen Voreingenommenheit! 5. Hilfswissenschaften In der traditionellen Politikgeschichte hat sich ein Kanon von Grundwissenschaften (oder Hilfswissenschaften) herausgebildet, mit denen sich die klassischen schriftlichen Quellen bearbeiten lassen. Diese entstanden jeweils aus technischen Schwierigkeiten mit einzelnen Quellengruppen. Chronologie (Lehre von der Zeitmessung) Diplomatik (Urkundenlehre) Genealogie (Ahnenlehre) Heraldik (Wappenkunde) Sphragistik (Siegelkunde) Numismatik (Münzkunde) Historische Geographie Paläographie (Schriftkunde) Man merkt diesen Wissenschaften ihre Herkunft aus der historischen Betrachtung der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Politik an. Das Interesse an historischen Zusammenhängen jenseits der traditionellen politischen Geschichte erfordert nämlich durchaus andere zusätzliche 38
wissenschaftliche Instrumente wie z.b.: Historische Demographie Metrologie (Lehre von den Maßeinheiten) Statistik Geldgeschichte Symbolforschung und Insignienkunde Begriffsgeschichte Gender Studies Soziologie Ökonomie Psychologie Je nach historischer Fragestellung kann jede Wissenschaft zur Hilfswissenschaft werden. 6. Quelleneditionen 6.1. Erscheinungsweise Quelleneditionen erscheinen entweder selbstständig oder unselbstständig (z.b. in Zeitschriften, Monographien oder Handbüchern). Beispiel: Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Winfried Baumgart. Bd. 1-7. Darmstadt 6,1: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg (1919-1945). Teil 1. Bearb. v. Hans Günter Hockerts. 1996 6,2: Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg (1919-1945). Teil 2. Bearb. v. Wolfgang Elz. 2000 6.2. Nutzen der Editionen keine Reise in ferne Archive notwendig, sondern Zugriff auf Quellen in heimischen Bibliotheken. keine suchende Zusammenstellung der Quellen (Quellen sind aus unterschiedlichsten, u. U. weit verstreuten Archiven zusammengestellt). kein mühsames Transkribieren unleserlicher Handschriften. 39
hilfswissenschaftliche Arbeit ist bereits erledigt. Echtheit der Quelle ist nachgewiesen. Herkunft von Korrekturen und Einschüben von fremder Hand ist gekennzeichnet. Entwürfe sind identifiziert und stehen in richtiger zeitlicher Reihenfolge. Bezüge sind hergestellt: worauf bezieht sich der Brief, an wen ist er gerichtet, Orte und Namen sind identifiziert. Erstellung eines Regest (knappe Inhaltsangabe der Quelle). Erstellung eines Registers. 6.3. Grenzen von wissenschaftlichen Quelleneditionen Der Benutzer muss immer noch selber entscheiden, welche Erkenntnisse aus der publizierten Quellen zu gewinnen sind: neue Tatsachen in Quellen zu entdecken, bleibt die Aufgabe des Benutzers. Auswahl der Quellen erfolgt nach der Konzeption der Herausgeber: Editionsgrundsätze (siehe Vorwort der Edition): der Benutzer muss diese Konzeption kennen: - Veröffentlicht die Edition nur die offizielle politische oder auch private Quellen eines Staatsmanns? - Ist wirklich alles wiedergegeben oder ist bereits die Überlieferung bruchstückhaft? - Es gibt auch Editionen, die nur darauf abzielen, eine bestimmte Auffassung zu belegen: Beispiel: die 40 Bände umfassende Edition aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, erschienen in den 1920er Jahren. Das Ziel war es, die These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu widerlegen, wie sie im Versailler Friedensvertrag Art. 231 festgeschrieben worden war. 40