Der Begriff "Gotik" geht auf den italienischen Kunsttheoretiker der Renaissance, Giorgio Vasari, zurück. Im Verständnis von Vasari war damit die "dunkle" Epoche der Kunst vor der Renaissance gemeint, den barbarischen "Stil der Goten", der im scharfen Widerspruch zu antiken Traditionen stand. Diese Einschätzung der Gotik dauerte bis in das 18. Jahrhundert fort. Heute steht Gotik als Stilbegriff für die künstlerische Entwicklung zwischen 1150 und 1500, die von starken pluralistischen Strömungen in Europa geprägt ist. Die Definition der Epochenbegriffe erfolgt meist nur über die Auflistung von Stilmerkmalen. Sie werden benutzt wie Erkennungsmerkmale, mit deren Hilfe jedermann benennen kann, was er vor Augen hat. Für die Gotik ist dies vor allem der Spitzbogen. Die Verwendung dieser Bogenform ist in der Tat zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert weit verbreitet, weil sie günstige statische Eigenschaften hat, günstigere als der Rundbogen in der Romanik. Genauere Untersuchungen aber zeigen, dass es Spitzbögen früher und zugleich länger gibt als die Gotik. Die Ausschließlichkeit der Zuordnung ist falsch, also auch die Definition der Gotik als Spitzbogen-Stil und der Romanik als Rundbogen-Stil. Die Kunsthistoriker sind sich mehrheitlich zwar einig, den Beginn gotischer Architektur im Pariser Becken in die Jahre um 1140 zu legen und als ein Schlüsselwerk den Neubau der Abteikirche von Saint-Denis bei Paris zu bezeichnen, in Deutschland wird man jedoch frühestens ab 1200 Bauten gotisch nennen können. "Die Neuartigkeit der Gotik resultierte aus der Kombination verschiedener Elemente zu einer Architektur mit bisher nicht bekannter Lichtfülle und konstruktiver Prägnanz. Es entstanden durchlässige Raumgefüge, die durch eine streng gegliederte und hierarchisch aufgebaute Ordnung gekennzeichnet sind." (Lexikon der Kunst) : Im Jahre 1137 begann der Abt Suger mit dem Neubau der Abteikirche St. Denis im Norden von Paris. St. Denis war die Grabstätte der französischen Könige. Fast zur gleichen Zeit wurde unter Erzbischof Henri Sanglier mit dem Bau der Kathedrale von Sens begonnen, dem Sitz des geistlichen Oberhauptes von Paris. In diesem historischen Prozess der Zentralisierung der Macht erhielten die Bischofstädte und damit verbunden der Bau von Kathedralen als Bischofskirchen (kathedra, griech., der Sitz; Kathedrale, Sitz des Bischofs) der Ile-de-France eine besondere Bedeutung, die die neuen Machtverhältnisse symbolisieren sollte. Die herrschende Bauaufgabe war also nicht mehr die Klosterkirche, sondern die Bischofskirche. Dies hängt auch mit der einsetzenden Entwicklung der Städte zu neuen Zentren des gesellschaftlichen, religiösen und wirtschaftlichen Lebens zusammen, Funktionen, die bisher die Klöster innehatten: Abteikirche St. Denis, Paris, Fassade Die im Laufe des 12. Jahrhunderts erfolgte Ertragssteigerung der Landwirtschaft ermöglichte eine zunehmende Verstädterung und damit die Steigerung der Aktivität in Handel und Gewerbe. Die großen Vermögen wurden nun auch in der Stadt - das heißt gewöhnlich in der Bischofsstadt gemacht. Gleichzeitig vollzog sich der Prozess der Zentralisierung und Konzentration der politischen Macht in den Händen der Könige von Frankreich. Bündnispartner der Könige waren die Bischöfe und das Bürgertum. Ein Mittel zur Veranschaulichung dieses Bündnisses war der Bau neuer Kathedralen, an deren Finanzierung sich Könige, die Bischöfe und auch die Kommunen beteiligten." (Funkkolleg Kunst) Der Bau einer Kathedrale und ihre Größe wurde im Verlauf der Entwicklung zum Symbol geistlicher und weltlicher Macht und Bedeutung, unter den Städten entwickelte sich zunehmend ein Konkurrenzdenken, andere Städte beim Bau einer Kathedrale durch Größe und Ausmaße zu übertreffen. 1
Der Grundriss der gotischen Kathedrale: Die Gliederung des Raumes von Kirchenbauten, wie er sich in der Gestaltung des Grundrisse niederschlägt, ist durch die liturgische Funktion bestimmt, die er zu erfüllen hat und die zum maßgebenden formprägenden Faktor wurden. Der Grundriss der Kathedrale von Amiens zeigt exemplarisch, wie er sich vergleichbar auch in anderen Kathedralbauten wiederfinden lässt. Die Elemente und Raumteile lassen sich folgendermaßen unterschieden: A. Chorscheitelkapelle B. Chorumgang C. Chorhaupt D. Joche E. Vierung F. Domkapitelpforte G. Kapelle H. Treppenturm I. Strebepfeiler J. Seitenschiff K. Mittelschiff L. Langhaus M. Querhaus N. Langchor 0. Apsis. Grundriss der Kathedrale von Amiens, 13. Jh. Die symbolische Ausrichtung in der Ost-West-Richtung ist bei allen Kathedralen anzutreffen (die Ost- Richtung weist nach Jerusalem). Die Kathedrale ist in einen westlichen und einen östlichen Bereich geteilt: - Chor und Vierung als Versammlungsort für Bischof und Domkapitel - Kapellen am Chorumgang zur Zelebrierung von Privatmessen der Domgeistlichen - Langhaus für Bewohner der Stadt und Kirchenbesucher - Seitenschiffe und Chorumgang zur Lenkung der Besucher bei Wallfahrten und Prozessionen - Querhäuser als Orte für geistliche und weltliche Zwecke (profaner Versammlungsraum), z. B. für Gerichtsverhandlungen, denen der Bischof als weltlicher Herrschaftsträger vorstand - Platz vor dem Westportal als Ort profaner, weltlicher Veranstaltungen. Der Innenraum der Kathedrale diente nicht nur religiösen, sondern auch vielfältigen profanen Zwecken. In der Regel war der Chor der Kathedrale der größte und höchste Innenraum (Saal) in einer Stadt. Das Leben in der Kathedrale war bestimmt durch: Gottesdienste Entsprechend dem Ablauf des Kirchenjahres fanden unterschiedlichste Formen von Gottesdiensten statt, angefangen bei den Gottesdiensten des gewöhnlichen Werktages, über die sonntäglichen Gottesdienste bis hin zu den liturgischen Feiern an hohen Festtagen. Dabei wurde die Kirche mit kostbaren Gefäßen, Teppichen, Tüchern u. a. ausgeschmückt, um das Schaubedürfnis der anwesenden Kirchenbesucher zu erfüllen. 2
"An besonders hohen kirchlichen Festtagen und zu herausragenden Gelegenheiten - etwa der Krönung eines Königs oder zum Amtsantritt eines Bischofs - wurden Ritus und Dekor noch weiter bereichert. Alle Zeremonien waren so gestaltet, dass sie sowohl von den Mitwirkenden als auch von den näher wie entfernter stehenden Zuschauern als feierliche Handlungen sinnlich erlebt werden konnten." (Funkkolleg Kunst) Dabei wurden alle Sinne angesprochen durch das mystische Licht, das durch die bunten Glasfenster fiel, das Kerzenlicht des Raumes, die prunkvollen Dekorationen, den Geruch des Weihrauches, Musik und Gesang. Staatspolitische Zeremonien Dazu gehören vor allem Königskrönungen und die Salbung des Königs, die in den Kathedralen vollzogen wurden, um die Einheit zwischen weltlicher Herrschaft und geistlicher Berufung des Königs symbolisch zu zelebrieren:,... eine Königskrönung demonstrierte auf die eindrücklichste Weise die Einheit zwischen Regnum" und Sacerdotium", die für die Staatsidee des Mittelalters so bezeichnend ist. (Funkkolleg Kunst) Mysterien- und geistliche Theaterspiele Wesentliches Element christlicher Lehre war es, die Inhalte nicht nur verbal durch Verkündigung an die Gläubigen und Kirchenbesucher zu vermitteln, sondern auch durch Schauen und Anschauen Glaubensinhalte dem Volke nahe zu bringen. Dazu dienten die Vielzahl der Bilder in den Kathedralen, Altäre, Fresken, Glasbilder, Skulpturen u. a. Aus den Texten der Evangelien entwickelte man aber auch so genannte Mysterienspiele, die in den Kathedralen aufgeführt wurden und in denen das Leben Christi szenisch dargestellt wurde. Weltliche Ereignisse "Als größter, höchster und prächtigster, stabilster und teuerster Raum war die Kathedrale in jeder Hinsicht das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Stadt und Identifikationsobjekt aller Bewohner." (Funkkolleg Kunst) So diente der Raum der Kathedrale u. a. als Markt, in kriegerischen Zeiten als Festung und Warenlager, als Übernachtungsort und vielen anderen öffentlichen Angelegenheiten. Die Fassade der gotischen Kathedrale: Die Fassade der gotischen Kathedrale kann mit ihrer vielfältigen architektonischen Gliederung und plastischen Gestaltung als öffentliche Schauseite der Bischofskirche gesehen werden. In ihrer hoch entwickelten Gestalt, wie man sie exemplarisch am Beispiel der Kathedrale von Amiens sehen kann, ist sie das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung. Die ältesten Sakralbauten des Abendlandes, die Basiliken, spiegeln in ihren West- oder Eingangsfassaden den Querschnitt des inneren Aufbaus wieder. Der Turm steht als Einzelturm (Campanile) getrennt von der Fassade. Dieser einfache und schlichte Typus von Fassade bleibt in Italien bis ins späte Mittelalter dominierend. Die Ursprünge der Entwicklung der gotischen Kathedralfassade liegen in der Normandie in Frankreich. Dort findet man die ersten Beispiele einer durch Strebepfeiler gegliederten Fassade. Beispiel dafür ist die Abteikirche Saint-Etienne in Caen, die zwischen 1060 und 1080 errichtet wurde, und die kurze Zeit später entstandene Basilika Ste. Trinité in Caen. 3
Fassade der Kathedrale von Amiens, 13. Jh. Am Beispiel der Kathedrale von Amiens lassen sich die Teile einer gotischen Kathedralfassade beschreiben: a. Sockelstreifen mit Kreuzblumenornament Kathedrale von Amiens, Fassade, 13. Jh. b. Sockelstreifen mit Vierpassreliefs c. Türpfeiler d. Bogenfeld (Tympanon) e. Bogenläufe (Archivolten) f. Wimperg g. Fialen h. Galerie mit Laufgang i. Rose j. Türme. 4
Paris, Notre-Dame, Fassade, beg. um 1200 Fassade von Reims "Als weitere Steigerung der Bauentwicklung von Amiens und gleichzeitig als Höhepunkt und Synthese der Entwicklung der gotischen Kathedralfassade gilt die Fassade der Kathedrale von Reims. Die Wand dieser Fassade erscheint wie eine Skulptur, die Baumasse ist fast vollkommen aufgelöst und entmaterialisiert und es wird in triumphaler Weise die neue Versinnlichung des Religiösen dargestellt. Durch die Portale der Kathedrale von Reims zogen die zukünftigen französischen Könige ein, um im Chor vom Reimser Erzbischof nicht nur gekrönt, sondern auch mit himmlischem Öl gesalbt zu werden. Blickten sie zu dem Geschoss über der Rose empor, so sahen sie unter den Freigeschossen der Türme eine Galerie mit Königsfiguren, wie wir sie schon aus Paris und Amiens kennen. Hier an der Krönungskathedrale ist nun über die Identität der Dargestellten kein Zweifel möglich." (Funkkolleg Kunst) Für Reims lassen sich folgende Neuerungen und Merkmale im Vergleich zu Notre-Dame, Paris aufzeigen: - Die Portalbuchten sind weiter vertieft. - Insgesamt fünf Giebel, die von außen nach innen größer werden, krönen das Portalgeschoss. - Im Zentrum des Bogens über dem Mittelportal wird erstmals die Krönung Mariens dargestellt. - Die Bedeutung des Rosengeschosses wird besonders hervorgehoben, indem Fialen vor die Strebepfeiler gesetzt werden, die bis zur Königsgalerie hinaufragen. Das architektonische Konzept der gotischen Kathedrale besteht darin, dass alle tragenden und lastenden Teile und oft auch die Füllflächen und Schmuckformen in eine Gesamtkomposition eingebunden sind, der konsequente Maße und Maßverhältnisse zugrunde liegen. Doch ist diese Architekturgestaltung nicht allein aus der Vorliebe für das Geometrisch-Konstruktive erklärbar; denn die Leichtigkeit des Baues ist wieder aus dem Bestreben zu erklären, den symbolischen Gedanken, dass der Kirchenbau auf das himmlische Jerusalem weise, den Gläubigen möglichst nahe zubringen und geradezu die Illusion einer Identität von irdischem Kirchengebäude und Himmelsstadt zu schaffen." (Funkkolleg Kunst) 5