Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten zwischen Kultur und Evolution

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Transkript:

Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten zwischen Kultur und Evolution

Ulrich Kühnen lehrt und forscht seit 2003 als Professor für Psychologie an der Jacobs University Bremen und ist Gründungsmitglied der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS). Als kognitiver Sozialpsychologe interessiert Kühnen sich vor allem für die soziale Fundierung menschlichen Denkens, Fühlens und Handels. Insbesondere erforscht er die Konsequenzen kultureller Bedeutungssysteme für das Verständnis von Identität und dessen Konsequenzen für grundlegende kognitive Mechanismen.

Ulrich Kühnen Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten zwischen Kultur und Evolution

Ulrich Kühnen School of Humanities and Social Sciences Jacobs University Bremen Deutschland ISBN 978-3-662-45365-0 DOI 10.1007/978-3-662-45366-7 ISBN 978-3-662-45366-7 (ebook) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz- Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Planung: Frank Wigger Grafiken: 2.1, 2.2, 2.3, 4.1, 4.2, 5.4 und 9.2 von Stephan Meyer Titelbild: Gestaltungsatelier Isa Fischer, www.isafischer.de Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

Ich widme dieses Buch meinem Vater Josef Kühnen(1926 2012) Niemand hat meinen Blick auf das Leben so stark geprägt wie er.

Vorwort Den Abend des 9. November 1989 verbrachte ich in meinem WG-Zimmer in West-Berlin und lernte Statistik (für Kenner: Ich bemühte mich, den T-Test zu verstehen). Kann man sich etwas Blöderes vorstellen? Draußen in der Stadt wurde gerade Geschichte geschrieben, und ich, der ich einen Monat zuvor mein Psychologiestudium begonnen hatte, saß zu Hause und paukte! Obschon natürlich in den Wochen zuvor immer wieder Ereignisse stattgefunden hatten, die zu Recht als historisch bezeichnet wurden, habe ich genau an jenem Abend, als die Mauer fiel, einfach keine Nachrichten gehört und deswegen nichts mitbekommen. Am Tag darauf wurde mir jedoch auf dem Weg zur Uni schnell klar, welch ungeheures Ereignis dort geschehen war, denn ich sah die Menschen, die auf der Mauer tanzten. Am Nachmittag dieses Tages war ich bei der großen, spontanen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, bei der auch Willy Brandt sprach, der am selben Tag sein berühmtes Wort sagte, dass nun zusammenwachsen müsse, was zusammengehöre. Für mich persönlich war dies einer der Momente, die mich zu einem kulturvergleichenden Psychologen werden ließen. Ich begann mich zu fragen, wie groß denn wohl die Kluft zwischen Ost und West sei die Mauer in den Köpfen,

VIII Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten wie diese in den kommenden Jahren bezeichnet werden sollte. Ich begann mich zu fragen, wie die Kluft entstanden war, ob mein eigenes Denken, Fühlen und Handeln vielleicht typisch westdeutsch sei und wie ein solcher Prozess des Zusammenwachsens denn wohl vor sich gehen könne. Ich lebte von jenem 9. November an in einer Stadt mit zwei unterschiedlichen Erfahrungswelten und, wenn man so will, mit zwei unterschiedlichen Kulturen. Wenige Jahre später verbrachte ich einige Wochen an der University of Michigan und besuchte dort ein Seminar über kulturvergleichende Sozialpsychologie bei einer der führenden Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet: Hazel Markus. Ich erfuhr, entlang welcher Dimensionen Kulturen miteinander verglichen werden können und wie sich dies in individuellem Erleben und Verhalten niederschlägt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, all das besser zu verstehen, was ich im Berlin der frühen 1990er Jahre tagtäglich überall sah und was ich bis dahin eher fragend als verstehend beobachtet hatte. Ich erinnere mich genau an das überwältigende Gefühl dieses Das ist es! Darüber will ich mehr wissen!. Ich spürte wirklich buchstäblich von einem auf den nächsten Moment, dass ich mein Lebensthema gefunden hatte. Als ich dann 1994 mein erstes eigenständiges Tutorium an der Technischen Universität Berlin anbieten durfte, war mir sofort klar, welches Thema es behandeln sollte: interkulturelle Perspektiven in der Psychologie. Heute, genau zwanzig Jahre später, unterrichte ich immer noch Seminare, die sich mit demselben Thema beschäftigen; meine Leidenschaft für dieses Gebiet hat nicht nachgelassen. Was sich natürlich geändert hat, sind die konkreten Fragestellungen

Vorwort IX und selbstverständlich auch die Kurslektüre. Das ist an sich nichts Besonderes, und ich hoffe, es wird kaum ein Universitätsseminar geben, in dem noch immer dieselben Inhalte gelehrt werden wie vor zwanzig Jahren. Die Forschung geht eben weiter. Nach zwanzig Jahren ist es für mich an der Zeit, einmal innezuhalten und zu betrachten, was an Forschung alles entstanden ist, welche neuen und zum Teil sehr weitreichenden Erkenntnisse die Wissenschaft auf diesem Gebiet erzielt hat. Fast alles, was ich in diesem Buch beschreibe und berichte, ist daher erst in diesen beiden letzten Jahrzehnten entstanden und herausgefunden worden. Wir wissen heute so erstaunlich viel mehr über den Einfluss von Kultur auf kognitive Prozesse sowie über evolutionäre Spuren im menschlichen Urteilen und Handeln, dass es an der Zeit ist, dieses Wissen einmal zusammenzufassen. Die Freude an diesem Forschungsfortschritt ist daher für mich einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben. Ein weiterer Grund ist folgender: Mein tägliches Geschäft als Wissenschaftler ist das Planen, Durchführen und Auswerten von neuen Studien. Wenn die Ergebnisse interessant sind, schreibe ich darüber Artikel, die ich dann bei Fachzeitschriften zur Veröffentlichung einreiche. Diese Artikel richten sich an eine Leserschaft, die aus Expertinnen und Experten des Forschungsfeldes besteht. Das heißt: Jede Studie, die wir durchführen, betrifft immer nur einen sehr, sehr kleinen Detailaspekt eines Phänomens. Natürlich sind die Schlussfolgerungen, die jede einzelne kleine Studie erlaubt, nicht sehr weitgreifend. Zudem werden diese Studien dann auf möglichst wenigen Seiten beschrieben, denn sonst werden sie ganz gewiss nie zur Veröffentlichung in einer angesehenen Fachzeitschrift angenommen. Und all

X Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten das hat zur Folge, dass das, worum es eigentlich geht, selten aufgeschrieben wird. Jede Studie mag nur ein kleines Mosaiksteinchen sein, aber zusammengesetzt ergeben die vielen Steinchen doch ein faszinierendes Ganzes, ein großes Mosaik, für dessen Entstehen jedes Steinchen dann doch bedeutsam ist. Doch das vollständige Mosaik existiert in erster Linie in den Köpfen einiger weniger Experten, die die betreffenden Artikel lesen. Somit möchte ich mit diesem Buch den Versuch unternehmen, dieses Mosaik wenigstens in seinen Grundzügen auch für eine breitere Leserschaft sichtbar werden zu lassen. Bei der Auswahl der vorgestellten Studien und Befunde habe ich mich vom Geist des deutschen Physikers Johannes Kepler leiten lassen, der einmal auf die Frage, woher er wisse, dass ein Befund bedeutsam sei, geantwortet haben soll: Ich weiß es, wenn mein Herz glüht. Ich würde mich freuen, wenn es mir gelungen ist, die Faszination und die Leidenschaft, die viele meiner Kolleginnen und Kollegen verbindet, für den Leser spürbar werden zu lassen. Bremen, Dezember 2014 Ulrich Kühnen

Inhalt 1 Worum es in diesem Buch gehen wird (und warum man es lesen sollte)................. 1 2 Wie sich Kulturen voneinander unterscheiden (und was damit nicht gemeint ist)................ 17 3 Wo die Kulturdimensionen herkommen (und wieso das Klima dabei eine Rolle spielt)....... 39 4 Wie das Ich entsteht (und wie die Kultur in den Kopf kommt)............................. 65 5 Wie die Kultur unsere Wahrnehmung prägt (und warum ich sehe, was wir nicht sehen)......... 91 6 Wie wir erschließen, was wir nicht sehen (und welche Fehler wir dabei machen)............. 109 7 Was Lernen ausmacht (und wofür Multikulti gut ist).................... 143 8 Was uns anzieht (und ob Männer wirklich immer nur das eine wollen)..................... 167 9 Ob das Gute eine Chance hat (und was die Moral von der Geschichte ist).................... 189

XII Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten 10 Warum es Moral nur mit Gefühl gibt (und wo das Mitgefühl herkommt)................ 213 11 Wieso wir an Gott glauben (und wieso das zu tun ein evolutionärer Vorteil war).............. 243 Nachwort (und Ausblick)........................ 275 Literatur.................................... 281

1 Worum es in diesem Buch gehen wird (und warum man es lesen sollte) Liebe Leserin, lieber Leser: Wie würden Sie die deutsche Kultur beschreiben? Welche Merkmale kennzeichnen uns als Deutsche? Denken Sie einmal kurz darüber nach und lassen Sie sich fünf Antworten auf diese Frage einfallen. Haben Sie s? Dann möchte ich mit Ihnen wetten: Wenn ich zum Teil erraten kann, was Ihnen in den Sinn gekommen ist, lesen Sie dieses Buch weiter. Okay? Gut, also: Ich bin ziemlich sicher, dass unter den Eigenschaften, die Ihnen eingefallen sind, auch Pünktlichkeit zu finden ist. Richtig? Also bitte: weiterlesen! (Und wenn Pünktlichkeit nicht dabei war, verspreche ich, dass trotzdem einiges Wissenswerte für Sie in diesem Buch zu finden ist wenn Sie es denn lesen.) Pünktlichkeit ist die vielleicht deutscheste aller Tugenden. Dies ist nicht allein ein Vorurteil, repräsentative Umfragen zeigen, dass wir Deutschen mehrheitlich Unpünktlichkeit verurteilen, Pünktlichkeit jedoch für höchst erstrebenswert in Alltag und Erziehung halten. Doch woran liegt das? Woher kommt unsere Präferenz für Pünktlichkeit? Hängt dies vielleicht mit der ebenfalls sprichwörtlichen German Angst zusammen? Hilft uns Pünktlichkeit vielleicht, die Unsicherheiten des Lebens ein wenig zu reduzieren? Tatsächlich zeigen die inzwischen zu einiger Berühmtheit U. Kühnen, Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten zwischen Kultur und Evolution, DOI 10.1007/978-3-662-45366-7_1, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

2 Tierisch kultiviert Menschliches Verhalten gelangten Wertestudien von Geert Hofstede (2001), dass der Grad an Unsicherheitsvermeidung eine der Grunddimensionen ist, in denen sich die generellen Werthaltungen verschiedener Kulturen voneinander unterscheiden. Und wir Deutschen sind insgesamt in der Tat eher unsicherheitsvermeidend. Können wir Unpünktlichkeit vielleicht deshalb nicht leiden? Oder ist die deutsche Pünktlichkeit ein Ausfluss der kapitalistischen Zeit-ist-Geld -Mentalität? Ist Zeitverschwendung dieser Gleichung folgend äquivalent mit Geldverschwendung? Indirekte Hinweise auf einen solchen Zusammenhang könnten aus den Befunden der großangelegten Studien des Psychologen Robert Levine (2009) abgeleitet werden, der verschiedene Indikatoren für den pace of life in 31 Nationen gemessen hat, unter anderem die Genauigkeit von öffentlichen Uhren auf größeren innerstädtischen Plätzen. Wie erwartet fand Levine heraus, dass die Uhren in Deutschland tatsächlich ziemlich genau gingen. Wichtiger aber noch: Die Uhrengenauigkeit zeigte über die verschiedenen Kulturen hinweg einen starken Zusammenhang mit dem Pro-Kopf-Einkommen in den untersuchten Ländern je pünktlicher, desto reicher. Ist dies der Grund, warum wir Pünktlichkeit schätzen? Gewiss ließen sich noch zahlreiche andere Erklärungen für die deutsche Liebe zur Pünktlichkeit anbringen, aber die beiden genannten haben abstrakt betrachtet doch etwas gemeinsam: Es sind rein kulturelle Erklärungen. Beide Erklärungsversuche bringen Pünktlichkeit mit anderen Merkmalen unserer Mentalität und Lebensweise in Verbindung. Dies mag zutreffen, aber etwas sehr Grundsätzliches wird dabei nicht betrachtet: die Ökologie nämlich, die Gegebenheiten der Umwelt, in der wir Deutschen nun einmal leben.