LE 8: Die Europäische Währungsunion (EWU) in der Krise sog. Eurokrise 8.1 Die Staatsverschuldung der EU-Staaten 8.2 Der Sachverständigenrat zur Krise (vgl. auch LE K, 6) 8.3 Von Griechenland zum ESM 8.4 Die Aufstockung des Rettungsschirms 8.5 Der ESM 8.6 Ergänzungen zur bisherigen Stabilitätspolitik 8.7 Europarecht und Krise 8.8 Deutsches Recht und Krise 147 8.1 Die Staatsverschuldung der EU-Staaten Die Staatsverschuldung der Mitgliedsländer der EU per 31. 12.2010 in % BIP BIP-Konvergenzkriterium (LE 3.5) 60% BIP (Quelle: Eurostat) 148 Belgien 96,8% Bulgarien 16,2% Tschechien 38,5% Dänemark 43,6% Deutschland 83,2% Estland 6,6% Irland 96,2% Griechenland 142,8% Spanien 60,1% Frankreich 81,7% Italien 119,0% Zypern 60,8% Lettland 44,7% Litauen 38,2% Luxemburg 18,4% Ungarn 80,2% Malta 68,0% Niederlande 62,7% Österreich 72,3% Polen 55,0% Portugal 93,0% Rumänien 30,8% Slowenien 38,0% Slowakei 41,0% Finnland 48,4% Schweden 39,8% Großbritannien 80,0% 1
8.2 Der Sachverständigenrat zur Krise (1 von 3) Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Krise (Jahresgutachten 2010/2011 BT-Drucksache 17/3700 vom 17. 11. 2010, S. 11 f.): Mit den starken Spannungen im Euro-Raum haben die grundsätzlichen Zweifel an der Vorteilhaftigkeit einer Währungsunion erneuten Auftrieb erhalten. Bei allen Problemen sollte nicht übersehen werden, dass sich Haushaltsdefizite und Schuldenstandsquoten nicht nur in den Mitgliedsländern des Euro-Raums erhöht haben, sondern in gleicher Weise und teilweise noch ausgeprägter in den Vereinigten Staaten, in Japan und im Vereinigten Königreich. Wie diese Volkswirtschaften leiden auch die Mitgliedsländer der Währungsunion unter den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die nach wie vor mit erheblichen Belastungen für die öffentlichen Haushalte verbunden sind. Gleichwohl gibt es Spannungen und Fehlentwicklungen im Euro-Raum, die auf die spezifische Konstellation einer Währungsunion zurückzuführen sind: 149 8.2 Der Sachverständigenrat zur Krise (2 von 3) Dass es Griechenland möglich gewesen ist, über ein ganzes Jahrzehnt hinweg eine so unsolide Haushaltspolitik zu betreiben, dürfte zumindest teilweise darin begründet sein, dass die Finanzmärkte trotz der gegenteiligen Bestimmungen des EU-Vertrags für den Notfall von einer Unterstützung (Bail-out) durch die anderen Teilnehmerländer ausgegangen sind. Aufgrund der einheitlichen Zinspolitik konnte sich die konjunkturelle Überhitzung in Spanien, Griechenland und Irland länger halten, als dies bei einer Geldpolitik unter nationaler Regie möglich gewesen wäre. Nachdem in den Problemländern der Währungsunion die Löhne über viele Jahre hinweg zu stark gestiegen sind, steht ihnen heute das Hilfsmittel einer nominalen Abwertung nicht zur Verfügung, um die negativen Nachfrageeffekte der Haushaltskonsolidierung abzufedern und die Wettbewerbsfähigkeit ohne Lohnsenkung rasch zu verbessern. 150 2
8.2 Der Sachverständigenrat zur Krise (3 von 3) In der Krise zeigt sich zudem ein weiteres Spezifikum der Mitgliedschaft in einer Währungsunion. In den Vereinigten Staaten, Japan und dem Vereinigten Königreich wurde von der Zentralbank im Rahmen des sogenannten Quantitative Easing in sehr hohem Umfang Staatsanleihen erworben, um Finanzierungsengpässe des Staates zu vermeiden. Demgegenüber sind die Länder des Euro-Raums im Prinzip darauf angewiesen, sich am Kapitalmarkt zu finanzieren, womit sie in vollem Umfang den Unwägbarkeiten der globalen Finanzmärkte ausgesetzt sind. Dies erklärt die massiven Stützungsprogramme, die im Mai 2010 zunächst für Griechenland und dann für den gesamten Währungsraum vereinbart worden sind. 151 8.3 Von Griechenland zum ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) (1 von 4) 8.31 Griechenland (GR) 2009: Haushaltsdefizit GR muss von 5% auf 13% korrigiert werden. Für 2010 wird Anstieg der Staatsverschuldung auf 125% des BIP errechnet. ECOFIN setzt im April 2009 Defizitverfahren gegen GR in Gang. 2010: 11.02.2010: Europ. Rat verkündet, er werde finanzielle Stabilität der Eurozone sicherstellen. Große Unruhe an den Finanzmärkten. 25.03.2010: Europ. Rat erklärt Bereitschaft zu einem Hilfsmechanismus für Griechenland.(Konzept Darlehen + IWF) 12.04.2010: Rating GR auf BBB- gesenkt. 152 3
8.3 Von Griechenland zum ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) (2 von 4) 2010 (Fortsetzung): 22.04.2010: Eurostat errechnet Haushaltsdefizit 2010 GR mit 13,6%. Dauernde Unruhe an den Märkten, Risikoaufschläge Staatsanleihen GR Rekordhöhe. 23.04.2010: GR beantragt Finanzhilfen bei EU und IWF 02. 05. 2010: Staaten der Eurogruppe erklären Bereitschaft, GR 80 Milliarden an bilateralen Krediten zur Verfügung zu stellen, zusätzlich zu IWF 30 Milliarden, gesamt 110 Milliarden. (Messgrösse je Staat: Anteil Staaten Eurowährungsgebiet am Kapital EZB, D 27,93%= 22,4 Milliarden, davon 8,4 Mill. Im ersten Jahr. Strenge Konditionalität. (1. Griechenlandpaket) 153 8.3 Von Griechenland zum ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) (3 von 4) 8.32 EFSM und EFSF Zwei Teile eines Rettungsschirms, Anlass: Spekulationen und Unruhen wegen Finanzlage Italiens, Irlands, Portugals und Spaniens, auch weiter Griechenlands 07.05.2010: Staats- und Regierungschefs Eurogruppe sprechen sich für weitere Maßnahmen aus, um Stabilität Eurozone zu bewahren und beauftragen Kommission und ECOFIN-Rat mit Erarbeitung eines Rettungsschirms. 09.05.2010: ECOFIN-Rat beschliesst Rettungsschirm aus zwei Komponenten: 154 4
8.3 Von Griechenland zum ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) (4 von 4) 1. EFSM (European Financial Stabilization Mechanism, Laufzeit bis Ende 2013) Rechtsform: EU-Mechanismus, zweifelhafte Basis Art. 122 Abs.2 AEUV (EU-VO 407/2010) Darlehenskapazität: 60 Mrd., aus EU-Haushalt Verwendung: Kredite und Kreditlinien an Euro-Staaten, garantiert von allen Mitgliedstaaten 2. EFSF (European Financial Stabilization Facility, Laufzeit bis Ende 2013) Rechtsform: Aktiengesellschaft nach Luxemburg. Recht, Kapital gehalten von Ländern des Euro-Raums, Basis: zwischenstaatlicher Beschluss Eurostaaten Darlehenskapazität: 440 Mrd. für Kredite an und Anleihekäufe am Primärmarkt. 1+2: Rettungsvolumen 2010 60 Mrd. EFSM 440 Mrd. EFSF 250 Mrd. IWF 750 Mrd. Anteil D: 123 Mrd. Erste Empfänger: Irland 85 Mrd. Euro und Portugal 78 Mrd. Euro 155 8.4 Die Aufstockung des Rettungsschirms (1 von 2) A) Aufstockung Rettungsschirm 2010 in 2011 und B) in D: Sicherung und Stärkung der Parlamentsrechte bei europäischen Stabilisierungsmaßnahmen Gründe für A: Fortdauernde angespannte Situation auf den Finanzmärkten zwingt Staats- und Regierungschefs der Eurozone auf Basis ihrer Beschlüsse vom 11. März 2011 zu Aufstockungsbeschlüssen vom 21. Juli 2011 Gründe für B: BVerfG (BVerfG 129, 124ff. vom 07.09.2011) verlangt in Urteil zur Klage von 5 Professoren Verstärkung der parlamentarischen Mitwirkungs- und Kontrollrechte (vgl. Teil 9 in LE K). Weg A und B in D zu realisieren: Änderung des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus. BT stimmt am 29.09.2011 zu, BR lässt am 30.09.2011 Gesetz passieren. 156 5
8.4 Die Aufstockung des Rettungsschirms (2 von 2) Ergebnisse zu A: Garantierahmen wird auf 780 Mrd. erhöht, Anteil D von 123 Mrd. um 88 Mrd. auf 211 Mrd. Garantien des Bundes. Ergebnis für EFSF: Maximales effektives Ausleihvolumen am Kapitalmarkt auf 440 Mrd. Kredit- und andere Maßnahmen erhöht, strenge Konditionalität. Ergebnisse zu B: Parlamentsvorbehalt für Entscheidungen der Bundesregierung im EFSF. 157 8.5 Der ESM (errichtet durch Vertrag vom 02.02.2012) (vgl. EZB, Monatsbericht Juli 2011, S. 76-90) ESM (European Stabilisation Mechanism) löst ab 2013 EFSM und EFSF als permanenter Mechanismus ab Rechtsform: Zwischenstaatliche Internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit Basis: Geänderter Art. 136 Abs. 3 AEUV Kapitalstruktur: 80 Mrd. eingezahltes Kapital, zahlbar durch Euroländer in 5 jährlichen Tranchen von 20% des jeweiligen Gesamtbetrages je Land, 620 Mrd. abrufbares Kapital, Kapazität (maximales effektives Ausleihvolumen): 500 Mrd. Euro Anteil D: 190 Mrd. Euro 158 6
8.6 Ergänzungen zur bisherigen Stabilitätspolitik (schon in 3.6) Vertrag vom 02. 03. 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (EU-Staaten ohne GB) (Sogenannter Fiskalpakt) Sogenannter Six-Pack vom 16.11.2011: VO/EU 1173/2011über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet VO/EU 1174/2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet VO/EU 1175/2011 zur Änderung der Verordnung EG 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken VO/EU 1176/2011 über die Vermeidung und Korrektur makro-ökonomischer Ungleichgewichte VO/EU 1177/2011 zur Änderung der VO (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit Richtlinie 2011/85 EU über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten 159 8.7 Europarecht und Krise 3 Probleme als Beispiel (1 von 2) 1. Problem Art. 122 AEUV reicht als Basis für Rettungsmaßnahmen im Rahmen der Krise um den Euro und der Hilfsmaßnahmen für verschuldete Staaten nicht aus. Daher: Beschluss des Europäischen Rates vom 25. 03. 2011 zur Einfügung eines neuen Absatz (3) in Art. 136 AEUV wie folgt: Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen. 160 7
8.7 Europarecht und Krise 3 Probleme als Beispiel (2 von 2) 2. Problem Art. 123 AEUV: Verbot von Kreditfazilitäten für öffentliche Einrichtungen: Verstösst die EZB durch massiven Aufkauf von Schuldtiteln stark verschuldeter Eurostaaten bei Sekundärhaltern gegen dieses Verbot? 3. Problem Verstösst die Rettungspolitik der EU-Staaten (1. Griechenlandpaket, EFSM und EFSF, ESM) sowie die Aufkaufpolitik der EZB gegen dieses No-bailout-Gebot (=Bail-out-Verbot)? 161 8.8 Deutsches Recht und Krise 1. Alle deutschen Gesetze zur Umsetzung der von 8.3 bis 8.6 geschlossenen Verträge sind beim BVerfG durch Verfassungsbeschwerden bzw. im Normenkontrollverfahren angegriffen worden (vgl. LE K Teil 9). Das Gericht hat in den Entscheidungen die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, aber zugleich wichtige Grundsätze aufgestellt bzw. Maßgaben formuliert. 2. Daher werden die Leitsätze des Urteils vom 07.09.2011 (BVerfGE 129, S. 124 ff) und das Urteil vom 12.09.2012 in der Vorlesung erläutert. Die Studierenden müssen diese Leitsätze aus 2011 bzw. das Urteil aus 2012 nacharbeiten. 162 8