Sexualität und Behinderung Veronika Holwein, Heilpädagogin / Erwachsenen- und Berufsbildnerin Wie beurteilen erwachsene Menschen mit einer Körperbehinderung heute dieses Thema? Welche Träume und Wünsche haben sie? Was hätten sie sich anders gewünscht in ihrer Kindheit/Jugend/Schulzeit? Ich berichte aus meiner Kurserfahrung mit erwachsenen Frauen mit einer Körperbehinderung. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für die Bildung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit einer Körperbehinderung? Aussagen von Frauen mit einer Behinderung (avanti donne) anlässlich eines Kurses zum Thema Sexualität und Behinderung Frage1 Welche Träume und Wünsche hast du? 1. Frau im Rollstuhl in einer Partnerschaft mit einem nichtbehinderten Mann: Meine Wünsche sind auch auf das Thema Sexualität bezogen, dass ich auch einmal eine Familie haben darf, eine Familie haben kann und dass man nicht einfach sagt das ist nicht möglich. Ich wünsche mir, dass diejenigen, die solche Sachen behaupten oder denken uns nicht bös ansprechen, sondern mein Wunsch ist es, dass man auf uns zukommt und nachfragt, wie wir das empfinden oder auch sich besser zu erkundigen, wie das ist mit einer Behinderung und dem Elternwunsch.Auf die Frage, wie sie sich das vorstellt mit der Betreuung der Kinder antwortet sie: Wir könnten das selber abdecken mit der Betreuung. Wir werden Ende Jahr zusammenziehen als ersten Schritt und dann ist das Ziel, eine eigene Familie zu gründen Jetzt lebe ich in einem betreuten Wohnen, wo die Einstellung herrscht: Geschlechtsverkehr und Spastik und Behinderung ist nicht möglich.
2. Frau mit MS und starker Skoliose Meine Lebensträume: frei zu sein, aber irgendwann mit einem Partner zusammenleben zu dürfen, der mich respektiert als Mensch wie ich bin, meine Behinderungen respektiert und mich begleitet. Im Bereich Sexualität habe ich normale Wünsche wie andere auch. 3. Frau im Rollstuhl (23- jährig) Ich möchte selbstständig leben oder in einer WG oder so. Mal einen Partner zu haben wäre schön, kann aber noch etwas warten. Mal eine eigene Familie zu haben wäre auch schön. Ich lebe in einem Heim und gehe am Wochenende nach Hause. Ich würde gerne in eine WG oder vielleicht alleine wohnen- vielleicht besser in einer WG. Vielleicht später einen Freund haben, das muss jetzt noch nicht sein. 4. Frau mit psychischer Behinderung seit ihrem 28. Lebensjahr Ich bin aufgewachsen und habe mir gar keine Gedanken gemacht zu Sexualität, das war für mich normal. Mit 28-jährig wurde ich psychisch behindert. Ich habe gemerkt, dass ich in einem normalen Prozess war, aber die Selbstbestimmung für mich als Frau war nicht gross. Ich lebe seit 2000 getrennt und bin geschieden. Ich merke, wie Sexualität mir auch in schwierigen Zeiten Kraft gibt, dass ich spüre, dass ich Frau bin. Und ich wünsche mir, dass sehr viele behinderte Frauen die Eigenverantwortung auch wahrnehmen können und sich aber auch abgrenzen können. Zur Frage nach eigenen Lebensträumen antwortet sie: wieder reisen, Reisen ist Bildung. Auf der anderen Seite hätte ich auch gerne einen Partner, der zu mir passt und mit dem ich Sexualität leben kann in einer Form, dass es für beide stimmt, nicht für die anderen 5. Frau mit Mehrfachbehinderung vor allem Sehbehinderung Ein näherer Zukunftstraum ist meine Unabhängigkeit zu erreichen ich wohne noch Zuhause. Ich bin dran mit Unterstützung selbstständiger mit ÖV unterwegs zu sein, irgendwann ausziehen zu können, so wie es sich ergibt, vielleicht in eine WG zu ziehen. Ich möchte noch mehr körperlich
und künstlerisch aktiv sein. Im Moment sind noch zu viele Ängste da. Ich wünsche mir noch mehr Zufriedenheit in meinem Leben und mehr Erfüllung. Und im sexuellen Bereich: der Wunsch nach einem Partner ist sehr gross, da jemanden zu finden mit dem man zusammen sein kann. Aber auch die Angst ist da vor Verletzung Wo treffe ich jemanden? Ich habe mehr Kontakt mit Frauen. Das ist ein grosser Traum und Wunsch, den zu erfüllen. Und auch eine erfüllte Sexualität zu leben. Frage 2 Was hättest du dir anders gewünscht? "Ich hätte mir viel früher Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gewünscht und ganz klar auch im Bereich Sexualität." "Ich hätte mir eine umfassendere Aufklärung in der Schulzeit gewünscht." "Mehr sexuelle Bildung!" "Ich habe mich mit BRAVO selber aufgeklärt und mit anderen Mädchen gesprochen." "Es wurde nur Theorie vermittelt, nicht mehr!" "Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass ich den Mut gehabt hätte, die Schule zu wechseln." "Ich hätte mir gewünscht, dass Sexualität weniger ein Tabu gewesen wäre!" "Ich hätte mir mehr Privatsphäre gewünscht." "Durch die fehlende sexuelle Bildung habe ich mir vielleicht auch falsche Gedankenmuster aufgebaut (z.b. zu Männern)" Frage 3 Schön wäre, (Wünsche an Institutionen, Schulen Fachpersonen, Betreuer...)..., wenn Selbstbestimmung selbstverständlich wäre.
("wenn du keinen Tampon verwenden kannst, kannst du auch keinen GV haben." - Aussage gegenüber einer erwachsenen Frau im Rollstuhl)..., wenn wir Unterstützung beim Entscheid für Elternschaft erfahren können! Von Aussen (Ärzte, Fachpersonen) kommt nur Druck, den man zusätzlich aushalten muss..., es gäbe mehr GynäkologInnen mit Erfahrung und der technischen Einrichtung für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen und die auch genügend Zeit einplanen...., wenn ich mich nicht ständig rechtfertigen müsste. "..., wenn wir schon früh darin gestärkt würden, für unser Recht einzustehen (mich traue, mein Recht einzufordern)" Die Geschichte der menschlichen Sexualität ist zugleich die Geschichte ihrer Unterdrückung (Ussel, sexualhistorische Studie, 1979) J. Walter formuliert in seinem Buch Sexualbegleitung und Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen folgende Standards der Verwirklichung sexueller Selbstbestimmung 1. Das Recht auf individuelles Sexualleben und eigene Intimsphäre. 2. Das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit -Schutz vor sexuellen Übergriffen 3. Das Recht auf Sexualpädagogik und Sexualberatung 4. Das Recht auf Sexualassistenz 5. Das Recht auf eigene Kinder 6. Das Recht auf Eigensinn
Unterstützende Aspekte, damit sexuelle Selbstbestimmung im Alltag tatsächlich gelebt und umgesetzt werden kann: Selbsthilfegruppen, in denen Mädchen und Frauen sich stärken, ermutigen austauschen und erfahren, dass sie nicht alleine da stehen mit ihrer Problematik (z.b. den richtigen Partner zu finden) Stärkung des Selbstvertrauens und der Selbstbehauptung, damit Frau sich traut sexuelle Selbstbestimmung einzufordern und zu leben. Die Möglichkeit zu haben sich aktiv mit Lebensgeschichten von Personen in ähnlichen Situationen auseinanderzusetzen (Filme, Bücher) Die auftauchenden Probleme nicht alle der Behinderung anzulasten- auch Menschen ohne Behinderung haben Probleme mit ihrer Sexualität oder Partnerschaft. So normal wie möglich Es gibt nicht die Sexualität und es gibt nicht den behinderten Menschen, sondern es gibt die individuell gelebte Sexualbiografie. Literatur Ussel, J. van /1979): Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Giessen Walter, J. Hrsg. (2008): Sexualbegleitung und Sexualassistenz bei Menschen mit Behinderungen. Heidelberg: Edition S