S II A Anthropologie Beitrag 10 Freiheit eine Illusion? 1 Freiheit eine Illusion? Eine Unterrichtseinheit zur Kontroverse zwischen Hirnforschung und Philosophie Matthias Bauer, Köln Lässt sich Freiheit im Kernspintomographen entdecken? Klasse: 10 12 Dauer: 9 Stunden + 2 Stunden Lernerfolgskontrolle Arbeitsbereich: Anthropologie / Freiheit und Determination Bild: picture-alliance / Bildagentur-online / PWI-McPhoto. Rasante Fortschritte in der Hirnforschung erschüttern unser traditionelles Menschenbild. Willensfreiheit, so prominente Hirnforscher, ist nur eine Illusion. Ihres Erachtens sind unsere Handlungen durch neuronale Prozesse des Gehirns determiniert. Begriffe wie Selbstbestimmung, Moral, Verantwortung und Schuld verlören damit ihren Sinn. Lässt sich Freiheit philosophisch noch plausibel erklären? Oder hat die Hirnforschung Recht? Welche Konsequenzen hätte dies für unser Menschenbild? Ziel dieses Beitrages ist es, den Schülerinnen und Schülern zentrale Ergebnisse und Positionen der Hirnforschung zu vermitteln und gemeinsam die Konsequenzen für unser Selbstverständnis zu diskutieren. Mit Hilfe aktueller philosophischer Theorien hinterfragen sie anschließend kritisch den Geltungsanspruch der Neurowissenschaftler.
S II A Anthropologie Beitrag 10 Freiheit eine Illusion? 7 Materialübersicht Stunde 1 M 1 (Bd / Fo) Freiheit oder Fremdbestimmung? Frei oder fremdbestimmt? Unser Bild vom Menschen Stunde 2 und 3 Der freie Wille ist eine Illusion das Menschenbild der Hirnforscher M 2 (Bd/ Fo) M 3 (Ab/ Tx) M 4 (Tx) Stunde 4 und 5 Die Hirnforschung ein Angriff auf unser Menschenbild? Sind wir nur Marionetten? Die Libet-Experimente Gerhard Roth: Willensfreiheit ist eine Illusion Was, wenn es keine Freiheit gäbe? M 5 (Ab) M 6 (Tx) Was, wenn es keine Freiheit gäbe? Ein Gedankenexperiment Therapie statt Strafe? Die Folgen für unser Rechtssystem Stunde 6 und 7 Kann die Neurobiologie über Freiheit reden? Die Philosophie und der Deutungsanspruch der Hirnforscher M 7 (Bd) Lässt sich Freiheit im Kernspintomographen entdecken? M 8 (Tx) Können Neurobiologen über Freiheit reden? Der Streit zwischen Hirnforschung und Philosophie a) Gruppe 1: Gerhard Roth b) Gruppe 2: Peter Bieri M 9 (Tx) Michael Pauen: Die Libet-Experimente widerlegen die Willensfreiheit nicht Stunde 8 und 9 Lässt sich der Freiheitsbegriff philosophisch retten? Der Kompatibilismus M 10 (Tx) M 11 (Tx) Stunde 10 und 11 M 12 (Tx) Peter Bieri: Der absolut freie Wille ein Alptraum Michael Pauen: Freiheit als Selbstbestimmung Lernerfolgskontrolle Klausurvorschlag Abkürzungen Ab = Arbeitsblatt, Bd = Bild, Fo = Folie, Tx = Text
8 Freiheit eine Illusion? A Anthropologie Beitrag 10 S II M 1 Frei oder fremdbestimmt? Unser Bild vom Menschen Mein Titel: Bild: akg-images / Marion Kalter. Bild: akg-images. Puppentheater-Museum-Berlin. Mein Titel: Aufgaben (M 1) 1. Formulieren Sie für jedes der beiden Bilder einen Titel. 2. Erläutern Sie, welche Auffassung von Freiheit Ihrer Meinung nach in den beiden Bildern jeweils zum Ausdruck kommt. 3. Wählen Sie dasjenige Bild aus, das Ihrer Auffassung von Freiheit am nächsten kommt. Schreiben Sie eine Geschichte, ein Gedicht oder einen Aphorismus dazu. 4. Diskutieren Sie mit Ihrem Partner / Ihrer Partnerin: Ist der Mensch frei oder wird er in seinem Verhalten von inneren bzw. äußeren Faktoren bestimmt? Sammeln Sie Argumente für Ihre Position und fassen Sie anschließend Ihre Konzeption in wenigen Sätzen prägnant zusammen. 5. Präsentieren Sie Ihre Ergebnisse im Plenum und vergleichen Sie diese anschließend.
S II A Anthropologie Beitrag 10 Freiheit eine Illusion? 11 M 2 Die Hirnforschung ein Angriff auf unser Menschenbild? Die Zeitschrift Gehirn und Geist publizierte 2003 folgendes Dossier: Bild: Gehirn & Geist Dossier 1 / 2003. Angriff auf das Menschenbild. Aufgaben (M 2) 1. Erläutern Sie die Aussageabsicht des vorliegenden Titels. 2. Inwiefern könnte die Hirnforschung unser traditionelles Menschenbild infrage stellen? Begründen Sie Ihre Meinung.
12 Freiheit eine Illusion? A Anthropologie Beitrag 10 S II M 3 Sind wir nur Marionetten? Die Libet-Experimente Die Gehirnforschung macht rasante Fortschritte bei der Erforschung unserer neuronalen Grundlagen. Zunehmend gerät dabei auch die Frage in den Blick, ob und inwieweit unsere Willensfreiheit durch neuronale Aktivitäten des Gehirns determiniert ist. Diese Frage suchte der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet in den 1980er-Jahren experimentell zu beantworten. Sein Ziel war es, die Willensfreiheit empirisch zu beweisen. Das Ergebnis war jedoch für ihn verblüffend. Es sorgte in Wissenschaft, Philosophie und Öffentlichkeit gleichermaßen für Aufsehen. Lesen Sie, was er herausfand. Libet versuchte den zeitlichen Zusammenhang zu bestimmen, der zwischen der bewussten Entscheidung zu einer Bewegung und der Einleitung dieser Bewegung auf der neuronalen Ebene besteht. Zu diesem Zweck maß er das [ ] Bereitschaftspotenzial. [ ] 5 10 15 20 Libets Versuchspersonen hatten die Aufgabe, ihre Hand bzw. einen Finger zu einem beliebigen Zeitpunkt zu bewegen und sich dabei gleichzeitig mit Hilfe einer schnelllaufenden Uhr den Moment zu merken, an dem sie den bewussten Drang [ ] zu dieser Bewegung verspürt hatten. Dieser [ ] wurde von Libet gleichgesetzt mit der bewussten Intention bzw. Entscheidung. Libet verglich dann den Zeitpunkt, der von den Versuchspersonen für das Auftreten dieses Drangs angegeben wurde, mit dem Zeitpunkt, zu dem das Bereitschaftspotenzial einsetzte. Es stellte sich heraus, dass das [ ] Bereitschaftspotenzial bei einfachen Handlungen etwa 550 Millisekunden vor der Ausführung der Handlung einsetzt. Dagegen trat die bewusste Entscheidung [ ] sich zu bewegen, erst ca. 200 Millisekunden vor der Handlung auf. Das Gehirn scheint daher mit der Vorbereitung einer einfachen Handlung ca. 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung zu beginnen. [ ] Natürlich interessieren hier nicht die zeitlichen Abläufe, sondern die kausalen Abhängigkeiten. Genauer gesagt, soll geklärt werden, wodurch unser Handeln bestimmt wird: Ist es der bewusste Wille oder sind es neuronale Prozesse, die unserem Bewusstsein und unserem Einfluss entzogen sind? Auf den ersten Blick scheinen Libets Experimente diese Frage eindeutig zu beantworten: Der bewusste Wille scheint erst zu einem Zeitpunkt ins Spiel zu kommen, zu dem die relevanten Schritte zur Einleitung der Bewegung bereits durch das Gehirn vollzogen worden sind. Auch wenn es uns aus der Perspektive der ersten Person erscheinen mag, als könnten wir unsere Handlungen bewusst steuern: In Wirklichkeit liegt schon längst fest, was wir tun werden, wenn wir unsere bewusste Entscheidung fällen. 25 Diese Entscheidung wäre also nur die Begleiterscheinung eines Prozesses, der von unbewussten neuronalen Aktivitäten gesteuert wird, ja vermutlich wird die Entscheidung selbst durch diese Prozesse gesteuert. Wir als rationale Akteure mit unseren Wünschen, Überzeugungen und Bedürfnissen haben keinen wirklichen Einfluss auf unser eigenes Handeln. Text: Pauen, Michael: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 197 199. Bereitschaftspotenzial Vorbereitung der Handlung bewusste Entscheidung Bewegung 550 mms 350 mms 200 mms
24 Freiheit eine Illusion? A Anthropologie Beitrag 10 S II M 8 Können Neurobiologen über Freiheit reden? Der Streit zwischen Hirnforschung und Philosophie Der Anspruch der experimentellen Hirnforschung, die Unfreiheit des Menschen herleiten zu können, stößt bei Philosophen auf heftigen Widerspruch. So kam es in den letzten Jahren zu einer lebhaften Debatte in den Medien, in der es immer auch um die Frage ging, welche Disziplin für das Thema Freiheit zuständig ist. Als Beispiel für diese Kontroverse dienen die beiden folgenden Texte. Gruppe 1 a) Gerhard Roth: Das Bewusstsein lässt sich naturwissenschaftlich beschreiben 5 10 Man kann auch mit empirischen Methoden die Binnenstrukturen dieser internen mentalen Zustände [die nur aus der 1. Person-Perspektive erfahrbar sind,] untersuchen. Es zeigt sich dabei, dass die Abfolgen unserer Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Gefühle keineswegs regel- und gesetzlos sind, sondern hochgeordnet, wenngleich sehr komplex. Die hier herrschenden Gesetze sind freilich von anderer Art als diejenigen, die in der Festkörperphysik oder der Biochemie herrschen, ohne dass sie die physikalischen Grundgesetze verletzen. Man kann deshalb von einer partiellen Eigengesetzlichkeit von Geist und Bewusstsein ausgehen, ohne auf den Gedanken der Einheitlichkeit der Natur zu verzichten. Dies trifft genauso für viele andere Bereiche physikalischer Phänomene zu. Geist fügt sich in die Natur, er sprengt sie nicht. Was also sind denn aus naturwissenschaftlicher Sicht Geist und Bewusstsein? Man kann sie ohne Widerspruch als physische Zustände auffassen. Um dies tun zu können, genügt es nachzuweisen, (1) dass sie mit anderen physischen Zuständen wechselwirken, (2) dass dies im Rahmen der bestehenden Gesetze der Physik geschieht und (3) dass nirgendwo Phänomene auftauchen, die diesen Gesetzen eklatant widersprechen. 20 15 Hiermit ist der Umstand voll verträglich, dass Geist und Bewusstsein eine Menge Eigentümlichkeiten aufweisen, die andere physische Zustände und Vorgänge nicht haben. Solche Eigengesetzlichkeiten finden sich in allen Bereichen der Physik, der Chemie und insbesondere der Biologie. Es wird dementsprechend eine große Aufgabe der Naturwissenschaften sein, eine Physik [ ] des Geistes zu formulieren. Text: Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. S. 253.