THEORIE FRÜHKINDLICHER BINDUNGSSTÖRUNGEN WORKSHOP FÜR HEBAMMEN UND ÄRZTE DR MED JÖRG LANGLITZ KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN EUREGIO-KLINIK

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Transkript:

THEORIE FRÜHKINDLICHER BINDUNGSSTÖRUNGEN WORKSHOP FÜR HEBAMMEN UND ÄRZTE DR MED JÖRG LANGLITZ KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN EUREGIO-KLINIK NORDHORN

John Bowlby (1907-1991) Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet

Entwicklungspsychologische Grundlagen In der frühen Kindheit werden nahezu alle Erfahrungen durch die Eltern vermittelt und gesteuert Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind gleichermaßen physisch und psychologisch auf elterliche Fürsorge angewiesen Bindung ist für das Leben so grundlegend wie Luft zum Atmen und Ernährung Die emotionale Bindung sichert das Überleben und die Entwicklung des Säuglings

Entwicklungspsychologische Grundlagen Ein Säugling entwickelt im Verlauf des ersten Lebensjahres eine oder mehrere enge Bindungen zu nahestehenden Bezugspersonen - sicherer emotionaler Hafen Bindungen sind dauerhaft und dyadisch Durch Angst und Trennung wird das Bindungsbedürfnis aktiviert Durch Zuwendung und Nähe einer Bezugsperson wird dieses beruhigt

Entwicklungspsychologische Grundlagen Das Bindungsbedürfnis steht im Wechsel mit dem Erkundungsbedürfnis Funktion und Struktur des sich entwickelnden Gehirns wird positiv oder negativ von sozialemotionalen Beziehungserfahrungen beeinflusst Emotionale Sicherheit bei Stress Oder (massive) neurobiologische Folgen

Entwicklungspsychologische Grundlagen Übererregter Säugling kann sich durch zuverlässigen und wiederholten Trost regulieren Leicht irritierbarer Säugling kann Eltern überfordern und inadäquates und verzögertes Verhalten bewirken

Entwicklungspsychologische Grundlagen Trennung, unvertraute Situation, (körperliche und emotionale) Überforderung Führt zu Belastetheit und Verunsicherung (HF- Anstieg) Bindungsperson Entlastung und Interesse an Erkundung (Absinken der HF)

Mary Ainsworth (1913-1999) Die Fremde Situation Erfassung der individuellen Qualität der Bindungsbeziehung zwischen Kleinkind und Bezugsperson

Bindungstheoretische Annahmen Individuelle Unterschiede in der Organisation von Bindung (Strategien) Sicher (ca. 70%) Unsicher-vermeidend (20%) (Cortisolspiegel!) Unsicher-ambivalent (10%) Stellen Strategien im Umgang mit Belastung und emotionaler Verunsicherung dar

Bindungstheoretische Annahmen Kernannahme der Entwicklung unterschiedlicher Bindungsqualitäten ist der Einfluss elterlicher Feinfühligkeit Bedingung und Voraussetzung für aktuelle Befindlichkeit und Entwicklung positiver sozialemotionaler Kompetenzen und positiver Selbstwerteinschätzung (SGL, KK, VS,S)

Feinfühligkeit Die Bezugsperson muss die Signale des SGL wahrnehmen, verstehen, angemessen und prompt reagieren Sprachliche Interaktion, Blickkontakt, Berührung Die Entwicklung unsicherer und sicherer Bindungen bei Kindern resultieren aus unterschiedlichen Erfahrungen emotionaler Unterstützung und Verfügbarkeit

Hochunsichere Bindung Fehlende Anpassungsstrategien bei Kleinkindern (Desorganisation) Bizarres Verhalten gegenüber der Bezugsperson Rasch wechselnd, Nähe / Abstand, Ignorieren der Bindungsperson, stereotypische motorische Bewegungen, Freezing, Trance, aggressive Affektausbrüche, Wut, Selbstverletzung Risiko für eine beginnende Psychopathologie

Hochunsichere Bindung Möglicher Entwicklungsgang: Furcht vor der Bindungsperson (direkt ängstigende Interaktionserfahrung) Furcht der Bindungsperson (indirekte Auswirkung elterlicher traumatischer Beziehungserfahrung) Daraus resultiert ein Konflikt zwischen Bedürfnis nach Sicherheit und Furcht vor ihr

Bindungsstörungen nach ICD 10 Eine Bindungsstörung ist eine fixierte frühe Psychopathologie

Reaktive Bindungsstörung Übermäßig ängstliches und wachsames Verhalten Widersprüchliches oder ambivalentes Verhalten Furchtsamkeit, Rückzugsverhalten oder aggressives Verhalten gegen sich und andere Vermeidend und massiv gehemmt

Bindungsstörung mit Enthemmung Diffuse bzw. mangelnde exklusive Bindungen Nähe und Trostsuche unterschiedslos gegenüber vertrauten und fremden Personen, aggressiv, anklammernd, emotional flach, oberflächlich und wenig emotional bezogen Wenig modulierte, distanzlose Interaktionen mit Fremden

Bindungsstörungen Ambulanz, 12mo Kind steht neben Mutter, Untersucherin betritt Raum, Tisch, Kind wimmert einmal, wendet sich ab, lehnt mit Stirn an der Wand, Augen weit aufgerissen, ängstlich abgewandt 4 jähriger Junge, Commotio, stationäre Aufnahme, fügt sich, reagiert nicht auf Abschiedsumarmung der Mutter, fragt auch danach nicht nach seinen Eltern, schnell vertraut mit der Schwester, umarmt sie und fragt sie, ob sie jetzt seine Mutter sei

Diagnostik Wenig spezifisch Bisher angewandt vor allem auf Kinder mit schwerer Vernachlässigung (Deprivation) und/oder früher Misshandlung Bindungs-Trauma-Anamnese Fremde Situation ( 12-19 Monate) Trennungstest für Vorschulkinder (2-6 Jahre) Puppenspiel (3-12 Jahre) Verhaltensbeobachtungen als Minimalstandard

Diagnostik Allgemeiner Entwicklungsverlauf, Bindungsverhalten, Betreuungsgeschichte, Dritt-Quellen: Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, Haus-Kinderärzte, andere Erkrankungen bedenken und abklären, Kindeswohlgefährdung und Misshandlung, Sorgerechtssituation, Bezugspersonenwechsel, Komorbidität wie hyperkinetische Störungen und Angststörungen, Intelligenzminderung, posttraumatische Störungen etc..

Therapie Emotional zuverlässige und konstante Bindungsperson Förderung der Eltern-Kind-Interaktion möglichst mit standardisierten Programmen Begleitende Elternarbeit Weitergehende psychotherapeutische Maßnahmen wenn eine emotionale Stabilisierung durch die Etablierung einer stabilen Beziehung und begleitender Elternarbeit erreicht ist CAVE: Keine Therapie bisher hinreichend erfolgreich

Prognose Eher ungünstige Prognose Bindungsstörung mit Enthemmung führt häufig zu Persönlichkeitsstörungen im späten Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter Datenlage nicht gut!

Prävalenz Unklar Weniger als 1% auf der Basis von Häufigkeiten von Misshandlung und Vernachlässigung Risikogruppen: 25% der Kinder aus Pflegefamilien, 10% der Heimkinder Ca. 40% der misshandelten und vernachlässigten Kinder

Zentrale Merkmale Kein persönlich bezogenes Bindungsverhalten Verletzung der grundlegenden Organisation des Bindungssystems: keine Nähe und Kontaktsuche zur Bindungsperson in einer belastenden, ängstigenden Situation

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit