Die Kräfte müssen konzentriert werden

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Transkript:

Band 10. Ein Deutschland in Europa 1989 2009 Eine schlagkräftige europäische Verteidigung? (28. Dezember 1999) Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien stellten die Leistungsfähigkeit einer europäischen Verteidigung ernsthaft in Frage. Lothar Rühl, ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium, analysiert die Schwächen der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Er plädiert für eine Modernisierung der europäischen Streitkräfte, um künftig gemeinsam mit den USA, aber auch unabhängig von den USA, strategisch-militärische Aufgaben übernehmen zu können. Die Kräfte müssen konzentriert werden Ein Eurokorps Machart Nato light oder Entlastung für Amerika in internationalen Krisen durch europäische Schlagkraft? Die jüngsten Beschlüsse der EU und die Planungsfluchtlinien für die Aufstellung eines europäischen Eingreifkorps von 50 000 bis 60 000 Mann werden offiziell als Schritt in die richtige Richtung militärischer Handlungsfähigkeit Europas gewürdigt. Dies geschieht auch bei der Nato in Brüssel und in Washington. Aber stimmt die 1999 eingeschlagene Richtung mit den Realitäten im Bündnis und an der risikoreichen Peripherie Europas überein? Werden die künftigen europäischen Krisenreaktionskräfte zur Bewältigung größerer Spannungskrisen und im Falle einer Eskalation zur Beendigung bewaffneter Konflikte höherer Intensität ausreichen? Wie sollen sie mit amerikanischen Streitkräften operativ zusammenwirken können, wenn europäische Aktionen in den Grenzen der Petersberg-Aufgaben für die WEU von 1992, die nach den EU- Beschlüssen von 1999 den Rahmen für solche Einsätze und die Maßstäbe für die Fähigkeiten von EU-Streitkräften setzen, nicht ausreichen sollten wenn also Nato-Einsätze mit amerikanischen Kräften nötig würden wie in Bosnien und im Kosovo? Die EU-Partner werden die Antworten auf solche Fragen nach der Nützlichkeit ihres Vorhabens als Nato-Verbündete geben müssen. Denn ihre Streitkräfte müssen bündnisverwendungsfähig, operativ kompatibel mit den amerikanischen Streitkräften nicht nur in Europa, sondern auch außerhalb Europas in größerer Distanz von ihren Heimatbasen sein, damit sie wirksam eingesetzt werden und einen der Bedeutung Europas in der Allianz angemessenen Anteil an der Last schultern können. Die amerikanischen Sorgen, Zweifel und Vorbehalte wurden bald nach der EU-Gipfelkonferenz von Helsinki wieder deutlich: Welchen Weg schlägt Europa wirklich ein? Und wohin wird er die 1

EU im Zuge ihrer künftigen Erweiterungen führen? Wird die EU die Kraft und die militärischen Mittel aufbringen, um den erweiterten, politisch zu organisierenden Wirtschaftsraum in Osteuropa auch zu decken? Diese Frage muss Washington beschäftigen, weil im Notfall amerikanische Macht die europäischen Defizite wird kompensieren müssen. Vizeaußenminister Talbott erinnerte in Brüssel Mitte Dezember die europäischen Nato-Partner daran. Umso stärker das amerikanische Drängen, die knappen Mittel beim Aufbau von EU-Militärkapazitäten nicht der Nato zu entziehen. Die Sorge wird von den Bündnisautoritäten in Brüssel umso mehr geteilt, als das Baltikum in Nordosten außerhalb der Nato liegt, aber in das Bündnis strebt wie bisher sieben Balkan-Länder, von denen drei vom Kosovo-Krieg unmittelbar als Nachbarn betroffen wurden. Nordeuropa bleibt eine Zwischenzone des Übergangs in eine russische Interessensphäre, und im Südosten wird der strategische Verbündete Amerikas an der Grenze zwischen Europa und Asien, die Türkei, in absehbarer Zukunft nicht Mitglied der EU werden. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa wird ohnehin die politische Verantwortungssphäre der EU in Richtung auf die Ukraine und das Schwarze Meer erweitern, womit auch der Kaukasus über den westeuropäischen Horizont rückt und die Reibungsfläche zu Russland sich vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer verbreitert. Wie aber soll jemals eine wirksame europäische Verteidigung oder auch nur eine militärische Krisenbeherrschung im Südosten oder im östlichen Mittelmeer zur Levante hin Realität werden ohne die aktive Mitwirkung der Türkei? Wird Europa die Vereinigten Staaten künftig militärisch für seine Sicherheit mehr in Anspruch nehmen, weil die eigenen Kräfte immer weniger ausreichen, um die europäischen Ambitionen zu tragen, oder kann die EU im Bündnis Amerika militärisch entlasten? Nicht eine Hilfskraft für Randfälle wird gebraucht Entlastung vor allem sucht Amerika für die nahe Zukunft durch militärische Mitwirkung europäischer Partner auch außerhalb Europas für internationale Sicherheit durch ein Potenzial, das ins Gewicht fällt. Washington sucht eine europäische Kraft an seiner Seite im Brennpunkt des Geschehens einer Krise, aber keine marginale Hilfskraft für Randfälle und leichtere Aufgaben. Solange die europäischen Nato-Partner mit sechzig Prozent des amerikanischen Verteidigungshaushalts und mehr Truppen, als Amerika weltweit unter den Fahnen hat, nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der operativen Fähigkeiten der amerikanischen Streitkräfte im Kampfeinsatz aufbringen können, solange die amerikanischen Kampfflugzeuge wie 1999 über Serbien mit dem Kosovo fünfundachtzig bis neunzig Prozent aller Luftangriffe ausführen müssen, solange neunzig Prozent aller technischen Hauptsysteme für strategische Aufklärung, Luftraumkontrolle, satellitäre Kommunikation, Ortung am Boden und Informationsverarbeitung der Nato (wie in Bosnien 1995 bis 1998 für die Ifor/Sfor) bei den Vereinigten Staaten liegen, so lange wird weder in der Nato noch außerhalb eine ungefähre Balance des militärischen Engagements möglich sein. Wenn aber der französische Verteidigungsminister Richard von einem langfristigen Gleichgewicht in der Allianz als Folge der militärischen Erstarkung der EU in der Rolle eines selbständigen Akteurs auf der internationalen Bühne spricht, dann bedarf ein solcher Satz der Ergänzung: Es geht um Kräftekonzentration auf die schwereren Aufgaben, nicht auf die 2

leichteren. Hier liegt der Prüfstein für europäische Handlungsfähigkeit in ernsten Krisen, solchen mit großem Eskalationspotenzial und hohem Konfliktrisiko, etwa in Jugoslawien 1991 bis 1992, als Europa wie Amerika vor der militärischen Konfrontation zurückscheuten und den eskalierenden Konflikt bis 1995 sich selber überließen. Mehrere europäische Länder, darunter fast alle EU-Staaten (auch Deutschland seit 1994), allen voran Frankreich und Britannien, beide jeweils mit Truppenkontingenten einer Grosse schwankend um die 10 000, waren an der nahezu wehrlosen UN-Schutztruppe in Bosnien beteiligt, die meist von europäischen Generalen befehligt wurde. Die meisten europäischen Kontingente, so das französische, hatten nicht einmal gepanzerte Transporthubschrauber zur Truppenverlegung über dem Gefechtsfeld; sie konnten darum weder Srebrenica noch Tuzla oder Gorazde gegen die serbische Boden-Flugabwehr erreichen: Die westliche Luftüberlegenheit mit Jagdbombern konnte dafür so lange nicht zur Geltung kommen, wie die UN keine Luftangriffe freigaben. Leichte europäische Bodentruppen wären dazu nicht fähig gewesen, geschweige denn zu den Offensiven, mit denen im Sommer 1995 die Kroaten und Bosniaken den bosnischen Serben die ersten schweren Niederlagen beibrachten und die strategische Wende im bosnischen Krieg herbeiführten, damit der späteren alliierten Intervention erst den Boden bereiteten. Auch die Nato-Luftstreitkräfte hätten diese Wende in den elf Tagen ihrer Luftangriffe auf serbische Ziele in Bosnien nicht allein erzwingen können. 50 000 bis 60 000 Soldaten zur Krisenbeherrschung im Einsatz erfordern eine ebenso große Reserve in Bereitstellung zur Ablösung nach vier bis sechs Monaten, also wenigstens 120 000 Mann als Verfügungstruppe, dazu die geeigneten Transportmittel und eine bewegliche Logistik zur nachhaltigen Unterstützung auch aus der Luft und über See. Dazu müssten die EU-Partner für ihr geplantes Krisenreaktionskorps gemeinsame Materialdepots und eine zentrale Logistiksteuerung, gemeinsame Haushaltsmittel und Transportkapazitäten mit technischer Arbeitsteilung aufbauen. Standardisierung des Geräts und der Munition für uneingeschränkte Interoperabilität ist eine Voraussetzung, zumal 300 bis 500 Kampfflugzeuge vorgesehen sind: Ohne die Nato-Standardisierung wird dafür keine Interoperabilität möglich sein. Dabei müssen Schnittflächen mit der Technik und Logistik der amerikanischen Streitkräfte geschaffen und erhalten werden, schon um die früher erreichte Nato-Standardisierung in Europa nicht weiter abzubauen. Hier ist insbesondere Frankreich gefordert, das noch immer außerhalb der Nato- Militärkooperation verharrt. Wenn sie militärisch in der EU mitwirken wollten, müssten Schweden, Finnland, Österreich und Irland sich in einen weiteren Nato-Rahmen für operative Verfahren, Standardisierung der Ausrüstung, Interoperabilität ihrer Truppen, für eine kompatible Kommandostruktur der Nato einordnen und anpassen, so wie dies in Bosnien in der Sfor und im Kosovo in der Kfor schon im Ansatz versucht wird. Die EU braucht Eingreifkräfte, die notfalls auch ohne Mitwirkung der amerikanischen und ohne Einsatz des großen Nato-Apparates eskalationsfähig auf einem Konfliktschauplatz sind. Die weniger kritischen militärischen Missionen können dann mit weniger militärischen Mitteln erfüllt werden, solange die abschreckende Kraft sichtbar einsatzbereit in Reserve bleibt. Es gilt der französische Erfahrungssatz: Wer mehr kann, kann auch weniger. Nur so könnte die von Nato- 3

Generalsekretär Robertson im Dezember 1999 in Brüssel erhobene Forderung, das militärische Ungleichgewicht zu den Vereinigten Staaten zu korrigieren, von den Europäern wirklich erfüllt werden. Aber auch die von Washington mit Nachdruck in Brüssel erhobene Forderung nach dem Aufbau eines Flugkörperabwehrsystems der Nato für Europa zur Abschirmung gegen das wachsende Raketenangriffspotenzial etwa im Mittleren Osten, das der Nordatlantikrat schon im November 1991 als neues Risiko identifizierte, müsste in Nato-Europa, also von den EU- Partnern, endlich ernst genommen werden. Davon kann auch nach der Brüsseler Außenministertagung noch nicht die Rede sein. Noch weit entfernt von der notwendigen Modernisierung Die gemeinsamen Planungsansätze der wichtigsten EU- und Nato-Partner sind noch immer weit von der notwendigen Modernisierung und Korrektur entfernt. Es ist nicht einmal sicher, dass die Planung wirklich in die richtige Richtung geht. Die derzeitigen Etat- und Programmplanungen in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, um nur die größeren Kontinentalstaaten der EU zu nennen, weisen die Kennzeichen einer materiellen, waffentechnischen und damit qualitativen Stärkung noch nicht auf. Die französischen Ansätze für Kampfpanzer und Kampfhubschrauber wurden in den vergangenen Etatjahren gegenüber der ursprünglichen Finanzplanung 1997 bis 2002 insgesamt etwa halbiert. Das Projekt eines deutsch-französischen oder europäischen Kampfpanzers wurde eben in Paris zu den Akten gelegt. Die Kosten der Umstellung auf eine Freiwilligenarmee haben sich als weitaus höher erwiesen als geschätzt. Die Hindernisse für eine dauernde europäische Kapazität der Satellitenaufklärung und deren Auswertung sind trotz der französischen Helios -Satelliten unverändert. Die jüngsten EU-Verabredungen über strategische Aufklärung und strategischen Lufttransport (an dem es gleichfalls mangelt) benötigen für ihre Verwirklichung Finanzmittel in zweistelliger Euro-Milliarden-Höhe, wenn neue, moderne Systeme beschafft statt nur ältere, vorhandene gemietet oder gemeinsam von den EU-Partnern genutzt werden sollen. Moderne Informations- und Kommunikationstechnik müsste gemeinsam beschafft werden. Dasselbe gilt für moderne zielsuchende Munition und Abstandswaffen, an denen es im Kosovo-Krieg den europäischen Kampffliegern am meisten fehlte, von Marschflugkörpern nicht zu reden. Welche Munitions- und Waffenvorräte sollen für die Zukunft in Europa gemeinsam angelegt werden? Welche europäischen Fabrikationen sollen sie produzieren? Welche Ersatzteilbewirtschaftung nimmt man sich in Europa im EU-Rahmen innerhalb der Nato vor? Zu welcher praktischen Arbeitsteilung soll es zwischen EU- und Nato-Partnern kommen? Eine EU-Krisenreaktionstruppe, gleich ob mit 50 000 oder 60 000, müsste auch als ein operativer Großverband eingesetzt werden können, wenn dies einmal notwendig werden sollte. Zwei Monate Vorbereitungszeit ist eigentlich schon zu lang, denn Krisen können schneller eskalieren, Konflikte schon beendet sein, bevor diese Frist abläuft. Im Kosovo-Krieg wurden im Mai 1999 zwei bis drei Monate für die Heranführung größerer amerikanischer Truppenverbände zu offensivem Kriegseinsatz veranschlagt, europäische standen dafür ohnehin noch immer nicht in ausreichendem Umfang bereit (die britische Armee war schon zu mehr als vierzig Prozent für 4

Einsätze disloziert). General Clark sah mindestens fünfzig Prozent amerikanischer Bodentruppen für einen Nato-Landkrieg vor, um die notwendige operative Fähigkeit zu haben. Das ist die europäische Achillesferse, von Washington erkannt: Die waffen- und informationstechnische Entwicklung hat schon die individuelle Ausrüstung der Soldaten (etwa für den Nachtkampf), die Struktur der Kampfgruppen wie die Aufklärung und Ortung im Gelände erfasst. In Amerika werden kleine und kleinste Trupps größerer Gefechtsreichweite und operativer Autonomie konzipiert (was für das Pentagon wirklich eine militärische Revolution ist). Wenn die Europäer mit ihren knappen Mitteln und plethorischen Truppenzahlen sich nicht auf diesen harten Kern konzentrieren, werden sie den Anschluss, die Orientierung und damit die Zukunftschancen militärischer Relevanz in Krisen und Konflikten verlieren. Hier liegt der eigentliche Einsatz der Partie, die wirkliche militärische Herausforderung, weniger in einer politisch konstruierten Balance zu den Vereinigten Staaten im Bündnis oder in einer künstlichen europäischen Autonomie in Krisen. Die kann eine strategische nur dann werden, wenn Westeuropa technisch aufrüstet und den Umfang seiner viel zu großen Streitkräfte und älteren Ausrüstungen erheblich reduziert, dafür auch neue Strukturen des Wehrdienstes und der Truppen für schlagkräftige Armeen und Luftwaffen findet, die nur europäische sein können. Sind Frankreich und Britannien, Spanien, Italien und Deutschland dazu bereit? Quelle: Lothar Rühl, Die Kräfte müssen konzentriert werden. Ein Eurokorps Machart Nato light oder Entlastung für Amerika in internationalen Krisen durch europäische Schlagkraft?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Dezember 1999, S. 9. Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. 5