Gemeinde: Wie werden wir in Zukunft unseren Glauben leben?

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Transkript:

Gemeinde: Wie werden wir in Zukunft unseren Glauben leben? Diözesantag in Fulda, 3. Juli 2009, Dr. Hadwig Müller, MWI Aachen Lange habe ich über die Frage nachgedacht, die Sie zum Thema des heutigen Tages gemacht haben: Wie werden wir in Zukunft unseren Glauben leben als Gemeinde? Ungewissheit, Ratlosigkeit, Sorge klingen aus dieser Frage. Grund sind unabsehbare Veränderungen. Und zwar Veränderungen in unserer Gesellschaft insgesamt, keineswegs nur in unserer Kirche! Allerdings haben die Veränderungen ganz entscheidend mit der Rolle der Religion zu tun. Es ist wichtig, sich diesen Ursprung der Veränderungen klar zu machen: Früher war die Religion das Band, das die verschiedenen Lebensbereiche Familie, Beruf, öffentliches Leben, privater Bereich miteinander verbunden hatte. Politik, Ethik, Recht, Kunst, Wissenschaft und ihre Institutionen hatten alle eine gemeinsame Grundlage in der Religion. Jetzt ist die Religion nur ein Lebensbereich unter anderen, eine Institution neben anderen. Früher garantierte das Christentum die Einheit der verschiedenen Lebensbereiche; jetzt muss jeder einzelne Mensch die auseinander strebenden Bereiche seines Lebens selber zusammen bringen und ihnen einen einheitlichen Sinn geben! Damit hat das Individuum in unserer modernen Gesellschaft eine nie da gewesene Bedeutung die zuallererst eine Last ist! Dies ist auch der Grund dafür, dass heute die subjektive Dimension des einzelnen so stark im Vordergrund steht. Individualisierung und Subjektivierung wirken sich in einem radikalen Wandel aus, der viele Aspekte hat: Zeit wird zum Augenblick; Räume werden zu Durchgängen; Wahrheit wird zur Botschaft; ethische Fragen werden pragmatisch beantwortet; Glaube wird zum freiesten Teil der Freiheit; Identität wird zur Aufgabe; Leben wird zur Herausforderung. Diese Wandlungsprozesse dürfen wir genau und gelassen ansehen, mit dem bejahenden, liebevollen Blick des Schöpfers, der an jedem neuen Tag im Angesicht seiner Schöpfung staunend ausruft: ki tob wie schön! Denn IN DIESER WELT, so glauben wir, sucht Gott das Gespräch mit uns Menschen. IN DIESER WELT leben Menschen Glauben, Hoffnung und Liebe nur in anderer Weise als früher. IN DIESER WELT können wir also Zeichen dafür entdecken, wie Gott uns im Glauben unserer Mitmenschen entgegenkommt und wie wir unseren Glauben in Zukunft leben können. Drei solcher Zeichen möchte ich hier nennen: wesentliche Fragen, persönliche Suche und echte Beziehungen. *Das erste Zeichen: wesentliche Fragen. Viele unserer Mitmenschen halten sich nicht mit Randfragen auf. Ihre Fragen könnten nicht wesentlicher sein. Was heißt es, als Mann oder Frau zu leben, Mutter oder Vater zu werden? Wie kann man dem Leben, Geburt und Tod einen Sinn geben? Ein französischer Bischof war erschüttert angesichts der Fragen, die ihm Jugendliche vor der Firmung stellten: Wozu eigentlich leben? Warum soll man sich nicht den Tod geben? Wie kann man das Leben lieben, wenn es hart und ungerecht ist? Wem

2 kann man vertrauen, wenn man lieben möchte? Wieso soll man dem Leben anderer dienen, wenn diese uns gar nicht verstehen? Wenn heute die erste Frage dem Leben selber gilt nämlich: sich über Wasser zu halten in einer Gesellschaft, die immer ratloser wird und immer mehr auseinander bricht dann heißt Glauben zuerst Vertrauen. Vertrauen, dass es sich lohnt zu leben. In diesem Vertrauen suchen Menschen heute Heilung und Versöhnung. **Das zweite Zeichen: die Suche heutiger Menschen. Ihre Identität ist ihnen nicht mehr in bestimmten Rollen und Zugehörigkeiten vorgegeben; sie müssen sie selber hervorbringen eine Herausforderung besonders für die an den Rand gedrängten Menschen, die sich als fremdbestimmt und in Widersprüchen zerrissen erfahren. Sie sollen ja anpassungsfähig und flexibel in einer immer mobileren Gesellschaft sein, zugleich aber auch eigenen Stand haben. Selber müssen sie die Bezugspunkte finden, die ihre Existenz ausrichten. Hier liegt die erste Zuständigkeit von Religion und christlichem Glauben: Sie ermöglichen eine Identifizierung, die aber keineswegs zusammen geht mit der Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution. In seiner Weise zu glauben möchte jeder frei bleiben. Die Suche nach der Ausrichtung der eigenen Existenz hat etwas Nomadenhaftes. Sie bringt eine bleibende Wanderschaft mit sich, die aber keineswegs im Alleingang geschieht. ***Das dritte Zeichen: die Beziehungen. Freie, selbst gewählte und echte Beziehungen haben für unsere Zeitgenossen gerade in dem Maß Bedeutung, in dem sie unter Druck stehen, sich die Ausrichtung für ihr Leben selbst zu eigen zu machen. Zur Bestärkung wählen sie die Teilnahme in Gruppen, deren Basis durch Nähe und Kontakt gebildet wird und deren Klima der Gastfreundschaft den Konsens erleichtert. Je mehr einzelne den Glauben, durch den sie sich identifizieren, selbst bestimmen, desto mehr streben sie danach, diese Erfahrung mit anderen, die ähnliche geistliche Neigungen haben, auszutauschen. Das Wichtigste an diesem Austausch ist ihnen, dass er echt ist, eigenes Erleben mitteilt, dass er sie berührt und ihre Freiheit achtet. Zentrale Fragen nach dem Leben, persönliche Suche, freie und echte Beziehungen sind tatsächlich Zeichen dafür, wie Gott uns im Glauben unserer Mitmenschen entgegenkommt; denn sie bezeichnen Elemente, die in die Mitte unseres Glaubens gehören. Lassen Sie uns das kurz durchbuchstabieren: *Das erste Merkmal: wesentliche Fragen. Von solchen Fragen, bei denen es um das Leben selber geht, zeugen die Evangelien fast auf jeder Seite. Und sie bezeugen in denselben Zusammenhängen das tiefe Staunen Jesu angesichts des Glaubens der Menschen, die ihn aufsuchen, um geheilt und versöhnt zu leben. **Das zweite Merkmal: Suche. Dafür dass Glaube Frucht persönlicher Suche im Ringen, in Gesprächen und Begegnungen mit Fremden ist, stehen die großen Figuren der Geschichte Gottes mit seinem Volk, wie sie die Bibel bezeugt: von Abraham und Jakob, über Moses, Elia, Jeremias und Hosea bis hin zu Paulus. ***Das dritte Merkmal: freie und echte Beziehungen: Unser christlicher Glaube kann nur in solchen Beziehungen gelebt werden, denn er gilt ja einem Gott, der lebendige, Leben stiftende und Leben heilende Gemeinschaft ist, und er gibt Anteil am Leben eben dieses Gottes.

3 Welche Gemeinde ist nun ausgehend von diesen Merkmalen künftigen Glaubenslebens überhaupt möglich? Wie können die Beziehungen zu einer Gemeinschaft auf der Basis größerer persönlicher Autonomie hergestellt werden? Zuerst können wir feststellen, dass Gemeindebildung ursprünglich ausgehend von eben solchen Merkmalen, wie wir sie genannt haben, möglich war! Zentrale Fragen, die mit dem Verlangen nach Leben zu tun haben, persönliche Suche, echte Beziehungen diese Merkmale finden wir gerade in den frühen Gemeinden, so wie sie uns Christoph Müller in ihrer Vielfalt vor Augen gestellt hat. Bei Paulus wird deutlich: Mitte unseres Glaubens und Lebens als Gemeinde ist niemals ein Programm oder Konzept, sondern eine Person: Jesus Christus, der durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung die Antwort auf das Verlangen nach Leben ist. Bei Matthäus wird eine Gemeinde deutlich, die nicht durch ihre Größe überzeugt, sondern durch die Gemeinsamkeit des Betens und Handelns, auch wenn nur zwei oder drei Menschen versammelt sind. Und bei Johannes bekommt die Freiheit und Würde jedes einzelnen, der glaubend auf der Suche ist, besonderes Gewicht. Im Petrusbrief schließlich werden die Christen als Fremde unter Fremden durch ihre Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit gekennzeichnet. Wie sehen unsere Pfarrgemeinden aber gegenwärtig aus? Finden wir in ihnen diese Konzentration auf das Wesentliche, diese Wertschätzung der einzelnen Personen und diese Bereitschaft zur Kommunikation mit ihrer Gesellschaft? Sind unsere Gemeinden davon geprägt, dass Christinnen und Christen fragen, wer Christus für sie ist, in welcher Weise sein Tod und seine Auferstehung ihr Leben verändert, welche Kraft die Botschaft des Evangeliums für sie hat? Sind sie davon geprägt, dass Christinnen und Christen sich ihrer Würde als Getaufte bewusst sind und die Gaben einbringen, die sie durch die Taufe erhalten haben nämlich: den Menschen zu dienen, ihnen das Evangelium zu verkünden und mit ihnen zu beten? Sind unsere Gemeinden vor allem anderen davon geprägt, dass Christinnen und Christen Austausch und Kommunikation mit all denen suchen, die an ihrer Seite leben? Ich kann nur eine vorsichtige Vermutung äußern: An manchen Orten und zu manchen Zeiten sind unsere Pfarrgemeinden gewiss von dieser Präsenz wesentlicher Fragen, von der Wertschätzung der Getauften und ihrer Gaben als Basis allen kirchlichen Lebens und vom Engagement in Beziehungen mit den anderen der Gesellschaft bestimmt. Meistens aber herrscht wohl eine Sorge vor: wie nämlich mit rasant zurück gehenden Mitteln und Menschen die bisherige Organisation unserer Pfarreien und Gemeinden aufrecht erhalten werden kann. Diese Sorge können wir nicht ablegen wie ein Trauergewand. Aber eine alte Unterscheidung kann hilfreich sein: die Unterscheidung von historisch gewachsener Gestalt, die immer Veränderungen unterworfen ist, und bleibendem Wesen oder auch bleibender Quelle. Wir müssen von einer Gestalt von Kirche und Gemeinde Abschied nehmen, um ihre Quelle zum Fließen zu bringen, um ihrem Wesen treu zu sein. Von welcher Gestalt von Kirche und Gemeinde müssen wir Abschied nehmen? Es ist die Gestalt von Kirche, wie sie das tridentinische Konzil organisiert hat, in einem flächendeckenden System von Pfarreien, das die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit und das Leben jedes einzelnen einrahmt. Es ist die Gestalt von Gemeinde, wie sie sich seit dem tridentinischen Konzil ausgebildet hat, basierend auf der Einheit zwischen einem

4 begrenzten Gebiet und dem dort stattfindenden kirchlichen Leben, dessen Einheit wiederum der residierende Pfarrer garantiert, der die Gläubigen zur Feier der Sakramente versammelt, sie belehrt und darüber wacht, dass sie nach den Regeln und Normen der Kirche leben. Von dieser Gestalt von Gemeinde und Kirche müssen wir Abschied nehmen. Und was ist das Wesen von Kirche und Gemeinde, dem wir gerade mit diesem Abschied von einer historischen Gestalt treu sind? Was ist denn die Quelle, was ist nötig, damit die Kirche lebt? Dass der Glaube ans Evangelium verkündet wird, dass Christen ihre Weisheit und ihre praktische Liebe in den Dienst am Leben der Menschen stellen und dass sie ihre Trauer und ihre Freude im Gebet vor Gott bringen und in diesem Gebet ihren Glauben und ihre Gemeinschaft erneuern. Was zeichnet eine Gemeinde ihrem Wesen nach aus? Dass sie eine Meditation dessen ist, was uns zu Christinnen und Christen macht, sagt der Bischof von Poitiers und ergänzt: Was uns zu Christinnen und Christen macht, ist die Antwort freier Menschen auf den Ruf Gottes, eine Antwort, die Menschen über alle Unterschiede hinweg verbindet und die sie leben, indem sie für die Verkündigung des Evangeliums, für den Dienst an der Nähe zu den Menschen und für die Heiligung ihres Alltags im Gebet Verantwortung übernehmen. Gemeinden, die eine solche gelebte Antwort und Verantwortung von Christinnen und Christen sichtbar machen, werden tatsächlich seit Jahren im Bistum Poitiers gebildet und vom dortigen Bischof feierlich errichtet. Sie sind eine Realität in Ort und Zeit, keine Utopie. Ihr Schlüsselwort heißt Vertrauen. Die anfangs gestellte Frage, wie eine Gemeinde auf der Basis größerer persönlicher Autonomie der einzelnen gebildet werden kann, lässt sich mit dem Hinweis auf das Vertrauen beantworten: Vertrauen, dass Menschen einander schenken, weil Gott selber ihnen vertraut, indem er sie ruft. Die Gemeinde, als die wir in Zukunft unseren Glauben leben, ist eine Gemeinde, die sichtbar macht, dass Gott ihr vertraut. Ich möchte sie noch kurz beschreiben: durch diejenigen, die in ihr begegnen, durch ihre Prioritäten und durch die Haltungen derer, die in besonderer Weise in ihrem Dienst stehen. Wer begegnet in einer Gemeinde, die sichtbar macht, dass Gott ihr vertraut? Christinnen und Christen in einer solchen Gemeinde sind in vielleicht in dreifacher Weise erkennbar: Sie fragen nach dem Wesentlichen, sie suchen die Nähe zu anderen Menschen, und sie sind selber im Gespräch mit Gott. *Sie fragen nach dem Wesentlichen, indem sie sich selber immer wieder am Evangelium orientieren und sich seiner Botschaft vergewissern: dass Gott die Fülle guten und glücklichen Lebens für alle will. Sie verstehen ihr eigenes Leben im Licht dieser Botschaft und suchen darüber mit anderen den Austausch. **Sie suchen die Nähe zu anderen und gehen auf sie zu, weil sie davon bewegt sind, dass ihnen diese anderen fehlen! (Fragen Sie sich einmal selber, welcher Mensch, welche Menschen Ihnen wirklich fehlen!). Sie begeben sich in die Nähe der Menschen, das heißt dorthin, wo diese leben und auf der Suche sind in Glauben, Hoffnung und Liebe. Dabei gehen sie besonders auf Fremde zu, in der Hoffnung, in ihnen Gott zu begegnen, der als Fremder auf uns zukommt.

5 ***Sie sind im Gespräch mit Gott, indem sie sich Zeit nehmen, auf den Ruf Gottes zu hören, der an sie heute wie damals an Abraham ergeht. Sie üben sich im Hören, im einsamen Gebet und in der Gemeinschaft mit anderen, die ebenfalls nach Gott fragen. Sie achten das Geheimnis dessen, was zwischen Gott und ihren Mitmenschen geschieht, und bemühen sich, Zeugen des Lebens zu sein, das in diesen persönlichen Geschichten immer wieder hervorbricht. Welches sind die Prioritäten einer Gemeinde, die sichtbar macht, dass Gott ihr vertraut? Drei möchte ich nennen: dass Menschen den Zugang zu sich selber finden, dass sie sich vergegenwärtigen, welches Leben ihnen durch den Glauben ans Evangelium zuwächst, und dass sie in die Beziehungen investieren, die aus ihnen eine Gemeinschaft machen. *So wie Gottes Rufen, von dem die Bibel immer wieder erzählt, den gerufenen Menschen die Freiheit zutraut, zu antworten und dabei mehr sie selber zu werden, so ist auch beim Rufen, das durch Menschen in der Gemeinde geschieht, das Wichtigste, dass die Gerufenen einen Zugang zu sich selber finden, zu ihrer Freiheit, zu ihren Begabungen und Charismen und ihren Erfahrungen mit Glauben und Hoffen. Die Erfüllung einzelner Aufgaben ist nicht das Wichtigste! **Allen einzelnen Aktivitäten der Gemeinde voraus geht eine Herausforderung: Wird das Evangelium zu einer Kraft, die neues Leben schenkt? Wenn die getauften Christinnen und Christen Verantwortung dafür übernehmen, das Evangelium von Jesus Christus zu entdecken und weiterzusagen, Beziehungen untereinander und mit den Fremden aufzubauen, ein Leben in Gebet, Gottesdienst und Eucharistie zu pflegen, so ist ihr Ziel dabei nicht so sehr, ihre Verantwortlichkeiten möglichst gut zu erfüllen; vielmehr geht es ihnen darum, sich zu vergegenwärtigen, was ihnen selber an neuem Leben durch die Übernahme von Verantwortung in der Gemeinde zuwächst. ***Schließlich ist die erste Aufgabe des Teams, das für das Leben der Gemeinde Verantwortung übernimmt, indem es für Verkündigung, Nähe und Gebet sorgt, tragfähige Beziehungen untereinander aufzubauen und eine Quelle von Gemeinschaftsbildung in der Gemeinde zu sein. Besonders gemeinschaftsfähig sind Menschen, die sich auf der Suche wissen und einer Sehnsucht folgen. Sie denken weniger an das, was sie besitzen und vielleicht sogar als ihren Unterschied verteidigen, als an das, was ihnen fehlt und wonach sie sich voll Verlangen ausstrecken. Eine solche Haltung der Armut öffnet sie leichter für andere Menschen, die ihrerseits auf der Suche sind. Welche Haltungen gelten schließlich für diejenigen, die in besonderer Weise im Dienst der Gemeinde stehen, die sichtbar macht, dass Gott ihr vertraut? Vier möchte ich hier nennen: Öffnung für eine unbekannte Zukunft, Kultur des Rufens, Verzicht auf messbare Erfolge, Sinn für die Ungleichzeitigkeit, die zum Unterwegssein als Volk Gottes dazugehört. *Die mit dem Dienst an der Gemeinschaft beauftragt sind, wissen, dass sie Erben einer Geschichte sind, die es offen zu halten gilt für eine noch unbekannte Zukunft, und sie wissen, dass gerade ihr Glaube die Erkenntniskraft ist, die sie für die Zukunft öffnet. Das auf uns Zukommende ist ja unbekannt, weil unsere Augen nur das schon Angekommene und Bekannte sehen; wir müssen also zustimmen, nicht nur das Bekannte zu

6 sehen! Das auf uns Zukommende ist im Gegenwärtigen verborgen; wir müssen also zustimmen, das wegzunehmen, was es zudeckt und verbirgt das ist das offensichtlich Erscheinende! Das auf uns Zukommende hat immer etwas Überraschendes, Störendes an sich; wir müssen also zustimmen, uns stören zu lassen! Und was ist Glauben anders als diese Zustimmung, sich vom Bekannten und Vertrauten zu verabschieden, sich nicht vom offensichtlich Scheinenden wie den großen Zahlen blenden zu lassen und sich gerade vom Fremden überraschen zu lassen? **Die beauftragt sind, dem Aufbau der Gemeinschaft zu dienen, stehen zuerst im Dienst einer Kultur des Rufens und widmen sich später erst einer Pastoral der Aufgabenerfüllung. Sie können einen Menschen in seiner Freiheit des Antwortens wecken, indem sie ihn rufen. Ihre zentrale Aufgabe sehen sie im unterscheidenden Erkennen der Gaben eines jeden und in ihrer Wertschätzung und Anerkennung. ***Die in besonderer Weise der Kultur von Beziehungen zu dienen bereit sind, verstehen den Erfolg ihrer Mühen als Fruchtbarkeit. Sie vertrauen auf die Kraft der kleinen Anfänge, die einzelnen Menschen neues Leben schenkt, Leben in Fülle. Früchte wachsen langsam, im Verborgenen. Zuerst fragt man nach ihrem Geschmack, nicht nach ihrer Zahl. ****Schließlich setzten sich diejenigen, die ausgesandt sind, Gemeinschaft aufzubauen, nicht unter den Druck, dass alle an allen Orten gleichzeitig einem bestimmten Modell von Glauben und Gemeinde folgen müssen. Sie gestehen den Menschen und ihren Gemeinschaften ihren je eigenen Rhythmus zu. Bei der Wanderung des Volkes Gottes gehen vielleicht einige besonders Starke und Mutige den anderen voraus, andere tun sich schwerer, haben mehr Gepäck, das sie belastet, und gehen langsamer. Aber alle sind gemeinsam unterwegs.