Die Agenda des NATO-Gipfels von Warschau

Ähnliche Dokumente
ab abend Abend aber Aber acht AG Aktien alle Alle allein allen aller allerdings Allerdings alles als Als also alt alte alten am Am amerikanische

DEESKALATION STATT FORCIERTE AUFRÜSTUNG

Wortformen des Deutschen nach fallender Häufigkeit:

Auf der Flucht. 1) Warum flieht man eigentlich?

Die Außenpolitik der Europäischen Union die Meinungen in Polen und Deutschland

Umweltbundesamt in Twinning-Projekten

Umweltbundesamt in Twinning-Projekten

Europa von der Spaltung zur Einigung

Dreizehnter Kaufbeurer Dialog am

9. Anhang: EU - Russland / Ukraine / Türkei. als Mitglieder in der EU: Utopie oder realistische Alternative?

Teil 2 Gemeinsam in Europa? Was Deutsche und Polen über Europapolitik denken

BESTIMMUNGEN ÜBER DIE GEMEINSAME SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGS- POLITIK

Die Rolle der Bundeswehr in der ersten Phase der Operation Enduring Freedom

Europa à la carte? Das außenpolitische Journal

Nukleare Kompensation

Interview der Botschafterin für A1 TV aus Anlass des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes

NATO-Erweiterung nach dem Gipfel von Riga

Die türkische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ( )

Das atomare Element im Russland-Ukraine-Konflikt

Handlungsfähigkeit der EU-Sicherheitspolitik

3 Entwicklungsstufen und Modelle der europäischen Integration

ANALYSEN & ARGUMENTE

Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 bis 1993

Systeme kollektiver Sicherheit - NATO

Sicherheit für das größere Europa

Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung

Deutsch-Französische Erklärung anlässlich der Vereinbarung einer strategischen Kooperation zwischen Krauss-Maffei Wegmann und Nexter Systems

Inhaltsverzeichnis Einleitung II. III. Der Maghreb in seiner geopolitischen und geostrategischen (Welt) Bedeutung

An den Präsidenten des Deutschen Bundestages Herrn Dr. Wolfgang Schäuble Platz der Republik Berlin. Berlin, den 2.5-, 2 0 4?

Konfliktforschung I Kriegsursachen im historischen Kontext

TEMPUS IV ( ) Hochschulkooperationen mit Osteuropa, Russland und Zentralasien, dem westlichen Balkan, Nordafrika und dem Nahen Osten

Rede im Deutschen Bundestag am 08. April Jahresabrüstungsbericht 2010 Erfolgreiche Schritte zu mehr Frieden und Sicherheit

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Deutsche Außenpolitik I: Das komplette Material finden Sie hier:

Nach dem Fall der Mauer hatte ich für einen kurzen Zeitraum angenommen,

Sicherheitspolitische und strategische Aspekte eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union

Sicherheitsstrategien

Dr. Reinhard C. Meier-Walser - Lehrveranstaltungen

Konflikt oder Kooperation in Asien-Pazifik?

Vor 50 Jahren: Streit über den "Frexit"

Die Europäische Union

Kein Bündnisfall, aber ein Fall für das Bündnis

Hintergrundinformationen zum G20 Global Forum on Steel Excess Capacity. 28. November 2017

DER PATRIOT-EINSATZ AN DER TÜRKISCH- SYRISCHEN GRENZE. Fragen und antworten

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT. gemäß Artikel 294 Absatz 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Europatag 2015 Die Entwicklung der EU: Wie weit sind wir in 65 Jahren gekommen? Prof. Dr. Thomas Giegerich

Verteidigung in Europa: Mehr Strategie wagen

Die 55 OSZE-Teilnehmerstaaten Daten, Fakten, Kooperationsformen 1

Analysen & Argumente. Die NATO in Warschau. Ein Wegweiser durch die Agenda des Gipfels. Zum Mitnehmen. Patrick Keller

Hybride Bedrohungen erfordern eine hybride Sicherheitspolitik

Öffentlicher Schuldenstand*

Die Währungsunion ist krisenfester, als viele denken

Programm der Deutschen Opposition für Deutschland und Europa. Mai 1942

Partnerschaft Entwicklung Mission

Westbalkan am demokratischen Scheideweg? Aktuelle Dynamiken und Krisenherde in der Region

Russland in Europa: Annäherung oder Abschottung?

Wie die Europäische Union entstanden ist (1)

Erklärung von Hermann Gröhe, Gesundheitsminister Mitglied des Deutschen Bundestags

Positionspapier zur Sicherheitspolitik. Aktuelle Entwicklung der ESVP im Lichte des EU-Konvents. Herausforderungen für Österreich

Flüchtlinge in der EU

Führungsübung 2017 Wo stehen wir, wo wollen wir hin?

Europäische Integration

Die 56 OSZE-Teilnehmerstaaten Daten, Fakten, Kooperationsformen 1

Für Menschenrechte und Säkularisierung stehen

EUROPÄER UND AMERIKANER WÜNSCHEN SICH MEHR TRANSATLANTISCHE KOOPERATION Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung

Chronologie des Arabischen Frühlings 2011

Woche 6: Nukleare Abschreckung während des Kalten Krieges

Das Verhältnis von WEU und NATO

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Heiße Kartoffel Raketenabwehr

Sicherheit im Norden Europas

Der Neorealismus von K.Waltz zur Erklärung der Geschehnisse des Kalten Krieges

Der Hitler-Stalin-Pakt

Rede der Bundesministerin der Verteidigung Dr. Ursula von der Leyen. anlässlich des Beförderungsappells. an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg

DELEGIERTE VERORDNUNG (EU).../... DER KOMMISSION. vom

A2009/1567. Die Zukunft der europäischen Sicherheit und die Türkei - Sicherheitspolitische Stabilität und geopolitische Grenzen der Integration

Massenvernichtungswaffen und die NATO

Doppelte Solidarität im Nahost-Konflikt

BESCHLUSS Nr ZEITPLAN UND ORGANISATORISCHE MODALITÄTEN DES ZWANZIGSTEN TREFFENS DES MINISTERRATS DER OSZE. I. Zeitplan

Buseinschaltung zum Thema Deutsche Außenpolitik

DE In Vielfalt geeint DE A8-0050/5. Änderungsantrag 5 Takis Hadjigeorgiou, Barbara Spinelli im Namen der GUE/NGL-Fraktion

Russland in Europa: Kalter Krieg in den Köpfen? *

Deutscher Bundestag Drucksache 18/347. Beschlussempfehlung und Bericht. 18. Wahlperiode des Auswärtigen Ausschusses (3.

Militärstrategien von NATO und Warschauer Pakt

Nicht nur nette Nachbarn

Internationale Zusammenarbeit in Horizont 2020

Ein neues strategisches Konzept für die NATO?

Berlin, Dezember 2016

Minderheitenschutz in EU-Erweiterungsprozessen

YouGov Umfrage Türkei-Politik

Was will der Souverän?

Deutscher Bundestag Drucksache 19/1301. Beschlussempfehlung und Bericht. 19. Wahlperiode des Auswärtigen Ausschusses (3.

Internationalisierung und Privatisierung von Krieg und Frieden

Wahlen, Macht und Mathematik

Die 56 OSZE-Teilnehmerstaaten Daten, Fakten, Kooperationsformen 1

Johannes VarwicklWichard Woyke Die Zukunft der NATO

Fragen und Antworten zur Enhanced Forward Presence

Erik Wolf. 3. Juli 2003

A7-0330/13

Hoffnung für Frieden mitten im Kalten Krieg

Transkript:

Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015 Die Agenda des NATO-Gipfels von Warschau von Karl-Heinz Kamp Auf dem NATO-Gipfel am 8. und 9. Juli 2016 wird es vor allem darum gehen, eine Spaltung im Bündnis zu verhindern und angesichts der unterschiedlichen regionalen Bedrohungen einen Interessenausgleich zwischen den ost- und den südeuropäischen Mitgliedern zu erreichen. Fünf Themenfelder dürften die Agenda des Gipfels bestimmen: die Situation in Osteuropa, die Gefahren aus dem Nahen und Mittleren Osten, eine Reform der Partnerschaftspolitik, die Erweiterungsfrage und die Debatte um die künftige Nuklearstrategie der Allianz. Acht Monate vor dem Gipfeltreffen von Warschau Anfang Juli 2016 zeigt die NATO ein gemischtes Bild. Einerseits hat Russlands neo-imperiale Aggression in Osteuropa die Allianz geeint und ihre Kernfunktion als Verteidigungsbündnis reaktiviert man sieht sich wieder den Realitäten einer Artikel-5-Welt ausgesetzt, in der Bündnissolidarität nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages oberste Aufgabe ist. Folglich haben sich die Mitglieder auf dem NATO-Gipfel von Wales auf ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit verständigt und dieses auch engagiert umgesetzt ein Umstand, der bei NATO-Beschlüssen nicht immer der Fall ist. Andererseits ist die NATO in der Frage gespalten, wo und wie das Bündnis seine Fähigkeit zur Selbstverteidigung verbessern soll: Durch Russlands revisionistisches Vorgehen im Osten und die anhaltende islamistische Gewalt im Süden tun sich zwei sehr unterschiedliche Handlungsfelder auf. Daraufhin zeigen sich, vereinfacht dargestellt, vier verschiedene Prioritäten, die unterschiedliche NATO-Mitglieder mit Blick auf den Warschauer Gipfel verfolgen: Für die osteuropäischen Mitglieder geht es bei dem Gipfeltreffen in Warschau vor allem um die Umsetzung der in Wales 2014 beschlossenen militärischen Verstärkungen, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO gegenüber Russland zu verbessern. Die südlichen NATO-Länder wollen vermeiden, dass der Schwerpunkt der Allianz zu sehr auf Osteuropa liegt und fordern, dass etwa die neue Schnelle Eingreiftruppe ( Very High Readiness Joint Task Force VJTF) auch für die Verteidigung Südeuropas tauglich sein muss. Die drei großen Europäer in der NATO, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, versuchen beide Positionen zu berücksichtigen, um die Spannungen zwischen Süd und Ost zu verringern. Die USA als Bündnisvormacht mühen sich ebenfalls um Einigkeit in der Allianz, wollen aber vor allem, dass Europa insgesamt größere militärische Anstrengungen zu seiner eigenen Verteidigung unternimmt. Eine weitere Bruchlinie ergibt sich in der transatlantischen Dimension: Die Klagen der europäischen NATO- Staaten über mangelnde amerikanische Führung im Bündnis sind derzeit so lautstark wie lange nicht mehr und stehen im Gegensatz zu einer öffentlichen Meinung etwa in Deutschland, die angesichts von NSA- Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik ISSN 2366-0805 Seite 1/5

Aktivitäten oder TTIP-Sorgen eine vermeintliche amerikanische Gängelung beklagt. Angesichts dieser Gemengelage dürften vor allem fünf Themen die Agenda von Warschau bestimmen. 1. Ukraine, Russland und die Rolle der NATO in Osteuropa Die NATO hat mit dem in Wales beschlossenen Readiness Action Plan (RAP) rasch und entschlossen auf Russlands Landnahme in der Ukraine reagiert. Obgleich die 28 NATO-Regierungen in unterschiedlichem Tempo realisierten, dass es sich bei Russlands Vorgehen nicht um eine Einzelaktion, sondern um ein grundsätzliches Aufkündigen der europäischen Sicherheitsordnung handelte, wurde die Dynamik von Wales beibehalten. Zur Überraschung mancher Bündnispartner hat sich gerade Deutschland am Aufbau neuer Verteidigungsfähigkeiten in Osteuropa besonders beteiligt. Auch zeigt sich Berlin in der Frage der wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland nach wie vor prinzipienfest. Auf dem Warschauer Gipfel wird es nun darum gehen, diese begonnene Anpassung an die neuen Anforderungen der Artikel-5-Welt fortzusetzen. Dabei stellen sich derzeit eine Reihe von Fragen und Problemen. Wie kann es, erstens, gelingen, die in Wales (und früheren Gipfeltreffen) immer wieder definierten Fähigkeitslücken der NATO zu schließen oder zumindest zu verkleinern? Engere Kooperation im Rahmen von Smart Defense oder Initiativen wie das Framework Nation Concept (bei dem sich NATO-Staaten bei bestimmten militärischen Aufgaben um eine Führungsnation gruppieren) sind hilfreich, reichen aber nicht aus. Russland hat gezeigt, dass es mit sogenannten Snap Exercises innerhalb zwei bis drei Tagen mehrere zehntausend Mann mobilisieren und konzentrieren kann. Dem wäre die weniger als 5.000 Mann umfassende schnelle Eingreiftruppe VJTF im Ernstfall nicht gewachsen, zumal deren Reaktionszeit bestenfalls fünf bis sieben Tage beträgt. Damit hängt die zweite Frage zusammen, woher die Mittel für den weiteren militärischen Aufbau kommen sollen. In Wales haben die NATO-Mitglieder erneut allerdings in sehr konditionierter Form das Versprechen abgegeben, künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für ihre Verteidigung auszugeben. Derzeit erfüllen nur fünf Staaten diese Vorgabe, sechs haben 2015 ihre Verteidigungsausgaben erhöht, sechs weitere haben sie allerdings weiter gekürzt. Häufig wird beklagt, dass die schematische Prozentrechnung entlang des BIP den realen Beiträgen zur Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses nicht gerecht werde der Umstand, dass die Verteidigungsausgaben Griechenlands den zweitgrößten BIP-Anteil im Bündnis (nach den USA) haben, spricht Bände. Auch wird Deutschland angesichts seines sehr hohen BIPs politisch nicht in der Lage sein, einen entsprechenden Verteidigungshaushalt aufzubringen er läge bei weit über 50 Milliarden Euro. Es gibt Überlegungen, von der statischen Zwei-Prozent-Regelung abzuweichen und die jeweils eingebrachte militärische Leistungsfähigkeit als Maßstab für eine gerechte Lastenteilung zu wählen. Allerdings sind solche qualitativen Kriterien noch schwieriger zu messen und zu vergleichen. Drittens wird sich die NATO auf eine RAP-Folgeplanung (RAP 2.0) einigen müssen. Russland hat die Verstärkungsmaßnahmen der NATO sehr wohl registriert und weiß darüber hinaus, dass es mit Blick auf den gesamten Kräftevergleich (einschließlich der gewaltigen Militärmacht der USA) der Allianz weit unterlegen ist. Folglich beginnen russische Militärs, um den RAP herum zu planen, indem sie Konzepte entwickeln, um in Teilen Osteuropas im Konfliktfall mit sogenannten Area Denial -Maßnahmen den NATO- Nachschub zu blockieren oder durch nukleare Drohungen das Bündnis zu spalten. Hier sind entsprechende Gegen-Konzepte erforderlich. Allerdings gibt es bei all den Debatten um die Reaktion auf Russlands Aggression auch einen Streit um Scheinprobleme: Zunächst wird es aufgrund der unterschiedlichen geografischen und historisch bedingten Interessenlagen im Bündnis nie einen völligen Konsens über eine angemessene Reaktion auf die russische Bedrohung geben. Osteuropäische Staaten werden die militärische Verstärkung der NATO immer als unzureichend kritisieren, während weiter westlich oder südlich gelegene Mitglieder bereits die derzeitigen Maßnahmen als ausreichend oder gar zu kostspielig ansehen. Wenig fruchtbar ist auch die Diskussion, ob die Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015 Seite 2/5

Stationierung von Streitkräften in Osteuropa dauerhaft oder rotierend erfolgen soll (im NATO-Jargon: permanent or persistent ). Denn solange es der NATO gelingt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Streitkräften einschließlich amerikanischer Truppen und Gerät in Osteuropa bereit zu halten, ist es sekundär, ob diese rotieren oder fest stationiert sind. Überflüssig ist auch die Debatte, ob die NATO-Russland-Grundakte beibehalten oder aufgekündigt werden soll. Keine der von der NATO beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses steht im Widerspruch zur Grundakte sie behindert demnach nicht die militärische Verstärkung des Bündnisses. Eine formale Aufkündigung dieses Dokuments durch die NATO würde Moskau lediglich propagandistisch nutzbare Vorwände liefern. 2. Die NATO und die Bedrohungen aus dem Süden Die südlichen Mitgliedstaaten allen voran Italien und die Türkei befürchten, dass das atlantische Bündnis zu viel Aufmerksamkeit auf Osteuropa richtet und dabei die Gefahren in der von der NATO als MENA bezeichneten Region (Middle East und Northern Africa) verkennt. Von der Verbesserung von Abschreckung und Verteidigung müsse ihnen zufolge auch die einstige Südflanke der NATO profitieren ein Argument, dass angesichts etwa der geografischen Lage der Türkei verständlich ist. Allerdings fällt es den Südanrainern innerhalb der NATO schwer, ihre Befürchtungen klar zu benennen und zu erklären, gegen welche Gefährdungen die NATO denn auf welche Weise genau gerichtet sein soll. Während man es in Osteuropa in Relativierung des aktuellen Hype um die hybride Kriegführung mit einer linearen Bedrohung durch Russland zu tun hat, der eine lineare Reaktion folgen muss, ist ein solches Narrativ in Südeuropa nur schwer zu entwickeln. Die Gefahren südlich des Mittelmeers oder im Mittleren Osten, darunter Staatszerfall, Extremismus und menschliche Perspektivlosigkeit, sind zu einem großen Teil sozio-ökonomischer Natur und kaum mit den Instrumenten der NATO zu bekämpfen. So verständlich die Sorgen Italiens waren, als etwa im Oktober 2014 das islamistische Online-Magazin Dabiq mit einem Foto des Petersplatzes in Rom mitsamt einer darüber wehenden schwarzen Flagge des Islamischen Staates den Sturm auf das Symbol der Christenheit forderte eine NATO-Reaktion ist in diesem Zusammenhang schwer vorstellbar. Andererseits weisen die Südanrainer darauf hin, dass man sich einen Einsatz der VJTF vorstellen könne, wenn es etwa zu einem IS -Angriff auf den Suez-Kanal kommen sollte und ägyptische Truppen allein diesen nicht abwehren könnten. Wie würde es um die Verteidigung Osteuropas stehen, wenn Russland eine solche Situation als Anlass für eine Aggression etwa gegen das Baltikum wählen würde? Sorge bereitet der Umstand, dass mittlerweile die nicht absehbaren Auswirkungen der Flüchtlingskrise in die NATO-Debatten einsickern. So sehen südliche NATO-Mitglieder in dem Verhalten einiger osteuropäischer Staaten gegenüber den Flüchtlingsströmen ein Zeichen fehlender Solidarität und verweisen darauf, dass es die gleichen Osteuropäer seien, die auf die Bündnissolidarität angesichts einer russischen Bedrohung setzen würden. Obgleich diese Debatte zwei getrennte Problembereiche vermischt, enthält sie bündnispolitischen Sprengstoff. 3. Die Zukunft der NATO-Partnerschaften Die NATO pflegte in der Vergangenheit Partnerschaften mit Nicht-NATO-Staaten zu (in der Regel) beiderseitigem Nutzen. Meist waren diese Partnerschaften im Rahmen größerer Foren organisiert: der Partnership for Peace (PfP) in Osteuropa und Zentralasien, dem Mediterranean Dialogue (MD) im Mittelmeerraum oder der Istanbul Cooperation Initiative (ICI) mit den Golfstaaten. Auch bestimmten die Partner weitgehend selbst, wie intensiv sie die Kooperation mit der NATO gestalten wollten. Durch die Entwicklungen der letzten Monate und Jahre sind diese Foren weitgehend dysfunktional geworden. PfP, dem sowohl Russland als auch die Ukraine angehören, ist durch den aktuellen Konflikt gelähmt. Der Mittelmeerdialog leidet seit Jahren an dem Konflikt zwischen Israel, Ägypten und der Türkei, und die ohnehin nie sonderlich aktiv gewesene ICI ist über den Umgang mit dem IS zerstritten. Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015 Seite 3/5

Obgleich man trotz der Ineffizienz aus politischen Gründen keines dieser Foren auflösen wird, ist in der Artikel-5-Welt ein Neuanfang in der Partnerschaftspolitik unabdingbar. Zwei neue Ansätze zeigen sich derzeit in der Bündnisdebatte: Zum einen werden Partnerschaften nicht mehr als Gruppenorganisation verstanden, bei der der Partner wählt, in welchem Umfang er sich einbringt. Stattdessen definiert die NATO gemäß ihrer Bedürfnisse Staaten, die sofern sie dazu bereit sind mit der NATO partnerschaftliche Aktivitäten durchführen. Dabei geht es darum, von den Partnern Unterstützung etwa im Krisenmanagement zu erhalten und im Gegenzug durch Training oder Ausrüstungshilfe die Partnerstaaten zu effizientem Handeln zu befähigen. Damit ist der NATO-Partnerschaftsgedanke sehr nah an der Logik der deutschen Ertüchtigungsinitiative wobei sich letztere nicht nur auf militärische Unterstützung bezieht. Mögliche Partner und damit Ankerstaaten der NATO wären etwa Jordanien, Marokko und Tunesien. Zum anderen würde die Kooperation mit diesen Staaten nicht mehr im Rahmen der oben genannten Foren erfolgen, sondern auf individueller Basis in der NATO-Terminologie 28+1 oder 28+2 genannt. 4. NATO-Erweiterung Ein Dauerthema der NATO-Gipfel der annähernd letzten zwei Jahrzehnte ist die Frage der NATO- Erweiterung. Streitfälle werden auch im kommenden Jahr wieder Kandidaten wie Georgien, die Ukraine, Montenegro oder Mazedonien sein. Allerdings bringen auch hier die Realitäten der Artikel-5-Welt bedeutende Veränderungen mit sich. Zunächst sind durch die revisionistische Politik Moskaus in Osteuropa mit Schweden und Finnland zwei Länder ins Blickfeld geraten, in denen in der Vergangenheit ein NATO-Beitritt nur als eine sehr entfernte Option erwogen wurde. Dies hat sich grundlegend verändert. Der Warschauer Gipfel wird somit auf die in beiden Ländern anschwellende Debatte über eine NATO-Mitgliedschaft eingehen müssen wann auch immer Helsinki und Stockholm einen Beitrittswunsch äußern werden. Montenegro wird aller Wahrscheinlichkeit nach zum Beitritt eingeladen werden die vorbereitenden Beschlüsse sollen auf dem NATO-Außenministertreffen im Dezember 2015 gefasst werden. Dies ist vor allem ein politisches Signal auch gegenüber Russland, dass man an der Politik der offenen Tür festhält und kein russisches Veto gegenüber dem Prinzip der freien Bündniswahl akzeptiert. Zwar ist der Beitrag, den Montenegro zur NATO leisten kann, verschwindend gering, doch das begrenzt zugleich auch den Aufwand, den die Integration dieses kleinen Landes in das Bündnis erfordert. Bei der Frage einer perspektivischen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, Georgiens oder von weiteren Staaten des Westbalkans geht es mittlerweile nicht mehr nur um die Staaten selbst, sondern um einen Grundsatzstreit, der sich quer durch das Bündnis zieht: Soll wie in der Vergangenheit vor allem von den USA vertreten die NATO-Erweiterung weiterhin als ein kontinuierlicher Prozess zur Transformation Ost- und Südosteuropas ( Europe whole and free ) verstanden werden, oder soll vor allem die Leistungsfähigkeit des Bündnisses im Vordergrund stehen? Dabei ist die Frage, welcher der beiden Wege aktuell für Russland verträglicher ist, nicht so wichtig, wie es scheint. Vertreter der zweiten Position wozu auch Deutschland gehört haben schon in der Vergangenheit darauf verwiesen, dass eine Integration etwa der Ukraine als politisch zerstrittener sowie durch Korruption und schlechter Regierungsführung gelähmter Staat extrem schwierig gewesen wäre. Dahinter steht auch eine Enttäuschung über andere in die NATO (und in die EU) aufgenommener Staaten, die nach ihrem Beitritt die übernommenen Zusagen und Verpflichtungen ignoriert haben. Im heutigen sicherheitspolitischen Umfeld, in dem die NATO vor allem wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausreichtet ist, stellt sich die Frage, ob das Bündnis überhaupt in der Lage wäre, die Ukraine als zweitgrößten Flächenstaat in Europa militärisch zu verteidigen. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass nach dem Beitritt Montenegros wieder eine längere Pause im Erweiterungsprozess eintritt. Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015 Seite 4/5

5. Die Zukunft der nuklearen Abschreckung Besonders heikel ist die Frage nach der künftigen Rolle von Kernwaffen in der Strategie der NATO. Nach dem vom deutschen Außenminister Guido Westerwelle 2009 angestoßenen Streit um den Abzug amerikanischer Waffen aus Europa hatte das Bündnis 2012 einen fein austarierten Kompromiss gefunden den Deterrence and Defence Posture Review (DDPR) mit dem sich die nuklearen Interessenunterschiede in der NATO überdecken ließen. Er basierte auf zwei Grundlagen: Russland ist erstens Partner der NATO und richtet zweitens sein großes Kernwaffenarsenal in Europa nicht gegen das Bündnis. Beide Voraussetzungen gelten nicht mehr. Russland hat sich endgültig aus der Partnerschaft zurückgezogen und definiert sich selbst als anti-westliche Macht. Darüber hinaus simuliert das russische Militär in Übungen Kernwaffeneinsätze gegen Polen, droht mit der weiteren Verlagerung von Atomwaffen nach Kaliningrad und verletzt mit nuklearfähigen Kampfflugzeugen den NATO-Luftraum. Das bedeutet nun nicht, dass die NATO ihrerseits ihr (beziehungsweise das amerikanische) Kernwaffenpotential verstärken muss. Es erfordert allerdings einen neuen nuklearstrategischen Konsens in Bündnis. Dieser wird schwer zu finden sein, trifft derzeit das Drängen der osteuropäischen Mitgliedstaaten auf eine glaubwürdige nukleare Abschreckung als Mittel zur Kriegsverhinderung doch auf die traditionell nuklearkritischen Stimmungen in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden. Darüber hinaus gibt es weitere Probleme. Die NATO kann zwar auf die Erfahrung des Kalten Krieges zurückgreifen, als die damals konventionell hoch gerüstete Sowjetunion abgeschreckt werden konnte. Heute geht es hingegen darum, ein konventionell unterlegenes Russland abzuschrecken, wobei die Gefahr einer nuklearen Kurzschlussreaktion der russischen Führung stets gegeben ist. Generell ist es schwieriger, eine declining power wie Russland abzuschrecken, als eine etablierte oder aufsteigende Macht. Insbesondere die Frage, welche Funktion die in einigen europäischen NATO-Staaten stationierten amerikanischen Atomwaffen in dieser Konstellation haben werden, wird Gegenstand der Warschauer Debatten sein. Auch wird man sich den unterschiedlichen Reaktionszeiten widmen müssen. Russland ist zwar konventionell insgesamt unterlegen, kann aber in zwei bis drei Tagen große Truppenstärken aus Übungen heraus konzentrieren. Die konventionelle Reaktionszeit der NATO im Rahmen der VJTF von fünf bis sieben Tagen ist noch eher optimistisch eingeschätzt. Die nuklearfähigen Kampfflugzeuge der NATO, die mit amerikanischen Atombomben ausgestattet werden können, haben eine Reaktionszeit von etwa 30 Tagen. Aus diesem Missverhältnis ergibt sich die Forderung nach kürzeren Reaktionszeiten (was wiederum mit Kosten verbunden ist) und verstärkter Übungstätigkeit auch im Nuklearbereich. Es entbehrt rückblickend nicht einer gewissen Ironie, dass die Nuklearfrage auf dem Warschauer Gipfel thematisiert werden dürfte, während der amerikanische Präsident dort seinen Abschied von der NATO gibt. War es doch Barack Obama, der 2009 den Friedensnobelpreis für die aus heutiger Sicht unrealistische Idee von der nuklearwaffenfreien Welt erhalten hatte. Fazit Der NATO-Gipfel in Warschau kann ein Erfolg werden, wenn es bis dahin gelingt, die unterschiedlichen Positionen im Bündnis zu harmonisieren. Unabhängig von seinem Ausgang wird auch dieser Gipfel wieder mit den bei solchen Spitzentreffen üblichen Superlativen wie historisch oder bahnbrechend belegt werden. Schafft es die Allianz, den bisher gezeigten Zusammenhalt gegenüber den neuen Bedrohungen aufrecht zu erhalten, wird Warschau ein weiterer Schritt auf dem Weg der Anpassung der NATO an die Zwänge der Artikel-5-Welt sein nicht mehr aber auch nicht weniger. Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder. Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 9/2015 Seite 5/5