ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE, SWR2 DIE BUCHKRITIK Jonathan Riley-Smith: Die Kreuzzüge Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Hannes Möhring Verlag Philipp von Zabern 484 Seiten 49,95 Euro Rezension von Michael Kuhlmann Montag, 05. September 2016 (14:55 15:00 Uhr)
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Im englischen Original ist dieses Buch längst ein Standardwerk: der Kirchenhistoriker Jonathan Riley-Smith gilt als Experte für die Kreuzzüge. Mit seinen Gedanken gab er der Forschung seit Jahrzehnten wichtige Impulse: er erzählt fast 800 Jahre Kreuzzugsgeschichte von Feldzügen nicht nur nach Nahost, sondern auch nach Westeuropa und ins Baltikum. Die Kreuzfahrer des Mittelalters habe nicht materielle Gier getrieben, sondern ursprünglich das idealistische Bedürfnis, ihre Frömmigkeit auszuleben eine geschickte kirchliche Propaganda wußte das auszunutzen. Die Kreuzzüge und ihre Resultate lassen bereits erahnen, warum auch spätere militärische Aktionen des Westens in der islamischen Welt zum Scheitern verurteilt waren. Ein beeindruckend kenntnisreiches Buch, bei dem man sich lediglich noch zusätzliche griffige Zusammenfassungen der Fakten-Flut wünschen würde.
Eine Streitmacht des Westens interveniert in Nahost. Mit modernen Waffen besiegt sie starke einheimische Armeen. Sie errichtet einen neuen Staat. Freilich fehlt es an Ressourcen, besonders personeller Art; und die muslimischen Gegner denken nicht im Traum daran, ihren neuen Nachbarn zu akzeptieren. Das ist keine Geschichte aus unserer Zeit. Es geschah vor über neunhundert Jahren: nach dem ersten Kreuzzug. Mit ihm beginnt die Geschichte, die Jonathan Riley-Smith in seinem Buch Die Kreuzzüge erzählt. Er setzt ein kurz vor dem Ende des elften Jahrhunderts: eines Jahrhunderts, in dem in Westeuropa heiße theologische Debatten entbrennen. Die Kirche soll innerlich erneuert werden; politisch soll sie sich nicht mehr von Kaisern und Königen gängeln lassen. Es geht vielen Menschen aber auch ganz simpel darum, Frömmigkeit neu zu leben. In diese brisante Stimmung hinein platzt ein Aufruf Papst Urbans II.: Die Westeuropäer sollten sich nach Jerusalem aufmachen. Nicht mehr wie bisher als friedliche Pilger, sondern bis an die Zähne bewaffnet: um die heilige Stadt für die Christenheit in Besitz zu nehmen. Urban verspricht ihnen einiges: die Vergebung ihrer Sünden. Darauf springen wohlhabende Edelleute und Ritter an, aber auch zwielichtige Naturen und Kriminelle Menschen, denen die Kirche vorher noch bescheinigt hatte, daß sie als allerletzte auf Absolution hoffen könnten. Nach drei Jahren haben es die Kreuzfahrer geschafft: sie errichten das Königreich Jerusalem. Auf den ersten Kreuzzug folgten viele weitere: in den Nahen Osten, später auf die iberische Halbinsel, ins Baltikum und sogar innerhalb West- und Mitteleuropas. Gegen sogenannte Ketzer in Südfrankreich, gegen die Hussiten in Böhmen. Wie das zur christlichen Gewaltfreiheit passen soll: die Kirche zimmert sich eine
Begründung zurecht. Bis in die Neuzeit hinein wurde die Kreuzzugsidee verfochten, schließlich auch von weltlichen Gewalten. Freilich verlor sie nach der Reformation beträchtlich an Stoßkraft; im Blickpunkt päpstlicher Politik standen nun nicht mehr die Muslime in Nahost, sondern die Protestanten in Westeuropa. Aber sogar noch die französische Algerienbesetzung 1830 wurde damit gerechtfertigt, und selbst die Aktivitäten der Entente gegen das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg. Jonathan Riley-Smith schildert das bis ins Detail; ihm geht es zugleich um die Motive der Kreuzfahrer. Für die wichtigste Zeit, das Mittelalter, widerspricht er vielen älteren Autoren: Losgezogen, so meint er, seien die Kreuzfahrer nicht etwa aus materieller Gier. Sondern vor allem aus individueller Frömmigkeit: es sei Idealismus gewesen, den eine geschickte klerikale Propaganda ausgenutzt habe. Der Autor weist auch auf kirchengeschichtliche Nebeneffekte hin: So nahmen vor allem Laien das Kreuz. Die erreichten damit, daß die Kurie sie als religiöse Akteure dauerhaft anerkannte. Und der berüchtigte Ablaßhandel, gegen den später ein Martin Luther zu Felde zog: er hatte seine Wurzeln darin, daß manche Adlige sich schon im 13. Jahrhundert mit einer Geldsumme von ihrer Kreuzzugsverpflichtung loskauften. Die Bilanz der Kreuzzüge sie fiel im Ganzen mager aus: Einzig auf der iberischen Halbinsel ist die Reconquista gelungen. Anderswo stärkte die Kirche nur ihre Gegner. Im Heiligen Land war die lateinische Präsenz schon 1291 zuende gegangen. Und doch lief noch Jahrzehnte später in der arabischen Welt das Gerücht um, daß in den Ruinen der Kathedrale von Tyros in einer geheimen nächtlichen Zeremonie ein neuer König von Jerusalem gekrönt worden sei. Das wohl seltsamste Detail einer Geschichte, über die man sich bei Riley-Smith erschöpfend informieren kann. Einer Geschichte, die auch zeigt, daß es schon im 12. Jahrhundert Gedanken des islamischen
Djihad gab damals allerdings vorwiegend defensiv: die mittelalterlichen Aggressoren kamen vornehmlich aus dem Westen. Riley-Smiths Standardwerk hat im englischen Original bereits drei Auflagen erlebt: ein faktenstrotzendes Handbuch, dem einzig griffige Zusammenfassungen fehlen.