92 Komatrinken: fünf Fragen fünf Antworten 1.»In den Medien lesen wir ständig von Jugendlichen, die sich bewusstlos trinken, jährlich werden es mehr. Wächst da eine Generation von jungen Komatrinkern heran?«ganz klar: Nein! Es stimmt, dass im Jahr 2008 mehr als 25 000 Jugendliche mit einer schweren Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt werden mussten, das ist ein enormer Anstieg innerhalb weniger Jahre. Aber: Die Zahlen von Menschen, die mit einer akuten Alkoholvergiftung im Krankenhaus behandelt werden mussten, hat auch in allen anderen Altersgruppen stark zugenommen. Und eine bayerische Studie belegt, dass nur etwa 25 Prozent der Jugendlichen wirklich bewusstlos sind. Die steigenden Klinikzahlen könnten von etwas anderem herrühren: Schwere Alkoholvergiftungen werden heute in den Kliniken systematischer dokumentiert als früher und ärztliche Hilfe wird eher eingeleitet, wenn jemand stark betrunken ist. Auch Jugendliche mit weniger als einem Promille Blutalkohol kommen ins Krankenhaus, viele von ihnen haben zum ersten Mal Alkohol getrunken und reagieren so stark, dass jemand einen Arzt einschaltet. Dass das Umfeld genauer hinsieht und schneller reagiert, ist eine sehr positive Entwicklung. Ein Teil des Anstiegs geht also nicht nur auf die Zunahme des problematischen Alkoholkonsums speziell bei Jugendlichen zurück, sondern das Thema steht stärker im Licht der Öffentlichkeit, wird also anders wahrgenommen. Was früher unauffällig geschah, ist öffentlicher geworden. Dennoch darf nichts verharmlost werden: Hinter jedem der über 25 000 Fälle verbirgt sich eine Trinksituation, die völlig
eskaliert ist und teilweise lebensbedrohlich war. Tatsache ist jedoch auch: Viele Jugendliche trinken moderat oder gar keinen Alkohol. 2.»Wenn auch ein Teil der steigenden Klinikzahlen auf eine höhere Sensibilität in der Gesellschaft zurückgeht, wo sind die anderen Ursachen zu sehen?«auffällig ist, dass in fast allen Fällen, in denen Jugendliche nach einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus zu sich kommen, Hochprozentiges im Spiel war. Besonders Wodka ist Teil der jugendlichen Partykultur geworden. Neu ist auch, dass oft direkt aus der Flasche getrunken wird, teilweise nebenher im Gehen. Das heißt: Die Jugendlichen haben keinerlei Kontrolle, wie viel Alkohol sie eigentlich in sich reinschütten. Vermutlich ist ein Trend entstanden, sich gemeinschaftlich gezielt zu betrinken, sozusagen als Freizeitbeschäftigung. Zugenommen haben etwa»botellones«, das sind große Massenbesäufnisse auf öffentlichen Plätzen, die über das Internet verabredet werden. Diese Treffen entstanden ursprünglich in Spanien,»botellón«heißt Flasche. Vielerorts sind solche Zusammenkünfte aber zum Glück verboten worden. Zum Teil ist das öffentliche Trinken vermutlich eine Mode, wie Kleidungsstile, Frisuren, Tatoos und Ähnliches. Jugendliche sind da ja sehr kreativ. Vermutlich spielt auch die teilweise fast hysterische Berichterstattung in den Medien eine Rolle: Bei Jugendlichen muss ja geradezu der Eindruck entstehen, es sei ganz normal, sich bis zum Umfallen zu betrinken. 3.»Dass Jugendliche mal betrunken sind, ist ja grundsätzlich noch kein Riesenproblem. Aber ein junger Mensch, der sich ins Krankenhaus trinkt... ist da nicht zu befürchten, dass er am Anfang einer Alkoholikerkarriere steht?«93
94 Nein. Es zeigt sich, dass es sich bei etwa zwei Dritteln der betroffenen Jungen und Mädchen um ganz normale Jugendliche aus ganz normalen Familien handelt. Allerdings sind sie sehr experimentierfreudig und risikobereit, testen mit aller Macht ihre Grenzen aus was in diesem Alter allerdings auch normal ist. Sie haben oft keine Ahnung, wie gefährlich gerade Spirituosen sind. Sie trinken eine halbe Flasche Wodka leer oder beteiligen sich an Trinkspielen und kommen schnell auf über zwei Promille. Diese Jugendlichen sind zwar nicht suchtgefährdet, aber wenn solch ein Alkoholexzess zu einem schweren Unfall führt oder zu einem sexuellen Missbrauch, haben sie dennoch vielleicht lebenslang an den Folgen zu tragen. Und eines darf man bei der ganzen Diskussion nicht vergessen: Es gibt 15-Jährige, die sind so an Alkohol gewöhnt, dass sie mit zwei Promille noch auf den Füßen stehen. Auch um diese müssen wir uns große Sorgen machen. 4.»Das heißt, Sucht ist nicht unbedingt das große Problem, wenn es um das Komatrinken geht?«genau. Eine Suchtentwicklung ist ein langer Prozess über viele Jahre. Jugendliche, die nicht in einer fürsorglichen und wertschätzenden Familie aufwachsen, die keinen Halt haben, die kontinuierlich nichts als Misserfolge erleben, sind eher gefährdet. Für solche Jugendliche kann es sehr attraktiv sein, sich durch Alkohol oder andere Drogen scheinbar auf einfache Art Entlastung zu verschaffen. Oft geht es dann nicht um Party und Feiern, sondern darum, sich wegzutrinken aus einem Leben, das als frustrierend und perspektivlos erlebt wird der Einstieg in einen Teufelskreis. Beim komatösen Rauschtrinken spielen für die Mehrzahl der Jungen und Mädchen eher die akuten Schäden eine Rolle.
Kommt es in der Bewusstlosigkeit zum Erbrechen, kann dies zum Erstickungstod führen. Eine hohe Alkoholkonzentration im Blut kann das Atemzentrum lähmen oder zum Herzstillstand führen. Die größte Gefahr geht durch Unfälle aus, betrunkene Jugendliche werden sehr verletzlich: Stürze, Verkehrsunfälle, Ertrinken, in den Wintermonaten Erfrieren, Gewaltdelikte. Dazu kommt oft ungeschützter Geschlechtsverkehr mit problematischen Folgen, zum Beispiel eine ungewollte Schwangerschaft oder eine sexuell übertragene Krankheit. 5.»Was können Eltern tun, um zu vermeiden, dass irgendwann in der Nacht einmal ein Anruf kommt, ihr Kind liege im Krankenhaus?«Eltern müssen Vorbild sein im Umgang mit Alkohol. Genießen ja sich betrinken nein. Zudem sollten Eltern ihren Kindern wichtige Informationen vermitteln. Kinder beziehen ihr Wissen über Alkohol vorwiegend von Gleichaltrigen, den Medien, dem Internet. Das sind nicht immer die solidesten Quellen. Ganz oben steht die Warnung vor Hochprozentigem, von unberechenbaren Mixgetränken, dem Trinken aus der Flasche oder der Teilnahme an Trinkspielen. Auch Gebote und Verbote helfen, zum Beispiel dass Eltern nicht wollen, dass ihr Kind je betrunken nach Hause kommt. Das bedeutet nicht, dass sich Kinder selbstverständlich daran halten, aber wenn sie eine von den Eltern gezogene Grenze überschreiten, ist ihnen das bewusst und sie sind zumindest vorsichtiger. Jugendliche und Erwachsene! orientieren ihr Verhalten nicht nur an ihren Zielen und Wünschen, sondern auch daran, mit wie viel Aufwand der erwünschte Zustand verbunden ist. Als»Aufwand«werden dabei nicht nur körperliche Anstrengungen oder Geldausgaben empfunden, sondern auch das Überwinden 95
96 emotionaler Hindernisse. Da Alkohol fast überall verfügbar und auch für Jugendliche finanziell erschwinglich ist, sind fast nur die Eltern in der Lage, hier konsequent ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn die Eltern jedoch mit Gleichgültigkeit oder sogar Verständnis reagieren, ist der emotionale Aufwand des Jugendlichen für einen Trinkexzess gering. Weiß der Jugendliche hingegen, dass die Eltern Trunkenheit kritisch sehen und er gefühlsmäßige Barrieren überwinden muss (Heimlichkeiten, Tricksen, die Befürchtung, entdeckt zu werden), wird er nicht so»leicht-sinnig«mit Alkohol umgehen. Wie Prävention funktioniert Jede Flasche Alkohol, die von Jugendlichen getrunken wird, ging irgendwann durch die Hände eines Erwachsenen. So wertvoll und wirksam die Unterstützung von Jugendlichen im Krankenhaus auch ist, so kommt sie doch eigentlich zu spät: Das Kind ist schon mal in den Brunnen gefallen. Aus diesem Grunde muss Vorbeugung auch überall dort ansetzen, wo Jugendliche Alkohol kaufen können, ihn von Erwachsenen bekommen und wo sie trinken: im Einzelhandel, an Tankstellen und Kiosken, im Sportverein, bei Festveranstaltungen auch auf Schulpartys. Hier sind alle Erwachsenen gefragt, nicht nur die Eltern: Es geht es um die konsequente Einhaltung des Jugendschutzgesetzes. Es geht darum, dass Erwachsene Vorbilder sein müssen. Es geht um die Gestaltung der Getränkepreise. Wenn ein halber Liter Bier günstiger ist als Mineralwasser, zeigen Jugendliche, die sich für ein Bier entscheiden, vor allem, dass sie rechnen können: Wo bekomme ich mehr für mein Geld?