Partizipation als Schlüssel für Bildung und Demokratie Die Bedeutung des Zuhörens in einer partizipativen Bildungspraxis von Kindertageseinrichtungen

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Transkript:

Partizipation als Schlüssel für Bildung und Demokratie Die Bedeutung des Zuhörens in einer partizipativen Bildungspraxis von Kindertageseinrichtungen In meinem Vortrag beleuchte ich den Zusammenhang zwischen dialogischem Zuhören und demokratischer Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen. Dabei werden folgende Aspekte angesprochen: 1. Warum Zuhören so wichtig ist. Zuhören als zentraler Schlüssel für Bildung 2. Dialogisches Zuhören und Partizipation 3. Warum eine Kita-Verfassung die weitreichendste Form einer strukturellen Verankerung von Partizipation darstellt. 4. Wie durch Zuhören und Partizipation Demokratie gelernt werden kann. 1. Warum Zuhören so wichtig ist. Zuhören als zentraler Schlüssel für Bildung Zuhören ist viel mehr als ein passives Hören. Es beinhaltet, anderen zuzuhören, sich dafür zu interessieren, was andere mitteilen möchten, darüber nachzudenken, was das Gehörte mit den eigenen Ideen zu tun hat und sich schließlich selbst mitzuteilen auch mit der Erwartung, dass einem zugehört wird. Zuhören, so wird hier deutlich, ist meist kein einsames Geschäft. Es findet vor allem in sozialen Situationen statt und ist i.d.r. eingebunden in Kommunikation. Zuhören beinhaltet auch die Bereitschaft, den Anderen verstehen zu wollen, sich auf die Perspektive des Anderen einzulassen. Wenn ich im Folgenden von Zuhören spreche, meine ich dieses dialogische Zuhören, das eingebunden ist in einen Prozess des gegenseitigen Verstehen-Wollens. Dialogisches Zuhören ist damit ein zentrales Moment pädagogischer Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Dass Erwachsene und Kinder sich gegenseitig zuhören, ist eine wichtige Basis für die Entwicklung von Bindungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Dabei sind es immer die Erwachsenen, die in Vorleistung gehen und den Kindern zuhören müssen. Und auch im weiteren Verlauf ist Zuhören ein wichtiger Schlüssel für die Förderung von Bildungsprozessen. Das Thema Bildung erlebt in Kindertageseinrichtungen spätestens mit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der Pisa-Studie 2001 eine Renaissance. Kindertageseinrichtungen gerieten u.a. deshalb so schnell in den Blick der Bildungsforscher, weil die Kinder hier erstmals außerhalb der Familie eine bildungsanregende Umgebung erfahren und so insbesondere Kinder aus bildungsbenachteiligenden Milieus früh Anregung und Unterstützung erhalten können. Je jünger Kinder sind, desto deutlicher wird die Unmöglichkeit, Bildung von außen in das Kind zu implementieren. Hans-Joachim Laewen weist darauf hin: Es besteht keine Möglichkeit einer direkten Übertragung von Erfahrung / Wissen / Kompetenzen vom Erwachsenen auf Kinder. Zwischen der anzueignenden Kultur und dem Kind steht grundsätzlich eine Konstruktionsleistung des Kindes. Pädagogik muss deshalb auf die Vorstellung verzichten, Kindern (oder Erwachsenen) etwas beibringen zu können. 1 Bei der Förderung von Bildungsprozessen in Kindertageseinrichtungen geht es also nicht um Belehrung, sondern um eine Förderung der individuellen Aneignungsprozesse der Subjekte in der Sozietät der Kindergruppe. Es gibt Hinweise darauf, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen die Bildungsprozesse der Kinder nachhaltig befördern kann 2. 1 Laewen, Hans-Joachim (Hrsg.) 2002: Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit, Weinheim, Berlin, Basel, S. 14. 2 Vgl. u.a. Tietze, Wolfgang (Hrsg.) 1998: Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten., Neuwied / Kriftel / Berlin; vgl. auch Textor, Martin 2007: Forschungsergebnisse zur Effektivität frühkindlicher Bildung: EPPE, REPEY und SPEEL, in: Kindergartenpädagogik, online-handbuch http://www.kindergartenpaedagogik.de/1615.html 1

Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Kinder mitentscheiden können, mit welchen Themen sie sich beschäftigen, wenn es gelingt den Kindern Bildungsanregungen in der Zone der nächsten Entwicklung (Wygotsky) zu eröffnen und wenn Erwachsene und Kinder gemeinsam denken 3. Dazu müssen die pädagogischen Fachkräfte systematisch klären: Mit welchen Themen beschäftigt sich das einzelne Kind auf welche Art und Weise? Wenn man Bildung als Aneignung des Subjekts begreift und befördern will, muss man die Vielfalt der Kinder mit ihren Differenzerfahrungen beachten und auch die familialen, sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse der Kinder berücksichtigen. Dazu müssen die Fachkräfte etwas über die Bildungsinteressen und -prozesse der Kinder erfahren. Das gelingt ihnen am besten, wenn sie ihnen zuhören. Wollen Kitas individuelle Bildungsprozesse fördern, braucht das die Beteiligung der Kinder selbst. Dialogisches Zuhören (als Teil von Partizipation) ist eine Voraussetzung gelingender Bildungsförderung. Im Konzept Die Kinderstube der Demokratie konnten wir immer wieder beobachten, wie durch eine systematische Beteiligung der Kinder Bildungsprozesse ausgelöst wurden, die alle erstaunten. Zwei Kinder möchten Kino machen. Sie überzeugen andere Kinder von dieser Idee. Die pädagogischen Fachkräfte, die dies beobachten, finden den Vorschlag ebenfalls gut und stellen sich bereits vor, wie die Kinder mit der gerade erworbenen Video-Kamera einen Film drehen. Die Erzieherinnen halten sich aber zurück, stellen offene Fragen und überlassen es den Kindern, die nächsten Schritte zu gehen. Die Kinder verbinden mit Kino machen andere Ideen: Das Wichtigste im Kino ist es, in langen Reihen vor der Kasse zu stehen und Eintrittskarten zu kaufen. Dafür müssen Kinokarten und Geld gebastelt werden. Dann gibt es im Kino Popcorn, das in dreieckigen(!) Tüten verkauft wird. Auch diese müssen hergestellt werden. Als nächstes organisieren die Kinder ein Bilderbuchkino. Sie bauen ihre Bücher vor einer senkrecht gestellten Matratze der Leinwand auf und erzählen dem Publikum ihre Geschichten zu den Bildern. Dabei wechseln sich die Kinder in ihren Rollen ab. Bald werden die Bücher durch eigene Zeichnungen ersetzt, zu denen die Kinder Geschichten erfinden. Aber im Kino bewegen sich die Bilder doch!, moniert die vierjährige Melina. Daraufhin kommen die Kinder auf die Idee, die gemalten Bilder mit Wäscheklammern an langen Bändern aufzuhängen und sie während der Vorstellung um die Matratze herumzuziehen. 4 Die Bildungsprozesse, die hier deutlich werden, wurden eben nicht durch ein Belehren unterstützt sondern dadurch, dass sich die pädagogischen Fachkräfte zurückhielten und behutsam den Bildungsprozessen der Kinder folgten. Damit blieben die Kinder im gesamten Bildungsprozess die Handelnden. Dass über Partizipation sowohl Bildungsprozesse in Bezug auf das Thema Demokratie als auch allgemeine Bildungsprozesse angeregt werden, zeigt eine erste Evaluation in Nordrhein-Westfalen. 5 2. Dialogisches Zuhören und Partizipation Die Förderung von Zuhören geschieht nicht durch punktuelle Zuhör-Projekte oder Zuhör-Angebote. Eine solche Förderung braucht vielmehr die Entwicklung einer Kultur des Zuhörens. Diese wiederum entsteht vor allem dann, wenn es in Kindertageseinrichtungen gelingt, eine Kultur der Beteili- 3 Vgl. Textor 2007 a.a.o. 4 Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern!, Weimar, Berlin. 5 Vgl. Sturzenhecker, Benedikt; Knauer, Raingard; Richter, Lisa; Rehmann, Yvonne 2010: Partizipation in der Kita. Evaluation demokratischer Praxis mit Vorschulkindern. Abschlussbericht, Hamburg. 2

gung (Partizipationskultur) zu entwickeln. Eine Förderung dialogischen Zuhörens geschieht vor allem durch Partizipation. Eine Definition von Partizipation, die auch Ausgangspunkt des Konzepts Die Kinderstube der Demokratie ist, formuliert Richard Schröder: Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden 6 Hier wird deutlich: Partizipation muss Folgen haben. Es geht nicht um ein höfliches Zuhören, bei dem die Entscheidungsmacht bei den Erwachsenen verbleibt. Durch Partizipation wird das Sichgegenseitig-Zuhören, das Gemeinsam-Nachdenken in gemeinsames Entscheiden umgesetzt. So wird das Zuhören noch bedeutsamer, weil es eingebunden ist in gemeinsames Handeln. Partizipation basiert auf zwei Grundlagen: einer respektvollen Haltung der pädagogischen Fachkräfte und der strukturellen Verankerung von Partizipation. In beiden Bereichen spielt dialogisches Zuhören eine zentrale Rolle. Eine respektvolle Haltung der pädagogischen Fachkräfte zeichnet sich dadurch aus, dass sie Zutrauen in die Fähigkeiten der Kinder haben, dass sie sich für die Weltsicht der Kinder interessieren und ihr Interesse diese den Kindern gegenüber auch zeigen und ihnen immer wieder signalisieren Du bist wichtig! Deine Sicht der Welt interessiert mich!. Eine respektvolle Haltung beinhaltet aber auch die Fähigkeit der Fachkräfte, aktiv zuhören und Dialoge mit Kindern gestalten zu können. Dazu gehört die Bereitschaft zum Dialog, ausreichend Zeit, eine entspannte Atmosphäre und Vertrauen, die Fähigkeit, offene Fragen zu stellen, die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte einfach formulieren zu können, die Fähigkeit, Gedanken visualisieren zu können 7 und letztlich auch die Fähigkeit, verschiedene Gedanken nebeneinander stehen lassen zu können. Aber eine respektvolle Haltung alleine reicht nicht, Partizipation muss auch strukturell verankert sein. Solange die Beteiligung der Kinder sich auf einen achtenden Dialog beschränkt, bleiben die Kinder in ihren Beteiligungsmöglichkeiten von der Gnade der Erwachsenen abhängig. Darauf, dass dies problematisch ist, hat schon Janusz Korczak hingewiesen. Er sagt in seinem Buch Wie man ein Kind lieben soll : Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben. 8 Damit Kinder ihre Beteiligungsrechte auch unabhängig(er) von Erwachsenen wahrnehmen können, braucht es eine Klärung der Rechte und Verfahren. Diese müssen den Kindern bekannt sein. Erst dann wird Partizipation zu demokratischer Partizipation. So wird auch das Recht der Kinder auf Zuhören strukturell verankert. Partizipation, so wird hier deutlich, berührt immer auch die Frage danach, wie demokratisch in Kindertageseinrichtungen Macht verteilt ist. 6 Schröder, Richard 1995: Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung und Stadtgestaltung, Weinheim / Basel, S. 14 7 Vgl. Hierzu Kapitel 4 in Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern!, Weimar, Berlin. 8 Korczak, Janusz 1979: Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen, S. 304. 3

3. Warum eine Kita-Verfassung die weitreichendste Form einer strukturellen Verankerung von Partizipation darstellt. Die nachhaltigste Möglichkeit der Verankerung von Partizipation bietet die Erarbeitung einer Verfassung, wie sie im Konzept Die Kinderstube der Demokratie entwickelt wurde. Eine Verfassung bezeichnet die meist in einer Urkunde niedergelegte Grundordnung eines politischen Gemeinwesens. Eine Kita-Verfassung bezeichnet damit die schriftlich niedergelegte konkrete Grundordnung der Kindertageseinrichtung, in der die Inhalte und Verfahren der Beteiligungsrechte der Kinder geregelt sind. Im Konzept Die Kinderstube der Demokratie ist das Verfahren einer Verfassungsgebenden Versammlung entwickelt worden, in dem die Fachkräfte einerseits im Konsens klären, welche Rechte die Kinder in der Einrichtung haben sollen, andererseits die Verfahren und Gremien festlegen, in denen die Kinder diese Rechte einfordern können 9. Der Prozess der Erarbeitung einer Verfassung, der durch eine externe Moderatorin / einen externen Moderator begleitet wird, findet dabei mit dem ganzen Team statt. Im ersten Schritt wird intensiv geklärt, welche Entscheidungen die Kinder selbst treffen dürfen (Selbstbestimmung), welche Entscheidungen die Kinder mit anderen treffen dürfen (Mitbestimmung) und welche Entscheidungen sich die Fachkräfte (zunächst) selbst vorbehalten. Worüber sollen die Kinder auf jeden Fall mit- oder selbst entscheiden? Worüber sollen die Kinder auf keinen Fall mit- oder selbst entscheiden? Dabei können alle Themen, die in einer Kita zur Entscheidung anstehen, angesprochen werden: Von der Kleidung und dem Essen über die Raumgestaltung und die Auswahl von Projektthemen bis zu Entscheidungen bei der Personaleinstellung und bei Finanzen. Als Kinderrechte werden in der Verfassung aber nur die Beteiligungsrechte festgeschrieben, die von allen Fachkräften im Konsens verabschiedet wurden. Nur so ist gewährleistet, dass die Fachkräfte den Kindern die Rechte im Alltag auch zugestehen. Während dieses Klärungsprozesses finden im Team intensive Diskussionen über das Bild vom Kind und pädagogische Grundfragen statt. Wie sollen die Kinder mitentscheiden? Erst nach der Klärung der Rechte, die den Kindern in dieser Einrichtung zugestanden werden sollen, geht es um die Frage, wie die Kinder ihre Rechte wahrnehmen können. 9 Dieses Konzept wird ausführlich beschrieben in: Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: Partizipation in Kindertageseinrichtungen. So gelingt Demokratiebildung mit Kindern!, Weimar, Berlin. vgl. Hansen, Rüdiger 2005: Die verfassungsgebende Versammlung in der Kindertageseinrichtung, KiTa spezial, 4, S. 15-18. Vgl. auch die Qualitätsstandards der Bundesregierung zu Partizipation von Kindern und Jugendlichen: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2010: Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen, Berlin. 4

Jetzt entwickeln die pädagogischen Fachkräfte Gremien und Verfahrensabläufe, in denen Kinder mitentscheiden können. Dies sind einerseits häufig Gremien auf der Gruppenebene (z.b. Gruppenversammlungen oder Kinderkonferenzen), andererseits aber auch häufig einrichtungsübergreifende Gremien wie ein Kinderrat oder ein Kinderparlament. Eine solche Verfassung wird zunächst von den Fachkräften erarbeitet, dann mit den Eltern besprochen und schließlich in der Einrichtung erprobt. Nach einer Erprobungsphase wird die endgültige Verfassung festgeschrieben und von jeder Fachkraft unterschrieben. Eine solche Verfassungsentwicklung ist ein intensiver Prozess für das ganze Fachkräfteteam und geht mit einer Reflexion pädagogischer Grundfragen einher. 4. Wie durch Zuhören und Partizipation Demokratie gelernt werden kann. Wenn Kinder in Kindertageseinrichtungen erfahren, dass sie Rechte haben, wenn sie hier in eine Atmosphäre eintauchen, in der dialogisches Zuhören, Diskutieren und gemeinsam Entscheiden Alltag ist, dann erfahren sie gleichzeitig, wie Demokratie gelebt werden kann: Eine demokratisch verfasste Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss, alle anderen Gesellschaftsordnungen bekommt man so. 10 Politische Bildung als demokratische Bildung beginnt weit vor der weiterführenden Schule. Sie beginnt dort, wo Kinder das erste Mal erfahren, wie eine öffentliche Gemeinschaft außerhalb ihrer Familie funktioniert. Kindertageseinrichtungen müssen in einer Demokratie als demokratische Orte konzipiert werden. Das bedeutet, den Kindern zu ermöglichen, sich zuständig zu fühlen, gemeinsam nachzudenken, gehört zu werden, mitzuentscheiden und immer wieder zuzuhören. Wie sich Kinder durch Beteiligung und gegenseitiges Zuhören auch kognitiv das Thema Demokratie aneignen, wird in folgendem Beispiel, das auch auf der DVD von Lorenz Müller und Thomas Plöger eindrucksvoll festgehalten ist, deutlich: Die Kinder planen in einer Zukunftswerkstatt die Neugestaltung des Außengeländes ihrer Kindertageseinrichtung. In der Kritikphase werden die Kinder aufgefordert zu sagen, was ihnen am derzeitigen Außengelände gefällt und was sie schlecht finden. Sie diktieren den Erwachsenen ihre Bewertungen. Als die fünfjährige Senya zur Erzieherin sagt: Der Mülleimer soll weg!, entfacht sich eine Auseinandersetzung. Ein Junge hält dagegen: Der Mülleimer muss bleiben! Andere Kinder kommen hinzu: Sonst haben wir einen riesengroßen Müllspielplatz. Die Fachkräfte notieren beide Bewertungen: Der Mülleimer soll weg und: Der Mülleimer soll bleiben. Anschließend klebt eine Fachkraft im Gruppenraum die Kärtchen mit den verschiedenen Beurteilungen an die Wand. Dabei wird der schon auf dem Außengelände diskutierte Widerspruch noch einmal deutlich. Der Mülleimer wird von einigen Kindern als störend beurteilt und hängt daher auf der Seite mit dem traurigen Smilie ( Das soll weg! ). Von anderen wird er als notwendig erachtet und klebt daher auch auf der Seite mit dem lachenden Smilie ( Das soll bleiben!). Senya, die auf dem Spielplatz lautstark für die Idee Der Mülleimer soll weg! votiert hat, ist durch diesen Widerspruch irritiert. Man kann an ihrem Gesicht und ihren Bewegungen deutlich ablesen, welche Anstrengung und Mühsal es sie kostet, diese Problematik zu erfassen, als sie fragt: Wenn der eine Kind sagt, das soll so sein, und der andere Kind sagt, das soll nicht so sein was soll n wir denn da machen? Soll n wir einfach beides machen? Oder? Das ist so schwer! (Szene aus dem Film Die Kinderstube der Demokratie 11 ) Kindertageseinrichtungen, die Partizipation strukturell verankert haben, zeichnen sich durch eine hohe Zuhörqualität und damit auch durch eine hohe Bildungsqualität aus. Wenn pädagogische Fach- 10 Negt, Oskar 2010: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen. 11 Müller / Plöger 2008, vgl. auch Hansen / Knauer / Sturzenhecker 2011 5

kräfte zuhören können und daraus gemeinsames Handeln erfolgt, vertiefen auch die Kinder ihre Fähigkeit, anderen zuzuhören und sich mit anderen auch sprachlich zu verständigen. Weitere Informationen zum Konzept Die Kinderstube der Demokratie, Fortbildungen und Forschungsergebnisse unter: www.partizipation-und-bildung.de. 6