Miles oder Die Pendeluhr aus Montreux

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Transkript:

Henning Mankell Miles oder Die Pendeluhr aus Montreux Monolog für einen Schauspieler und eine Jazzband Deutsch von HANSJÖRG BETSCHART F 1407

Bestimmungen über das Aufführungsrecht des Stückes Miles oder Die Pendeluhr aus Montreux (F 1407) Dieses Bühnenwerk ist als Manuskript gedruckt und nur für den Vertrieb an Nichtberufsbühnen für deren Aufführungszwecke bestimmt. Nichtberufsbühnen erwerben das Aufführungsrecht aufgrund eines schriftlichen Aufführungsvertrages mit dem Deutschen Theaterverlag, Grabengasse 5, 69469 Weinheim, und durch den Kauf der vom Verlag vorgeschriebenen Rollenbücher sowie die Zahlung einer Gebühr bzw. einer Tantieme. Diese Bestimmungen gelten auch für Wohltätigkeitsveranstaltungen und Aufführungen in geschlossenen Kreisen ohne Einnahmen. Unerlaubtes Aufführen, Abschreiben, Vervielfältigen, Fotokopieren oder Verleihen der Rollen ist verboten. Eine Verletzung dieser Bestimmungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Über die Aufführungsrechte für Berufsbühnen sowie über alle sonstigen Urheberrechte verfügt der S. Fischer Verlag, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt/Main

Personen: Steinar, Betreiber einer Autoverschrottung Jazz-Band (Die Musiker sitzen sichtbar, seitlich auf der ansonsten leeren Bühne, die den Blick frei gibt auf die Projektionen im Hintergrund. Mit dem Einlass der Zuschauer spielen die Musiker Titel von Miles Davis. Im Hintergrund ist ein Bild von Miles Davis zu sehen.) (Das Licht im Zuschauerraum erlischt. Steinar betritt mit dem Titel-Ende die Bühne. Er schleppt einen ausgebauten Autoscheinwerfer und legt ihn auf der Bühne nieder. Gleichzeitig wird auf der Projektionsleinwand ein Bild von Steinar auf seinem Schrottplatz sichtbar. Mit ihm auf dem Bild: Stein Åge - der norwegischer Chauffeur von Miles Davis. Steinar kann einen Dialekt sprechen. ) 3

Szene 1 Steinar So ergeht es uns doch allen: Wir erinnern uns sehr genau daran, wo wir waren, als sich etwas Weltbewegendes ereignete: Als der US-Präsident erschossen wurde. Als die Air France Maschine abstürzte. Als ein Bekannter unerwartet starb. Mir ergeht es zumindest so. Ich weiß noch genau, wie ich vor dem Haus stand und überlegte, ob ich die Fahnenstange frisch streichen sollte - eine jener idiotischen Beschäftigungen, die einem einfallen, wenn man sonst nichts Gescheites zu tun hat. Das ist 18 Jahre her, am 8. September 1991. Ich hörte in der Küche das Telefon klingeln. 1991 hatte man noch keine Handys, und wenn, dann waren sie so klobig, dass man sie in einer Reisetasche transportieren musste. Ich erinnere mich, wie ich mir sagte: Ich pfeif drauf! Ich antworte nicht. Aber dann rannte ich doch los. Vater war am anderen Ende. Miles ist tot. Er sagte nur die drei Worte. Er sprach den Namen aus, wie man ihn schreibt: Miles. Er wusste, dass das falsch war. Ihm war das aber egal. Er sagte, er habe es in der Zeitung gelesen. Miles Davis ist gestorben. Ich erinnere mich, wie ich danach wieder hinaus ging zur Fahnenstange, die Fahne holte, und sie auf Halbmast hisste. Es waren noch keine dreißig Sekunden vergangen, als das Telefon erneut klingelte. Es war Olufsen, der alte Schlachter, der oben am Ende der Straße wohnt. Der sieht und hört alles. Der will alles wissen. Ich glaube, der lebt mit einem Feldstecher auf der Nase. Um wen trauern wir? Miles Davis, sagte ich. Miles Davis ist gestorben. Es blieb eine Weile still am anderen Ende. Wer ist das? fragte er schließlich. Einer von den Zugezogenen? Miles war ein Musiker. Jazztrompeter. Jetzt ist er tot. 4

Olufsen sagte nichts. Ich legte auf. Ich zog den Stecker aus. Nichts gegen Olufsen. Er schlachtete ein Leben lang Kühe. Er interessierte sich nicht für Jazz. Er mochte Ziehharmonika und abends Ruhe im Quartier. Bloß keine Musik. Das ist ja verständlich. Seine Tage waren voll mit dem Geschrei sterbender Kühe. Ich erinnere mich so genau an den Tag, an dem Miles starb, weil ich an etwas denken musste, was mir mein Vater erzählt hatte: Wie er zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen hatte. Wie das für ihn war. Das war in Molde, in Norwegen. Vater machte meist nach Feierabend einen Spaziergang hinunter ans Meer, um die Ankunft der Fähre zu beobachten. Es geschah an einem Abend mitten im Krieg: Da stieg ein großer schwarzer Mann mit einer gewaltigen Tasche an Land. Ein Neger in Molde. Er ging die Hafenmole entlang, Richtung Zentrum, wo er verschwand, und niemand hat ihn je wiedergesehen. Seit diesem Tag ist mein Vater misstrauisch gegenüber Schwarzen. Er mochte Menschen nicht, die spurlos verschwanden. Nichts gegen meinen Vater. Immerhin hat er mich angerufen, als Miles starb, am 8. September 1991. Er selber ging drei Jahre später von uns. Und nicht eine einzige Zeitung auf der ganzen Welt berichtete darüber. Mir fiel das erst wieder ein, als ich mich in der Küche setzen wollte: dass Miles Davis meinen Freund Stein Åge einmal gebeten hatte, ihn zum Flughafen zu fahren - in einem alten Wagen, der damals bei mir auf dem Schrottplatz stand - einem schwarzen Volvo. Ich setzte mich sofort in meinen Wagen und fuhr schnurstracks zum Schrottplatz. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als müsste ich mich beeilen. Von dem Volvo war nicht mehr viel übrig. (Er zeigt auf den ausgebauten Scheinwerfer.) Immerhin fand ich noch einen Scheinwerfer. Den wollte ich behalten. Für viele war Miles ein Erlebnis wie ein Licht im Dunkel. Viele haben es so beschreiben. Wie ein Licht im Dunkel. Seine Trompete war eine Art Scheinwerfer, den er zum Leuchten bringen konnte. Deshalb bewahrte ich den Scheinwerfer auf. Als ein Andenken an ihn. Der linke Scheinwerfer. Stein Åge erzählte mir, wie er Miles kennen gelernt hatte. Miles saß auf dem Rücksitz, als er ihn vom Flugplatz abholte. Do you know, who I am? Yes, antwortete Stein Åge. Do you like my music? No., sagte Stein Åge. 5

Das war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Miles wollte niemals mehr einen anderen Chauffeur. Und dann war er plötzlich tot. Ich war nur am Rande mit dem Jazz-Festival bei uns befasst. Ich war auch kein Fan. Stein Åge hingegen schon - er war einer von denen, die bei mir seine alten Autos verschrotten ließ. Ich bin nicht so der Typ, der auf Jazz steht. Zumindest war ich das früher nicht. Heute ist das anders. Damals, als ich Stein Åge in die Schweiz begleitete, um eine Pendeluhr zu kaufen, fing das alles an. Da lernte ich Miles Davis kennen und schüttelte seine Hand. (Die Projektion zeigt ein weiteres Bild von Miles Davis. Die Band spielt eine Davis- Komposition.) Szene 2 (Ende der Musik. Weitere Miles-Projektion.) Steinar Auf die Pendeluhr werde ich noch zurückkommen. Soweit sind wir noch nicht. Jetzt sind wir erst einmal bei all den Jazz-Musikern und den Festivals. Ich hatte schon viel über sie gehört. Ein Autofriedhof erfüllt heute dieselbe Funktion wie der richtige Friedhof früher: Die Menschen bringen die Überreste, und man kommt ins Gespräch und plaudert. Am häufigsten redete man von den schrillen Menschen, die sich jedes Jahr für eine Woche mit Musik versammelten, wie zum Beispiel die schwarzen Panther, die Sensation des Jahres, die in den neuverlegten Parkettboden im Rathaus Nägel einschlugen, aus Wut, auf alles, auf alle. Die Wachleute wollten sie vertreiben. - Fuck you! Schrien sie und nagelten weiter, ein unfassbares Chaos, erzählte man mir. Damals spielte Herbie Hancock zum ersten Mal. Auch von Miles wurde berichtet. Stein Åge erzählte mir, wie er mit Miles auf dem Weg auf den Flugplatz in einen Unfall-Stau geraten war. Ein Lastwagen, der Hühner geladen hatte, war ins Schleudern geraten, und Miles saß auf dem Rücksitz und schaute zu, wie die Menschen draußen auf der Fahrbahn im weißen Daunenschnee hinter dem flatternden Geflügel herrannten. Bei der Gelegenheit begann Miles zu erzählen, was es hieß, ein Schwarzer zu sein. Wie das war, als er noch nicht weltberühmt war, in seinen Anfangsjahren. 6

Er erzählte, was das hieß, als Schwarzer in den USA aufzuwachsen. Es muss schrecklich gewesen sein. Etwa so wie in Südafrika zur Zeit der Apartheid. Seine Augen waren voller Zorn, als er von den Erniedrigungen sprach, von all jener Verachtung, die er als Schwarzer hatte erleben müssen. Es war für ihn, als wüchse er im eigenen Land in einer Klasse von minderwertigen Bürgern auf. Stein Åge fragte ihn, wie er mit seinem Zorn klar gekommen sei. Miles zeigte kurz auf seinen Trompetenkoffer. Mit Musik. Die Musik konnte ihm alles zurückgeben, in ihr konnte er seiner Wut freien Lauf lassen, und seinen Träumen, die nur schwer in die Wirklichkeit fanden. Erst als er nach Europa gekommen war, sagte er, habe er verstanden, dass die Weißen nicht alle Arschlöcher waren. Im Paris der Fünfzigerjahre machte man sich nichts daraus, dass er ein Schwarzer war. Es war für ihn fast, als gehörte er zu den Privilegierten. Er erzählte, auf dem Rücksitz sitzend, umgeben von flatternden Hühnern, wie sich damals seine Haltung veränderte. Wie sein Zorn wuchs, über alles, was er in den USA erlebt hatte. Er trug sich damals mit dem Gedanken, nach Paris auszuwandern, sagte er. All das Alte hinter sich zu lassen. Aber er schaffte es nicht. Er hatte in den USA seine Wurzeln. Seine Familie. Seine Freunde. Es wäre wie ein Verrat an ihnen gewesen. Es gab natürlich auch noch anderes in Paris. Eine Frau. So ist das immer. Das kapiert sogar ein Schrotthändler. Sie hieß Juliette Greco und war Sängerin. Weiß, attrakiv, umschwärmt. Sie waren ein Paar. Er erzählte nicht viel von ihrer Beziehung. Das wollte er lieber für sich behalten. Ebenso wich er der Politik aus. Ich bin genau so wenig politisch interessiert. Meine Kenntnisse umfassen vielleicht ein paar Namen: Unser Präsident heißt Gro Harlem Brundthland. Harlem ist auch der Name eines Stadtteils von New York. Ich kann gut verstehen, was das für eine Hölle gewesen sein muss, für ihn und all die Schwarzen, in einer Welt voller Beschränkungen leben zu müssen, in der die Hautfarbe immer das Entscheidende war. Wenn ich zu lange in der Sonne sitze, werde ich rot wie ein Schwein. Aber deshalb behandelt mich noch lange keiner schlecht. Mein Sohn, Reidar, der spielt Gitarre. Jazz interessiert den nicht die Bohne. Der interessiert sich nur für Hard-Rock und Metallica. Aber er hat mir das mit dem amerikanischen Blues erklärt: Das ist die Musik des Zorns und der Trauer. Davon hat Miles gespielt, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber, wie auch immer: Als die Hühner eingefangen und der Lastwagen von der Strasse geräumt war, konnten sie weiterfahren - zum Flughafen. Miles war unterwegs zu einem anderen Festival, zu andern Studios, anderem Publikum. 7

Ich suchte damals nach einem Bild von Juliette Greco. Was für eine Schönheit. So schön wie der Blues von Miles. So viel verstehe ich heute davon... (Projektion von Juliette Greco. Langsames Stück.) Szene 3 (Musik Ende. Juliette Greco verschwindet und ein weiteres Bild von Steinar und Stein Åge auf dem Schrottplatz.) Steinar Eines Tages tauchte Stein Åge draußen auf dem Schrottplatz auf. Er brauchte irgendein Teil für eine Bastelei, die er zuhause plante. Was es war, weiß ich nicht mehr. Aber meine Frau hatte eben eine neue Kamera gekauft. Das ist das Bild von ihr. Wir hatten uns lange unterhalten, Stein Åge und ich. Über Musik. Über Miles. Über ihre Freundschaft, die Bestand hatte, obwohl Stein Åge Miles Musik nicht mochte. Irgendwie verstehe ich Miles Davis. Er hatte sicher genügend Leute um sich, die feixten, sich bei ihm einschmeichelten, die zuvorderst sitzen wollten und als seine besten Freunde erscheinen wollten. Leute die seine Musik verehrten. Eines ist sicher: Wer mit Autos umgeht, feixt nicht, egal ob er sie fährt oder verschrottet. Für Stein Åge war es ein gewaltiges Gefühl: Als würde er einen Helden auf dem Rücksitz spazieren fahren. Nicht einfach einen internationalen Star. Für ihn war Miles ein wirklicher Held. Einer seiner Eindrücke hat sich mir besonders eingeprägt: Als würde ich einen Kriegsheld durch die Gegend kutschieren. Als säße Max Manus auf meinem Rücksitz. Max Manus? Miles Davis? Ich verstand den Vergleich nicht: Was verbindet den Soldaten einer Geheimarmee, der sein Leben riskiert hatte mit einem Mann, der Trompete bläst? Es machte mich wütend. Ich begann nur langsam zu verstehen. Musik kann Menschen tatsächlich das Leben retten. Bliesen nicht die Franzosen und Deutschen zur Waffenruhe, am Weihnachtsabend 1915, tief verbuddelt in Schützengräben, im Schlick der 8