Rechtswissenschaftliche Fakultät Fragebogen für die schriftliche Prüfung im Fach Arbeitsrecht (Herbstsemester 2012) Examinator/in Datum/Zeit der Prüfung Ass.-Prof. Dr. Marc Hürzeler 18. Januar 2013, 09:00h 11:00h. Ort der Prüfung... Matrikelnummer... Prüfungslaufnummer... Maturitätssprache... Allgemeine Hinweise zur Prüfung Dieser Prüfungsfragebogen umfasst 5 Seiten (die vorliegende Seite inbegriffen). Kontrollieren Sie bitte Ihren Aufgabensatz auf Vollständigkeit. Fehlende Seiten sind umgehend der Prüfungsaufsicht zu melden. Für die Beantwortung der Fragen stehen zwei Stunden zur Verfügung (Ausnahme: bewilligte Gesuche um Verlängerung). Jede Aufgabe wird mit der gleichen Anzahl Punkte bewertet. Für die Höchstnote brauchen nicht alle Aufgaben gelöst zu werden. Als Hilfsmittel sind zugelassen: Textausgabe Gauch/Stöckli ZGB und OR, ArG, UVG, UVV, BGSA, VOSA. Andere Hilfsmittel sind nicht erlaubt. Lesen Sie bitte sämtliche Fragen sorgfältig durch, bevor Sie mit der Beantwortung beginnen. Alle Antworten sind ohne gegenteiligen Hinweis bei einer einzelnen Aufgabe zu begründen und soweit möglich mit Rechtsnormen zu belegen. Bitte schreiben Sie gut leserlich und bezeichnen Sie klar, auf welche Frage sich Ihre Antwort bezieht. Versehen Sie bitte alle Blätter mit Ihrer Prüfungslaufnummer und Seitenzahl. Bei der Prüfungsaufsicht können zusätzliches escan-schreib- bzw. Notizpapier sowie Schreibunterlagen verlangt werden. Schreiben Sie nicht auf die Rückseite der Blätter. Es wird jeweils nur die Vorderseite eingescannt. Am Ende der Prüfung: escan-deckblatt und alle mit der Prüfungslaufnummer versehenen Blätter sind in den Prüfungsumschlag zu legen. Dieser ist mit der Matrikelnummer zu beschriften und verschlossen der Prüfungsaufsicht abzugeben. Verbleiben Sie an Ihrem Prüfungsplatz bis die Prüfungsaufsicht alle Prüfungsumschläge eingesammelt hat. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg! Arbeitsrecht 1 6
Fall 1: (Total 6 Punkte) Die Brutto-AG nimmt eine Stellenausschreibung in der Zeitung vor. Vom Inserat angesprochen, bewirbt sich u.a. Eva B. mit einem handschriftlichen Bewerbungsschreiben um die Stelle als Account Managerin (Account-Manager betreuen bestehende und gewinnen neue Kunden für ihre Arbeitgeber). a) Die Brutto-AG lässt gestützt auf das Bewerbungsschreiben von Eva B. ein grafologisches Gutachten erstellen und sendet die diesbezügliche Rechnung der Gutachtensstelle in Höhe von CHF 700.- an Eva B. Die Arbeitnehmerin erkundigt sich bei Ihnen, ob die Brutto-AG ein grafologisches Gutachten erstellen durfte und wer für die Kosten aufkommen muss? Grafologische Gutachten greifen in die Privatsphäre der Bewerberin ein, weshalb eine Einwilligung zwingend erforderlich ist. Die Einwilligung erfolgte vorliegend nicht ausdrücklich, doch kann das Einreichen eines handschriftlichen Bewerbungsschreibens als stillschweigende Einwilligung der Bewerberin betrachtet werden. (1 Punkt) Die Brutto-AG ist Auftraggeberin für das Gutachten und muss deshalb auch für die damit verbundenen Kosten aufkommen. Selbst wenn in der Einreichung der handschriftlichen Bewerbung eine Einwilligung zur Erstellung des Gutachtens gesehen werden kann, liegt dennoch keine Schuldübernahme vor. Eva B. muss deshalb die Rechnung nicht bezahlen. (1 Punkt) b) Eva B. wird zu einem Vorstellungsgespräch bei der Brutto-AG eingeladen. Anlässlich der Unterhaltung erkundigt sich der HR-Verantwortliche nach dem Vorliegen von Vorstrafen, von gesundheitlichen Einschränkungen, nach dem bisherigen Lohn von Eva B. und nach bestehenden Schwangerschaften. Sind diese Fragestellungen zulässig? Wie ist die Rechtslage, wenn Eva B. über eine Schwangerschaft im Bilde ist, diesen Umstand aber dennoch gegenüber dem HR-Verantwortlichen ausdrücklich verneint? Frage nach Vorstrafen ist nur zulässig, sofern sie sich auf einschlägige Vorstrafen bezieht, die mit dem Arbeitsverhältnis in direktem Zusammenhang stehen. (1/4 Punkt) Frage nach bestehenden Krankheiten ist nur zulässig, soweit es um Krankheiten geht, welche die Arbeitstauglichkeit für den betreffenden Arbeitsplatz herabsetzen. (1/4 Punkt) Frage nach bisherigem Lohn ist nicht zulässig. (1/4 Punkt) Zulässigkeit der Frage nach Schwangerschaft ist umstritten. Ein Teil der Lehre erachtet die Frage als zulässig, wenn arbeitsplatzspezifische Besonderheiten vorliegen. Ein anderer Teil der Lehre hält die Frage für unzulässig. (1/4 Punkt) Grundsätzlich sind beide Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und weder unwahre noch irreführende Aussagen zu machen. Da jedoch Eva B. die Stelle ggf. nicht erhalten würde, wenn sie die Schwangerschaft bekannt gäbe, kann ihr gemäss Rechtsprechung ein sog. Notwehrrecht der Lüge zugebilligt werden. Dieses verhindert, dass die Brutto-AG nach Entdeckung des Umstandes den Vertrag erfolgreich anfechten könnte. (1 Punkt) c) Nachdem Eva B. die Absage der Brutto-AG für die Stellenbewerbung erhalten hat, ist sie darüber verärgert, dass sie zwischenzeitlich ein gutes Jobangebot der Netto GmbH ausgeschlagen hatte. Was kann sie nun gegen die Brutto-AG unternehmen? Kein Anspruch auf Einstellung (1 Punkt) Ggf. Schadenersatzanspruch gegen Brutto-AG infolge culpa in contrahendo, da falsches Vertrauen erweckt [entscheidend ist die Prüfung dieses Aspektes. Beide Resultate, Haftung/keine Haftung, je nach Begründung zulässig]. (1 Punkt) Arbeitsrecht 2 6
Fall 2: (Total 6 Punkte) Die Technology AG beschäftigt 75 Mitarbeitende. Bereits seit zwei Jahren zeichnen sich rückläufige Geschäftsergebnisse ab, in den letzten drei Monaten musste sogar ein Umsatzeinbruch um 50% verzeichnet werden. Die Geschäftsleitung hat deshalb den Beschluss gefasst, unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist 20% der bestehenden Arbeitsverhältnisse per 1. April 2013 aufzulösen. Fünf der betroffenen Mitarbeitenden werden im Zuge dieser Massnahme vorzeitig pensioniert. a) Die gekündigte Arbeitnehmerin Ursula O. erlangt bei Erhalt des Kündigungsschreibens erstmals Kenntnis von dem Stellenabbau. Was können Sie ihr für das weitere Vorgehen raten? Missbräuchliche Kündigung, da Arbeitnehmervertretung bzw. Arbeitnehmer vor Kündigung nicht konsultiert wurden (Art. 335f OR; Art. 336 Abs. 2 lit. c OR) Entschädigung von max. 2 Monatslöhnen (Art. 336a Abs. 3 OR). (1 Punkt) Verfahren: Schriftliche Einsprache beim Arbeitgeber erheben (Art. 336b Abs. 1 OR). Wenn keine Einigung erzielt werden kann Klage gegen die Technology AG innert 180 Tagen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Art. 336b Abs. 2 OR). (1 Punkt) b) Der gekündigte Franz P. ist gewählter Arbeitnehmervertreter im Stiftungsrat der Personalvorsorgestiftung Technology. Was kann er unternehmen? Wie bereits gegenüber Ursula O. ist die Kündigung gestützt auf Art. 335f OR und Art. 336 Abs. 2 lit. c OR missbräuchlich. Auch Franz P. kann trotz dem Umstand, dass er gewählter Arbeitnehmervertreter im Stiftungsrat der Personalvorsorgestiftung ist (Art. 336 Abs. 2 lit. b OR) keine höhere Entschädigung verlangen, da der Arbeitgeber infolge des dringenden Personalabbaus einen begründeten Anlass zur Kündigung hatte. (2 Punkte) c) Im Arbeitsvertrag der gekündigten Helga F. ist eine Umsatzbeteiligung in Höhe von maximal 15 Prozent des Jahreslohnes vereinbart. Sie fragt, ob ihr für das Jahr 2013 noch Ansprüche auf die Umsatzbeteiligung zustehen werden? Anteilsmässiger Anspruch auf die Umsatzbeteiligung pro rata für Januar/Februar/März 2013. (1 Punkt) Jedoch kein Anspruch auf unterjährigen Rechnungsabschluss zur Ermittlung des bisherigen Umsatzes. (1 Punkt) Dieser könnte sich jedoch ggf. aus einer ohnehin erstellten Quartalsrechnung ergeben. Fall 3: (Total 6 Punkte) Reto ist seit dem 1. Januar 2008 als Rechtskonsulent bei der Bank. angestellt und erhält einen Monatslohn (zuzüglich 13. Monatsgehalt) von CHF 12 000.- zuzüglich eine monatliche Spesenpauschale in Höhe von CHF 300.-. Am 25. März 2012 wurde ihm das Kündigungsschreiben der Bank. zugestellt, welche das Arbeitsverhältnis per Ende Mai auflösen will. Reto wurde am 1. April 2012 infolge einer Krankheit vollständig arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit dauerte bis und mit 30. September 2012 an. Alsdann musste Reto noch vom 15. bis zum 18. Oktober 2012 in den Zivilschutz. a) Wann endet das Arbeitsverhältnis zwischen Reto und der Bank., wenn die gesetzlichen Kündigungsfristen und Kündigungstermine anwendbar sind? Kündigung wurde am 25. März 2012 zugestellt, wird am 26. März 2012 wirksam. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist, Reto ist im 5. Dienstjahr, deshalb Kündigungsfrist von 2 Monaten und gesetzlicher Kündigungstermin Ende Monat (Art. 335c Abs. 1 OR). Die Kündigung würde somit per Ende Mai 2012 wirksam. (1/4 Punkt) Die Arbeitsunfähigkeit ab 1. April 2012 löst eine Sperrfrist aus (Art. 336c Abs. 1 lit. b OR). Da die Kündigung aber schon vor Beginn der Sperrfrist erfolgt ist, bleibt die Arbeitsrecht 3 6
Kündigung gültig. Die noch nicht abgelaufene Kündigungsfrist wird jedoch unterbrochen und erst nach Beendigung der Sperrfrist fortgesetzt (Art. 336c Abs. 2 OR). Da Reto im 5. Dienstjahr ist, erfolgt eine Erstreckung um 90 Tage (Art. 336c Abs. 1 lit. b OR). (1 Punkt) Konkret: 6 Tage der Kündigungsfrist vom 26. bis 31. März verstrichen, Rest 55 Tage. Unterbrechung von 90 Tagen ab 1. April bis 29. Juni. Ab 30. Juni die restlichen 55 Tage = 23. August., weshalb Auflösung des Arbeitsverhältnisses per Ende August. (1/2 Punkt) Zivilschutz von Reto nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses und daher unbeachtlich. (1/4 Punkt) b) Die Bank. will Reto die Spesenpauschale für die Monate April bis September verweigern. Ist sie dazu befugt? Ja, die Verweigerung der Spesenpauschale für die Monate April bis September, in denen Reto infolge vollständiger Arbeitsunfähigkeit nicht gearbeitet hat, ist zulässig, da ihm in dieser Zeit auch keine abzugeltenden beruflichen Auslagen entstanden sind (2 Punkte) c) Wie hoch ist der Ferienanspruch von Reto für das Jahr 2012, wenn der Arbeitsvertrag keine Regelung enthält und kein GAV zur Anwendung gelangt? Darf der Arbeitgeber den Ferienanspruch kürzen? Gesetzlicher Ferienanspruch pro Dienstjahr 4 Wochen (da Reto älter als 20 Jahre ist; Art. 329a OR). (1/2 Punkt) Infolge Unvollständigkeit des Dienstjahres pro rata temporis Berechnung des Ferienanspruchs. (1/2 Punkt) Da Auflösung des Arbeitsverhältnisses per Ende August Kürzung des Anspruchs um 1/3 (Sept/Okt/Nov/Dez fehlen). Kürzung des Ferienanspruchs gemäss Art. 329b Abs. 2 OR ab 2. vollständigem Monat zulässig. Keine Kürzung wegen April, jedoch Kürzung wegen Mai/Juni/Juli/August = 4/12 = 1/3. (1 Punkt) Multiple-Choice Aufgaben: Kreuzen Sie nachfolgend an, ob die Aussage richtig oder falsch ist. 1. Zustandekommen des Arbeitsvertrages Wenn Arbeit geleistet wurde, obwohl sich die Parteien über wesentliche Vertragspunkte noch nicht geeinigt haben, ist der Arbeitsvertrag anfechtbar Vorbereitungen für den Arbeitseinsatz sind zu entlöhnen Auch die Mitarbeit von Angehörigen im Familienbetrieb beruht stets auf einem (konkludenten) Arbeitsvertrag Einseitig erlassene Betriebsordnungen sind nur mit behördlicher Kontrolle gültig und sind nach dem Vertrauensprinzip auszulegen Arbeitsrecht 4 6
2. Bestand und Geltungskraft des Arbeitsvertrages Der Lehrvertrag mit einem Arbeitgeber, der nicht über die entsprechende behördliche Bewilligung verfügt, ist nichtig Der zeitliche Kündigungsschutz infolge Schwangerschaft nach Art. 336c Abs. 1 lit. c OR ist bei Vorliegen eines Willensmangels, der zur Anfechtung des Arbeitsvertrages berechtigt, unbeachtlich Der sachliche Kündigungsschutz gilt auch bei einem infolge Willensmangels anfechtbaren Arbeitsvertrag, sofern der Arbeitgeber bei Kenntnis des Mangels in den Arbeitsvertrag eingewilligt hatte Der Handelsreisendenvertrag setzt Schriftlichkeit des Arbeitsvertrages zu seiner Gültigkeit voraus 3. Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers Die Treuepflicht des Arbeitnehmers beinhaltet u.a., vorübergehende Funktionsänderungen im Betrieb wahrzunehmen, wenn ein anderer Mitarbeiter krankheitsbedingt abwesend ist Die Verletzung der Treuepflicht durch den Arbeitnehmer stellt eine Vertragsverletzung dar, die den Arbeitgeber in schweren Fällen zu einer fristlosen Kündigung berechtigt Die Geheimhaltungspflicht des Arbeitnehmers beschränkt sich auf Fabrikations- und Geschäftsgeheimnisse Beim Personalverleih liegt das Weisungsrecht grundsätzlich beim verleihenden Arbeitgeber, doch ist eine Delegation an den Einsatzbetrieb zulässig 4. Recht am Arbeitsergebnis Eine Aufgabenerfindung liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die Erfindung in Ausübung und im Zusammenhang mit seiner dienstlichen Tätigkeit und in Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten macht Die Rechte an Aufgabenerfindungen entstehen originär beim Arbeitgeber Bei Gelegenheitserfindungen hat der Arbeitnehmer Anspruch auf eine angemessene Entschädigung Eine sog. Erfinderklausel kann gemäss Art. 11 OR rechtsgültig auch mündlich vereinbart werden Arbeitsrecht 5 6
5. Vertragsänderung und Übergang des Arbeitsverhältnisses Laufende GAV sind auch nach einer Betriebsübernahme einzuhalten und können weiterhin ausschliesslich zu den vertraglichen Kündigungsbedingungen des GAV aufgelöst werden Der Lohn muss nach einer Betriebsübernahme neu vereinbart werden, ansonsten gelten automatisch die Mindestlohnvorschriften gemäss GAV Wird der GAV zu anderen Bedingungen neu ausgehandelt, liegt automatisch auch eine Änderung des EAV vor Änderungskündigungen sind stets missbräuchlich 6. Auflösung des Arbeitsverhältnisses Sofern das Vorsorgereglement nichts anderes vorsieht, wird das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer, der das AHV- Rentenalter erreicht, auch ohne Kündigung aufgelöst Der Tod des Arbeitgebers kann die automatische Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach sich ziehen Art. 341 OR gilt im Zusammenhang mit Aufhebungsverträgen nicht, sofern diese schriftlich vereinbart werden, da der Arbeitnehmer durch die Schriftform hinreichend auf die Tragweite seines Handelns hingewiesen wird Der Lohnnachgenuss stellt eine Leistung von Todes wegen dar, die der Herabsetzung durch andere Erben unterliegen kann Total mögliche Punkte: 54 Total erreichte Punkte: Arbeitsrecht 6 6